Energiewende in Nordfriesland Der Wasserstoff, aus dem die Träume sind

Die elektrische Energie aus den Windrädern wird in Bosbüll gleich an Ort und Stelle per Elektrolyse in Wasserstoff verwandelt.
Foto: GP JOULENordfriesland im Spätherbst. Reußenköge, ein Dorf zwischen Husum und der dänischen Grenze, liegt im Nebel. Auf einem alten Bauernhof hat das Unternehmen GP Joule seinen Sitz. Es gibt viel Platz, doch es ist nicht einfach, einen Verbrenner-Pkw zu parken. Die freien Plätze sind für Elektrofahrzeuge reserviert. Eine Ladesäule reiht sich an die nächste.
Wo keine steht, parken Wasserstoffautos. Treibstoff für die gibt es an den neuen Tankstellen namens »eFarm« – selbst produziert, regional vertrieben.

Nah am Wasserstoff gebaut
Wasserstoff soll hier in Norddeutschland dazu beitragen, mehrere Probleme auf einmal zu lösen: Seine stromintensive Produktion hilft, den reichlich verfügbaren und manchmal überschüssigen Windstrom zu nutzen und Energie zu speichern. Die Region wird unabhängiger von importiertem Öl. Und Windparkbetreiber erhalten für ihre Elektrizität einen neuen Abnehmer, nachdem Fördergelder aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) fürs Einspeisen ins Netz Ende 2020 vielfach ausgelaufen sind. Es ist ein Modell, das potenziell in vielen Regionen der Welt nützlich wäre.
Ove Petersen, hellblaues Hemd unter blauer Steppweste, sitzt im Büro und blickt durch die Fensterfront über das platte Land. Der Mitgründer und Chef von GP Joule ist hier aufgewachsen, das Büro war früher Teil des landwirtschaftlichen Familienbetriebs. Schweine, Hühner, Getreide, Ferienwohnungen – ein nordfriesisches Idyll. Doch als der Agraringenieur den Hof übernahm, disponierte er um. »Die Preise für Getreide waren im Keller, deshalb wollten wir unsere Flächen für etwas mit Zukunftspotenzial nutzen«, sagt Petersen. »Also haben mein Studienfreund Heinrich Gärtner und ich uns mit der Projektierung von Solar-, Windkraft- und Biogasanlagen einen Nebenerwerb aufgebaut.«
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Landwirtschaft gibt es auf dem Hof noch immer, darum kümmert sich ein Verwalter. Denn aus dem anfänglichen Nebenerwerb wurde 2008 GP Joule. Heute hat die Firma 300 Mitarbeiter, die sich auf die Standorte Stuttgart, Augsburg, das bayerische Buttenwiesen, Toronto und Reußenköge verteilen. Am Hauptsitz arbeiten 160 Beschäftigte. »Deshalb müssen die Schweine bald weichen«, sagt Petersen. »Aus den Ställen werden Büros.«
Aus Wind wird Wasserstoff
Als Energiedienstleister hat sich GP Joule in der Szene inzwischen einen Namen gemacht. In der Lausitz baute das Unternehmen 2011 auf der Abraumhalde eines Braunkohletagebaus den damals größten Solarpark Deutschlands. Weltweit gingen weitere solche Anlagen ans Netz, dazu kamen Windparks. Seit 2016 installiert GP Joule Ladesäulen für Elektroautos. Im Frühjahr 2020 kam die regionale Wasserstofferzeugung hinzu: die »eFarm«. Es ist die bislang größte Anlage dieser Art in Deutschland.
Per Elektrolyse wird dort aus Windenergie Wasserstoff produziert. Dabei wird Wasser mithilfe des Ökostroms in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Die Abwärme des Sauerstoffs kann in lokalen Wärmenetzen genutzt werden. So geht weniger Energie bei der Umwandlung verloren – Fachleute beklagen die bisher schwache Effizienz in der Wasserstoffwirtschaft. Das Gas selbst wird an die zwei Tankstellen in Husum und Niebüll geliefert.
Bisher sind sehr wenige Wasserstoffautos verfügbar und diese sind am Markt kaum gefragt. Bei alternativen Antrieben dominieren zunehmend batterieelektrische Fahrzeuge. »Es gibt bei neuen Mobilitätskonzepten ja immer das Henne-Ei-Problem«, sagt Petersen. »Wir versuchen, die Eier gleich mitzuliefern.« GP Joule kaufte zwei Wasserstoff-Busse, die jetzt für den Nahverkehr vermietet werden. Dadurch, dass der Wind nun in Form von Wasserstoff Autos antreibt, entstehe ein »erlebbarer Nutzen«.
Emissionsfrei durchs Wattenmeer
Etwa zwanzig Unternehmen sind als Gesellschafter an Bord. Darunter die örtlichen Reedereien, denn die Fähren nach Pellworm oder Föhr sollen bald emissionsfrei durchs Wattenmeer gleiten. Auch Windparkbetreiber sind beteiligt.
Nicht nur aufgrund der auslaufenden EEG-Förderung kommt das Projekt für Windparkbetreiber zur rechten Zeit. Es bietet eine Lösung für ein weiteres, bisweilen absurdes Problem: Viele Windräder stehen still, wenn sie keinen Strom mehr ins Netz einspeisen dürfen – weil dort zu viel Kohlestrom hindurchfließt. Der japanische Autohersteller Toyota hat einmal ausgerechnet, wie weit ein Toyota Mirai mit der nicht genutzten Energie stillstehender deutscher Windräder aus einem Jahr fahren könnte. Das Ergebnis: 13,9 Milliarden Kilometer. »Und während die Energie hier verpufft, fahren wir Unmengen an Öl nach Nordfriesland«, sagt Petersen.
Derzeit entstehen fünf Wasserstoffproduktionsstandorte an lokalen Windparks. Der in Bosbüll ist bereits in Betrieb. Zuletzt sind die beiden Wasserstofftankstellen in Betrieb gegangen und versorgen zunächst die Linienbusse. Hunderte lokale Firmen hätten Interesse bekundet, die neue Energiequelle ebenfalls zu nutzen. »Wenn die Infrastruktur steht, kommen dadurch noch mehr Fahrzeuge hinzu«, sagt Petersen und wird euphorisch: »Die Rakete wird jetzt gezündet«.
Dazu beitragen könnte Jürgen Dohle. Er betreibt ein Kieskontor in Viöl, fünfzehn Kilometer von Husum entfernt. Etwa 50 Lkw gehören zur Firma, täglich legt jeder bis zu 600 Kilometer zurück. Die neue Infrastruktur eröffnet laut Dohle Chancen. »Was gibt es dagegen einzuwenden, mein gesamtes Unternehmen auf emissionsfreien Betrieb umzustellen?« Bis alle Lkw mit Wasserstoff fahren, werde es zwar noch dauern, aber die ersten Anfragen für Wasserstoff-Lkw seien raus«, sagt Dohle. Er fängt eine Nummer kleiner an: »Die ersten Hyundai-Nexo-Pkw werden bald geliefert.« Denkbar sei, auf dem Betriebshof eigene Wasserstoff-Zapfsäulen zu installieren.
Es ist die Idee eines ineinanderverschränkten Energiesystems, das die Menschen in der Gegend für den Wasserstoff begeistert. Dabei geht es nicht nur um saubere Mobilität, sondern um die Sektorenkopplung von Mobilität, Wärme und Industrie. So kann die Wärme, die bei der Elektrolyse abfällt, ein nahe liegendes Dorf mit Fernwärme versorgen.
Der Keim für einen deutschen Wasserstoffmarkt?
Beim Stichwort Sektorenkopplung wird Richard Hanke-Rauschenbach hellhörig. Der Professor ist als Leiter des Instituts für elektrische Energiesysteme an der Uni Hannover Experte in der Wasserstoffforschung. »Das ist genau das, was wir brauchen, um das Gesamtenergiesystem CO₂-frei zu bekommen«, sagt er mit Blick auf die Aktivitäten in Nordfriesland. »Wenn es gelingt, Strom aus erneuerbaren Quellen derart effizient zu nutzen, dann kann man nur sagen: herzlichen Glückwunsch!« Hanke-Rauschenbach sieht in solchen Projekten einen ersten Schritt. Auch der regionale Ansatz gefällt ihm: »Das ist eine Grundvoraussetzung, damit wir deutschlandweit eine Infrastruktur aufbauen können. Langfristig müssen diese Wasserstoffcluster dann zu einem Wasserstoffmarkt zusammenwachsen.«
Um ganz Deutschland mit grünem, heimischen Wasserstoff zu versorgen, reicht indes der Ökostrom Experten zufolge auch in Zukunft nicht aus. Verfechter der Technik setzten auf Wasserstoffimporte aus Ländern, in denen Wind, vor allem aber auch die Sonne mehr Energie bereitstellen.
Petersen hofft, dass sein Projekt als Vorbild dient – will es aber nicht als Universallösung, sondern als Baustein der Energiewende verstanden wissen. Um so viele regionale Ressourcen wie möglich für die Energiewende zu nutzen, müsse auf allen Ebenen umgedacht werden. Etwa beim Genehmigungsrecht, das Projekte dieser Art noch nicht reguliert. Daher geht es schleppend voran, obwohl die Windräder mit jeder Umdrehung längst grüne Energie liefern. »Die Sektorkopplung muss nicht nur technisch stattfinden, sondern auch verwaltungstechnisch«, sagt Petersen.
Die Politik hat das Potenzial der »eFarm« immerhin erkannt. Das Verkehrsministerium förderte das Projekt mit acht Millionen Euro. Bundesverkehrsminister Scheuer kam persönlich zum Spatenstich im Namen der Nachhaltigkeit. Für die 190 Kilometer lange, finale Teilstrecke von Hamburg nach Sylt nahm er allerdings nicht ein Wasserstoffauto, sondern das Flugzeug.