Als ich ein Kind war "Ich hatte total Bock auf den Westen"

Popstar Annett Louisan vor den Überresten der Berliner Mauer
Foto: JaenickeEs war der 9. November und schon ziemlich spät. Ich saß wie gebannt vor dem Fernseher: Tausende Menschen weinten da, fielen sich in die Arme und tanzten auf der Berliner Mauer. Mein Großvater saß neben mir und hatte Freudentränen in den Augen. Er konnte es einfach nicht glauben.
Aber er hatte auch ein wenig Angst: dass die Panzer des DDR-Staates oder der Russen kommen würden oder dass Polizisten die Menschen ins Gefängnis werfen. Denn bis dahin wurde jeder, der in den Westen fliehen wollte, eingesperrt - oder musste den Fluchtversuch sogar mit dem Leben bezahlen. Solche Geschichten hörte ich immer mal wieder.
Die Lehrer waren sehr streng. In der ersten Stunde hieß es immer: "Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!" Und die Klasse antwortete: "Immer bereit!" Was das bedeutete, wusste eigentlich niemand. Überhaupt haben wir sehr viel auswendig lernen müssen, ohne viel über die Bedeutung zu sprechen. Mickey-Mouse-T-Shirts durften wir bei Feiern und anderen offiziellen Festen nicht anziehen. Denn die kamen aus dem Westen, dem bösen Amerika. Auch manche Lehrer rümpften die Nase, wenn ich meins in der Schule trug.
Für meine Mutter war sofort klar: Wir ziehen in den Westen, von unserem Dorf Schönhausen in Sachsen-Anhalt in die Großstadt Hamburg. Und auch ich hatte total Bock auf den Westen. Schließlich hatten wir oft über die Teilung der beiden Staaten gesprochen, und wie schön es doch wäre, selbst entscheiden zu können, wo man lebt.
So viel kann man sich doch gar nicht kaufen!
Ich hatte zwar nie das Gefühl, dass mir was wirklich Wichtiges fehlen würde. Aber wir durften nicht einfach zu unseren Verwandten in den Westen reisen. Oder nach Mallorca fliegen. Das war eben nicht erlaubt. Und es gab bei uns viel weniger zu kaufen. Darum freute ich mich immer auf die Pakete von meiner Tante aus Hamburg: mit Milka-Schokolade, Wrigley's Spearmint, Coca-Cola und Nimm-2-Bonbons. In unserem Supermarkt, dem "Konsum", gab's nur alle drei Monate Bananen und nur eine Schokoladensorte.
Als ich dann zum ersten Mal in Hamburg war, traute ich meinen Augen nicht: So viel konnte man sich doch gar nicht kaufen! Ich war abends völlig fertig. Wie neulich, als ich eine Woche in New York war; da hatte ich dieses Gefühl wieder: so viele Farben und Gerüche, alles so riesig und von allem so viel.
In Hamburg habe ich mich schnell eingelebt. Die Kinos und die vielen Theater. Und Schallplatten an jeder Ecke zu kaufen. Ob ich in der DDR auch Sängerin geworden wäre? Schwer vorzustellen. Denn ich konnte im Westen so viel Erfahrung sammeln, auf Englisch singen, viele Leute treffen, die mit Musik zu tun haben. In der DDR hätte ich nicht so viele Möglichkeiten gehabt.
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