Corona-Folgen für die Verkehrswende "Für Pendler fallen 20 bis 40 Prozent der Arbeitswege weg"

Die Digitalisierung verändert den Verkehr - das hat sich selten so deutlich gezeigt wie in der Coronakrise. Aber bedeuten leere Büros auch leere Straßen? Fragen an Mobilitätsforscher Weert Canzler.
Ein Interview von Lena Frommeyer
Foto: Busakorn Pongparnit/ Krunja Photography/ Getty Images

Wer dieser Tage U-Bahn fährt, kann zwischen vielen freien Sitzplätzen wählen. Um sich nicht mit dem Coronavirus anzustecken, meiden viele Menschen öffentliche Verkehrsmittel. Einige fahren stattdessen Fahrrad. Viele ziehen sich ins private Auto zurück. Das spiegelt sich auch in politischen Themen wider: Statt weiter über einen kostenlosen Nahverkehr zu sprechen, diskutieren wir diese Woche über eine Kaufprämie für Autos.

Das sind keine gute Nachrichten für eine Verkehrswende, die auf geteilte Mobilität setzt. Anlass zur Hoffnung gibt eine Nachricht aus dem Bundesarbeitsministerium: Ein Gesetz soll auf den Weg gebracht werden, das das Recht auf Homeoffice festschreibt. Statt ins Büro zu fahren, sollen Arbeitnehmer von zu Hause aus arbeiten dürfen. Schnelles Internet und mobile Arbeitsgeräte machen das möglich. Solche Konzepte könnten die Straßen wiederum dauerhaft entlasten.

Was ist die Pandemie denn nun - die größte Gefahr oder eine riesige Chance für die Verkehrswende? Weert Canzler, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, setzt sich mit solchen Fragen auseinander.

DER SPIEGEL: Viele Menschen arbeiten seit dem Lockdown im Homeoffice. Und das funktioniert erstaunlich gut. Ist die Antwort auf die Frage gefunden, wie wir für weniger Verkehr in Stoßzeiten sorgen?

Weert Canzler: Sie und ich, wir befinden uns in einer Blase, weil wir Homeoffice machen und weil wir viele Leute kennen, die Homeoffice machen. Tatsächlich schätzt man, dass sich nur ein Viertel aller Beschäftigungsverhältnisse so organisieren lassen. Das darf man nicht vergessen. Aber nichtsdestotrotz: Heimarbeit zu einem Recht zu machen, finde ich richtig. Ich halte eine Mischung für sinnvoll, also dass man ein bis zwei Tage zu Hause arbeitet, oder an einem dritten Ort, und sonst im Büro. Für Pendler fallen so 20 bis 40 Prozent der Arbeitswege weg. 

"Die Coronakrise könnte den Trend, dass durchschnittlich nur 1,3 Personen in einem Auto sitzen, sogar noch verstärken."

DER SPIEGEL: Würde das denn die Straßen spürbar entlasten?

Weert Canzler: Wir sehen sich widersprechende Entwicklungen: Mehr Leute fahren gerade allein mit dem Auto, um sich nicht anzustecken. Sie wollen nicht den ÖPNV nutzen und auch nicht bei anderen mitfahren. Das könnte den allgemeinen Trend, dass durchschnittlich nur 1,2 bis 1,3 Personen in einem Auto sitzen, sogar noch verstärken. Wenn also mehr Leute zu Hause arbeiten, fahren zwar weniger Menschen in die Stadt. Aber die Leute, die sich auf den Weg machen, sind in der Regel allein unterwegs. So würde die Entlastung durch eine neue Belastung kompensiert. Das wäre eine mögliche und wie ich finde furchtbare, aber doch wahrscheinliche Entwicklung. 

DER SPIEGEL: Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden. Das Vertrauen in den Nahverkehr kommt doch zurück, oder?

Canzler: Nur unter der Bedingung, dass das Ansteckungsrisiko schnell sinkt. Je länger die Angst vor Ansteckung besteht, desto schwieriger wird es, Routinen wieder rückgängig zu machen. Wenn man ein halbes Jahr nicht mehr U-Bahn gefahren ist, nimmt man vermutlich auch weiterhin das Auto. Oder man fährt Fahrrad. Aber dafür braucht es eine entsprechende Infrastruktur.

DER SPIEGEL: Das heißt, dass im schlimmsten Fall die Krise vorbei ist und die Straßen trotz Homeoffice sogar verstopfter sind als vorher?

Canzler: Das ist ein nicht ganz unwahrscheinliches Horrorszenario. Deswegen ist es auch jetzt so wichtig, darüber zu diskutieren, wie wir den öffentlichen Raum aufteilen.

"Der Bau von Autobahnen hat längst seinen Höhepunkt erreicht"

DER SPIEGEL: Welche Maßnahmen liegen in der Schublade, um den Horror abzuwenden?

Canzler: Wenn man sich in Europa umschaut, gibt es spektakuläre Beispiele. Viele Städte bauen jetzt ganz schnell Fahrradwege. Wir müssen Straßen für Fußgänger öffnen. Beeindruckend finde ich, was dahingehend in Mailand passiert. Auch Brüssel hat einen Teil der Innenstadt zur Fußgänger- und Fahrradzone erklärt. Berlin hat von einigen dreispurigen Straßen eine Fahrspur für Fahrräder abgetrennt. Die Frage ist: Wird das zum Normalzustand oder später wieder zurückgebaut?

DER SPIEGEL: Welchen Einfluss könnte der Trend zu Homeoffice auf den Bau von Autobahnen haben?

Canzler: Unserer Meinung nach hat der Bau von Autobahnen längst seinen Höhepunkt erreicht. Was wir in Zukunft erleben, ist eher eine Instandhaltung. Der Ausbau, den wir in letzter Zeit erlebt haben, war eher durch den Güterverkehr geprägt und die berühmte rechte Spur. Auch da ist es denkbar, dass sich Produktionskreisläufe verändern und es zum Rückgang von Langstreckentransporten auf der Schiene und auf der Straße kommt.

DER SPIEGEL: Seit Corona werden digitale Tools im Mobilitätssektor insgesamt wichtiger. Etwa beim Lernen für den Führerschein. Kann man den demnächst virtuell machen?

Canzler: Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass gerade Lernmaterialien, die standardisiert sind, digital zur Verfügung stehen werden. Was man aber bedenken muss: Wir wissen aus der Lernforschung, dass es Jugendliche und Kinder gibt, die sich schwertun mit dem eigenständigen Lernen. Die brauchen Anleitungen und lernen besser in Gruppen. Beim Führerschein sehe ich solche Probleme aber eher nicht. Und selbst das Ablegen der Prüfung ließe sich digital lösen. Das gilt natürlich nur für die theoretische Prüfung, nicht für die praktische.

DER SPIEGEL: Digital wird gerade auch das Kaufen von Tickets für den Bus gelöst. Wer für seine Fahrt bezahlen will, muss die entsprechende App benutzen. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass das zum Standard wird?

Canzler: Es wird schon länger verstärkt auf Onlinetickets gesetzt. Man muss aber nach wie vor den kleinen Teil an Leuten bedienen, die das nicht wollen oder nicht können. Ältere Menschen etwa werden nicht nach der Krise automatisch zu Digitalprofis.

DER SPIEGEL: Was wäre an einer konsequenten Digitalisierung gut und was problematisch?

Canzler: Ein großer Nachteil ist die Anhäufung von Daten und das Erstellen von Bewegungsprofilen. Eine Diskussion über Datensicherheit haben wir ja gerade um Corona-Tracing-Apps erlebt. Es müssen Lösungen gefunden werden, bei denen Daten dezentral und mit möglichst kurzer Speicherzeit abgelegt werden. Und es muss die Möglichkeit zur Anonymisierung geben, etwa über ein Prepaid-Verfahren. Dann sehe ich viele Vorteile - zum Beispiel bei digitalen Tickets: Man ist flexibler, die Handling-Kosten fallen weg, und man muss nicht erst einen Automaten finden, um eine Fahrkarte auszudrucken.

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