

Alisa Fatum schwimmt bei 1,6 Grad Wassertemperatur Die Eiskönigin
So, es wird kalt«, sagt Alisa Fatum, und das klingt ein bisschen komisch. Denn kalt ist es ohnehin schon. Der Deutsche Wetterdienst hat für diesen Dezembermorgen eine amtliche Warnung vor strengem Frost herausgegeben. Die Wetter-App zeigt minus sieben Grad Celsius an, gefühlt minus elf. Aber noch trägt Alisa ihren dicken Wintermantel, darunter eine weitere Montur, darunter Ski-Unterwäsche. All das zieht sie nun aus – bis auf den Badeanzug.
Sie holt zwei kleine Gummipinöpel aus ihrer riesigen Tasche hervor. »Ganz wichtig: meine Ohrstöpsel«, sagt Alisa. Sie verhindern, dass kaltes Wasser in den Gehörgang fließt. »Bei einer Wassertemperatur unter 15 Grad tut das sehr weh.« Alisa steckt sich die Stöpsel ins Ohr und setzt eine Badekappe auf. Dann noch die Schwimmbrille und den Gurt mit der im Notfall selbstaufblasenden Rettungsboje umschnallen.
Alisa verzieht kaum eine Miene, als sie ins Wasser läuft, kein zweifelndes Innehalten, kein Zittern. Als sie etwa bis zur Hüfte im Wasser steht, befeuchtet sie ihre Arme und die Herzregion, um den Körper auf die Kälte vorzubereiten. Dann schwimmt sie los. Die Wassertemperatur am Kulkwitzer See in Leipzig, Alisas Trainingsrevier, beträgt 1,6 Grad.
Alisa ist Eisschwimmerin, eine der besten, die es gibt. Bei den Weltmeisterschaften im französischen Samoëns holte sie im Januar fünf Gold-, drei Silber- und drei Bronze-Medaillen. Zudem brach sie zwei Weltrekorde. Eine Woche später fuhr sie nach Slowenien. Auch dort fanden Weltmeisterschaften statt. Und auch dort war Alisa erfolgreich. Über die 1000 Meter Freistil schwamm sie sogar den Männern davon.

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Zwei WMs an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden – diese ungewöhnliche Terminplanung hat damit zu tun, dass Eisschwimmen noch nicht so straff organisiert ist wie andere Sportarten. Zwar heißt es, dass schon die Wikinger regelmäßig im kalten Wasser baden gegangen seien. Aber das Schwimmen auf Zeit im Eiswasser, so wie Alisa es macht, gibt es erst seit Kurzem.
Zwei Verbände kümmern sich um die Organisation der Weltmeisterschaften. Eine wird im Eisschwimmen ausgerichtet. Damit ist das Schwimmen bei Wassertemperaturen unter fünf Grad gemeint. Nach unten gibt es keine Temperaturgrenze. Anders ist es beim Winterschwimmen. Der dafür zuständige Weltverband hat bestimmt, dass die 1000 Meter Freistil beispielsweise nur bei Wassertemperaturen von über fünf Grad ausgetragen werden dürfen.

Alisa mag es, den Kulkwitzer See beim Schwimmen nur für sich zu haben. Sie geht allerdings nur unter Aufsicht rein. Es muss immer jemand draußen stehen, der zur Not Hilfe holen kann
Foto: Christiane Wöhler / Dein SPIEGEL
Alisa misst die Wassertemperatur im Kulkwitzer See
Foto: Christiane Wöhler / Dein SPIEGEL
Ungeübte sollten bei solchen Temperaturen nicht ins Wasser gehen. Alisa lässt sich regelmäßig von einem Arzt durchchecken. Nur wenn dieser ihre Tauglichkeit zum Eisschwimmen bestätigt, darf sie an Wettkämpfen teilnehmen
Foto: Christiane Wöhler / Dein SPIEGELDie Wettkämpfe, an denen Alisa teilnimmt, finden meist in Seen, manchmal auch in Flüssen statt. In die natürliche Umgebung wird das Gerüst eines Schwimmbeckens gebaut. Die Veranstalter achten darauf, dass keine Eisschollen umhertreiben. »Denn daran kann man sich extrem schneiden«, sagt Alisa. Vor dem Rennen warten die Teilnehmenden bekleidet in einem Wärmezelt. Kurz vor dem Start gibt es ein Kommando zum Ausziehen. Ein weiteres Kommando fordert sie auf, das Wasser über eine Leiter zu betreten und die Startposition einzunehmen. Dann folgt das Startkommando.
»Einen Sprung vom Startblock wie beim Hallenschwimmen gibt es bei uns nicht«, erklärt Alisa. Das wäre wegen des plötzlichen Temperatursturzes zu gefährlich für den Körper. »Auch Rollwenden wie beim Kraulschwimmen üblich sind nicht erlaubt, da man dabei die Orientierung verlieren könnte.«
Neoprenanzüge sind ebenfalls verboten, denn sie sorgen für Auftrieb und würden der Schwimmerin einen unfairen Vorteil verschaffen. Für jeden Teilnehmenden stehen zwei Rettungskräfte bereit. Sie tragen einen Spezialanzug, mit dem sie direkt ins Wasser springen können, sollte es Anzeichen für eine zu starke Unterkühlung geben. Zusätzlich bestimmt jede und jeder Teilnehmende eine außenstehende Vertrauensperson, die im Notfall das Handtuch werfen kann. »Wenn ich sehr langsam werde, ist das ein Zeichen für meine Mutti, dass ich meine Grenze erreicht habe«, sagt Alisa.
Alisas Mutter ist bei vielen Wettkämpfen mit dabei. Von früh auf haben sie und ihr Mann Alisa sportlich unterstützt. Vor 18 Jahren begann Alisa mit dem Wettkampfschwimmen in der Halle. Die Langstrecken mochte sie besonders. Sie begann, im Freiwasser zu schwimmen. »Das hat mir im Sommer so gut gefallen, dass ich es auch im Herbst ausprobieren wollte.« Sie erzählte ihren Eltern davon. Und so begleiteten diese Alisa an einem Herbsttag zum See. Die Wassertemperatur lag bei 15 Grad. »Ich habe gebibbert. Und Mutti hat gesagt: ›Das nächste Mal gehe ich mit rein.‹« Seitdem haben sich die beiden immer öfter in immer kältere Gewässer gewagt.

Hier sieht es so aus, als würde Alisa ganz weit draußen im Kulkwitzer See schwimmen
Foto: Christiane Wöhler / Dein SPIEGEL
Doch die Eisschwimmerin bleibt immer in Ufernähe, damit sie das Wasser schnell verlassen kann. Beim Kraulen achtet sie darauf, ruhig zu atmen – bloß kein Eiswasser schlucken
Foto: Christiane Wöhler / Dein SPIEGEL»Die empfindlichsten Stellen sind die Füße, die Hände und das Gesicht«, sagt Alisa. »Das Eintauchen mit dem Gesicht ist noch immer ein Schreckmoment. Aber nach einer Weile übertünchen die ausgeschütteten Glückshormone die Schmerzen.«
Fünf- bis sechsmal pro Woche trainiert Alisa im warmen Hallenbadwasser, zweimal pro Woche im Eiswasser. Nicht immer schafft sie es rechtzeitig zum See. »Wenn es abends nach Dienstschluss schon dunkel ist, kann ich das Seeufer nicht sehen. Das ist zu gefährlich. Ich setze mich dann stattdessen zu Hause in eine Regentonne. Darin kann ich zwar nicht schwimmen, aber es hilft bei der Kältegewöhnung.«
Doch auch dieses harte Trainingsprogramm bedeutet nicht, dass Alisa die Kälte nichts anhaben kann. Als sie im Dezember aus dem Kulkwitzer See steigt, zittert sie. Schnell wirft sie sich einen Poncho über, zieht den Badeanzug aus, schlüpft in einen kuscheligen Onesie und die von Oma gestrickten roten Socken. Mantel drüber, die vorher bereitgelegte Wärmflasche fest an sich gepresst. Jetzt ein Schluck Tee aus der Thermoskanne. Wie geht’s dir Alisa? Sie antwortet nur einsilbig: »Kalt.«
Dieser Artikel erschien in »Dein SPIEGEL« 03/2023.

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