

Illustration: Der Flix / Dein SPIEGEL
ChatGPT in der Schule »KI ersetzt nicht den gemeinsamen Unterricht«
Dein SPIEGEL: Wie viele Ihrer Schülerinnen und Schüler nutzen ChatGPT für die Hausaufgaben?
Haverkamp: Wir haben im Januar eine Umfrage gemacht. Da hatte bereits ein Fünftel einen eigenen Account. Heute dürften es deutlich mehr sein. Die Schülerinnen und Schüler geben offen zu, dass sie diese Technologie verwenden, um Referate vorzubereiten oder um andere Aufgaben, die sie in der Schule aufbekommen, relativ zeitschonend zu erledigen.
Dein SPIEGEL: Merken Sie es als Lehrer, wenn eine Schülerin eine Analyse von einer künstlichen Intelligenz (KI) schreiben lässt?
Haverkamp: Ganz ehrlich – nur in den seltensten Fällen. Denn die Schülerin kann der KI den Auftrag geben: Erstelle nicht eine perfekte Analyse, sondern erstelle eine Analyse, die im Stile einer Achtklässlerin geschrieben ist, und füge dann noch ein paar Rechtschreib- und Grammatikfehler ein.
Dein SPIEGEL: Schon bevor der Hype um ChatGPT losging, haben Sie KI-Tools im Unterricht eingesetzt. Wie kam es dazu?
Haverkamp: Vor einem halben Jahr wurde den Lehrkräften an unserer Schule klar: Wenn sich KI-Sprachmodelle weiter so rasant entwickeln, dann kann man keine normalen Hausaufgaben mehr stellen. Darauf wollten wir reagieren – aber nicht mit Verboten.
Dein SPIEGEL: Warum nicht?
Haverkamp: Weil wir glauben, dass man Tools wie ChatGPT so einsetzen kann, dass sie für das Lernen förderlich sind. Und weil Schülerinnen und Schüler die Tools ohnehin auf ihren privaten Endgeräten nutzen. Es wäre fahrlässig, wenn wir Kinder und Jugendliche nicht darauf vorbereiten. Denn die Nutzung ist auch mit Gefahren verbunden.
Dein SPIEGEL: Welche wären das?
Haverkamp: In Social Media heißt es manchmal, dass man dank ChatGPT nie wieder eigene Texte schreiben muss. Schaut man sich die Qualität der KI-generierten Texte aber genauer an, wird deutlich: Vieles davon ist frei erfunden, zum Beispiel die Quellen für bestimmte Aussagen. Meine Achtklässler haben zudem gemerkt, dass KI zum Teil mit veralteten Texten trainiert wird. Mit Hilfe einer KI sollten sie eine Argumentation zum Thema Handy-Verbot in der Schule schreiben. Die KI sprach dann davon, dass Schülerinnen und Schüler vom SMS-Schreiben im Unterricht abgelenkt würden. Meine Achtklässler fragten sich: Was ist eine SMS?

Lehrermangel, schlechte Ausstattung, ein veraltetes Noten-System – von vielen deutschen Schulen ist mehr Negatives als Positives zu berichten. Dabei könnte es fairer und zeitgemäßer laufen: In der Titelgeschichte des Kinder-Nachrichtenmagazins »Dein SPIEGEL« geht es um Schulen, die gute Beispiele abgeben. Außerdem: Bundesminister Cem Özdemir spricht mit Kinderreporterinnen über Ernährung. Das Magazin gibt es am Kiosk. Eltern können das Heft auch online kaufen:
Dein SPIEGEL: Haben Sie schon mal eine Klassenarbeit mit KI-Unterstützung schreiben lassen?
Haverkamp: Ja, dabei hat sich gezeigt, dass die sehr guten Schülerinnen und Schüler ihre Texte lieber selbst schrieben. In den schlechteren Klassenarbeiten wurden dagegen viele KI-Textabschnitte übernommen, die nicht so sinnvoll waren. Es scheint, als würden Kinder, die eh schon gute Noten schreiben, KI nutzen, um mehr Zeit zum Lernen anderer Dinge zu haben. Während schlechtere Schüler KI verwenden, um weniger zu lernen. Diese Bildungskluft ist ein Problem. Wir müssen allen Kindern und Jugendlichen zeigen, wie man KI sinnvoll nutzen kann.
Dein SPIEGEL: Haben Sie Beispiele dafür?
Haverkamp: Du kannst ChatGPT supergut einsetzen, um dir Feedback für einen Text zu holen, indem du fragst: Was kann ich hier noch verbessern? Oder du kannst dem Chatbot eine Rolle zuweisen: Sei doch mal ein Architekt aus einer Kleinstadt mit 20 Jahren Berufserfahrung und verrate mir, warum du diesen Beruf ergriffen hast. Das hilft beim Bewerbungsschreiben, wie wir es gerade in der achten Klasse durchnehmen. Und wer eine Schreibhemmung hat, kann sich einfach mal den Anfang eines Aufsatzes von der KI schreiben lassen und dann kommt man selbst auf viele eigene Ideen.
Dein SPIEGEL: Was ist mit dem Datenschutz?
Haverkamp: Um ChatGPT nutzen zu dürfen, muss man laut AGB 18 Jahre alt sein. Außerdem muss man sich mit seiner Handynummer und E-Mail-Adresse anmelden. Das können Schulen nicht verlangen, zumal die Server in den USA stehen. Aus datenschutzrechtlicher Sicht ist das also eigentlich ein No-Go. Unsere Schule hat sich deshalb einen großen deutschen Anbieter geangelt haben. Der stellt uns jetzt für eine Jahrgangsstufe 140 anonymisierte Test-Accounts zur Verfügung.
Dein SPIEGEL: Wird KI irgendwann Ihren Beruf überflüssig machen?
Haverkamp: Da bin ich als Lehrer total entspannt. Während Corona haben wir gemerkt, wie wichtig es ist, die Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern zu pflegen. KI kann ein guter Assistent sein, aber sie ersetzt nicht den gemeinsamen Unterricht.
Dein SPIEGEL: Sie leiten das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur. Warum muss sich die Prüfungskultur in der Schule verändern?
Haverkamp: Der Jugendpsychiater Julian Schmitz von der Universität Leipzig hat in Studien herausgefunden, dass seit Corona etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler psychisch belastet sind. Und der größte Belastungsfaktor ist die Art und Weise, wie wir Prüfungen abhalten: Alle müssen zur selben Zeit am selben Ort das Gleiche handschriftlich erledigen. Und das, obwohl wir wissen, dass ein Fünftel bis ein Drittel der Schülerinnen und Schüler den Stoff zu diesem Zeitpunkt noch nicht beherrschen. In der Tauchschule meldet sich auch keiner zur Prüfung an, wenn er noch nicht schwimmen kann. Aber in der Schule wird das so gehandhabt. Wir haben es mal hochgerechnet: In 32 von 40 Schulwochen schreiben Schülerinnen und Schüler Klassenarbeiten und Klausuren. Da sind die Tests noch gar nicht mit drin. Sie sind also im Dauer-Prüfungsstress.
Dein SPIEGEL: Wie könnten die Prüfungen denn anders ablaufen?
Haverkamp: Wir beteiligen die Schülerinnen und Schüler an der Planung. So haben wir zum Beispiel zusammen einen Test-Talk entwickelt: Zu Beginn der Prüfung dürfen sich die Schülerinnen und Schüler über die Aufgabenstellung und die möglichen Lösungswege austauschen. Aber sie dürfen nichts mitschreiben. Im Anschluss lösen sie Aufgaben dann eigenständig. Die Zusammenarbeit am Anfang hilft denen, die Angst vor einem Blackout oder vor dem Auf-sich-allein-gestellt-Sein haben. Zudem wollen wir erreichen, dass Prüfungen mehr mit der Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen zu tun haben.
Dein SPIEGEL: Wie kann das gelingen?
Haverkamp: Etwa indem wir die Schülerinnen und Schüler über die Themen, über die sie schreiben sollen, mitentscheiden lassen. Eine Schülerin meinte zum Beispiel zu mir: »Ich möchte gerne darüberschreiben, ob Hygiene-Produkte für Frauen auf öffentlichen Toiletten kostenlos sein sollten.« Mega-Thema! Aber als Mann hätte ich mich nie getraut, das vorzuschreiben. Auch das Format stellen wir manchmal frei: Statt einer schriftlichen Erörterung kann man auch mal ein Erklärvideo abgeben.
Dein SPIEGEL: Und wie vergleichen Sie die abgegebenen Arbeiten dann miteinander?
Haverkamp: Das Problem mit der Vergleichbarkeit gibt es auch bei normalen Klassenarbeiten. Unterschiedliche Lehrkräfte kommen zu unterschiedlichen Bewertungen. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Deswegen gibt es im Abitur den Zweit- und Dritt-Korrektor. Als Lehrkraft ist es mir jedenfalls lieber, 25 komplett unterschiedliche Texte zu lesen als 25-mal denselben Quark – es gibt nichts Seelentötenderes.
Dein SPIEGEL: Auch eine Selbstbewertung durch die Schülerinnen und Schüler haben Sie erprobt. Wie kann man sich das vorstellen?
Haverkamp: Nachdem die Schülerinnen und Schüler eine Erörterung geschrieben hatten, habe ich im persönlichen Gespräch mit ihnen ausgelotet, wie deren Selbstwahrnehmung mit meiner Einschätzung übereinstimmt. Man darf sich das nicht vorstellen wie auf dem Basar: Der eine sagt 1, der andere 3 – einigen wir uns auf eine 2. So lief das nicht ab. Die Schülerinnen und Schüler waren oft kritischer als ich. Ihnen stand ein Klassenkamerad zur Seite, quasi als Anwalt. Am Ende haben wir uns immer auf eine Note geeinigt, ohne dass es Streit oder Tränen gab.
Dein SPIEGEL: Eine Schulprüfung findet nicht im luftleeren Raum statt. Es gibt Lehrpläne, Bildungsziele, Prüfungsordnungen. Braucht es für jede innovative Prüfungsform eine Genehmigung der Schulbehörde?
Haverkamp: Die Prüfungsordnungen enthalten einige Schlupflöcher. Dort steht zum Beispiel nicht, dass die Prüfungen in der Schule stattfinden müssen. Das hat man sich während Corona zunutze gemacht, als keiner in die Schule durfte. Und in einigen Bundesländern heißt es zum Beispiel, dass die Prüfung »in der Regel schriftlich« durchgeführt werden muss. Das kann man kreativ auslegen. An meiner Schule haben wir schon etwa 100 Klassenarbeiten in zeitgemäßerer Prüfungsform geschrieben. Bisher gab es nie eine Beanstandung.
Dein SPIEGEL: Gibt es auch Kinder und Jugendliche, die lieber ganz klassisch geprüft werden wollen?
Haverkamp: Manche Schülerinnen und Schüler sind in der Tat froh, wenn sie nach einer 45-minütigen Prüfung damit durch sind. Die Produktion eines Erklärvideos ist dagegen viel zeitaufwendiger. Und wenn es aufs Abitur zugeht, ist es vielen wichtig, normale Klassenarbeiten zu schreiben. Denn die Abi-Klausur ist schließlich auch so aufgebaut. Wir sagen also nicht: Alle klassischen Prüfungen müssen abgeschafft werden. Es ist ja eine wichtige Fähigkeit, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu performen. Aber es gibt eben auch so viele andere Möglichkeiten zu zeigen, was in einem steckt.
Eine gekürzte Fassung dieses Interviews erschien in »Dein SPIEGEL« 04/2023.

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