

Sicherheitsexpertin im Kinder-Interview »Die Ukrainer müssen angreifen können, um sich zu verteidigen«
Dein SPIEGEL: Fast ein ganzes Jahr dauert der Krieg schon, den Russland gegen die Ukraine führt. Hatten Sie bei Kriegsbeginn damit gerechnet?
Major: Nein. Ich hatte anfangs geglaubt, dass Russland die Ukraine überrennen wird. Nach den ersten Wochen hat sich aber gezeigt, dass die Ukraine sich hervorragend wehrt und dass Russland nicht in der Lage ist, diesen Krieg so zu führen wie geplant.
Dein SPIEGEL: Sie sind Sicherheits-Expertin. Wie arbeiten Sie?
Major: Ich erforsche, wie Konflikte entstehen, wie man sie bekämpfen kann und wie man danach Sicherheit und Frieden herstellen kann.

Claudia Major (Mitte) ist oft in Fernsehsendungen zu Gast, in denen über den Krieg in der Ukraine gesprochen wird. Sie arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik. Dort forscht sie zu den Themen Sicherheits- & Verteidigungspolitik.
Foto: Thomas Bartilla / Geisler-Fotopress / picture alliance / dpaDein SPIEGEL: Wem erzählen Sie von Ihren Forschungs-Ergebnissen?
Major: Ich berate Politikerinnen und Politiker. Gemeinsam denken wir über Fragen nach wie: Was soll unsere Bundeswehr jetzt machen? Wie können wir mit anderen Ländern der Ukraine helfen? Wie wollen wir uns künftig gegenüber Russland verhalten? Die Politiker treffen dann Entscheidungen. Heute muss ich zum Beispiel noch ins Verteidigungsministerium. Und am Abend bin ich in einer Talkshow zu Gast. Dort geht es auch um den Ukrainekrieg. Ich gebe öfters Interviews, so wie euch heute. Ich versuche, dabei zu helfen, dass mehr Menschen verstehen, was in diesem Krieg passiert.

Lehrermangel, schlechte Ausstattung, ein veraltetes Noten-System – von vielen deutschen Schulen ist mehr Negatives als Positives zu berichten. Dabei könnte es fairer und zeitgemäßer laufen: In der Titelgeschichte des Kinder-Nachrichtenmagazins »Dein SPIEGEL« geht es um Schulen, die gute Beispiele abgeben. Außerdem: Bundesminister Cem Özdemir spricht mit Kinderreporterinnen über Ernährung. Das Magazin gibt es am Kiosk. Eltern können das Heft auch online kaufen:
Dein SPIEGEL: Glauben Sie, dass der Krieg dieses Jahr enden wird?
Major: Nein. Den Krieg gewinnt, wer seine Lücken immer wieder füllen kann. Lücken in der Munition, in der Ausrüstung, in der Armee. Lücken in der Versorgung der Zivilbevölkerung. Welches Land seine Lücken wie füllen kann, hängt davon ab, was wir anderen Staaten machen.
Dein SPIEGEL: Warum hängt das davon ab?
Major: Die Ukrainer allein können nicht genug Munition herstellen oder gar neue Panzer bauen, die sie zur Verteidigung brauchen. Sie brauchen die Hilfe anderer Länder, weil die russische Armee die Anlagen, in denen die Ukraine Waffen und Munition hergestellt hatte, zerstört hat. Wenn wir die Lücken der Ukraine nicht füllen, kann sie diesen Krieg nicht weiterführen. Und dann wäre er auch irgendwann zu Ende. Aber mit einem anderen Ergebnis. Die Ukraine hätte kaum eine Chance, die Gebiete zurückzugewinnen, die russische Soldaten erobert haben.

Deutschland hat beschlossen, dass die Ukraine 14 Leopard-2-Panzer bekommt. Und auch andere europäische Länder dürfen der Ukraine jetzt solche Panzer geben. Da die Panzer dieses Typs aus deutscher Herstellung stammen, bedarf es dafür der Zustimmung der Bundesregierung. Bundeskanzler Scholz hat lange gezögert, diese Entscheidung zu treffen. Leopard-2-Panzer sind schwere Waffen. Sie sollen der Ukraine helfen, sich zu verteidigen.
Foto: Mindaugas Kulbis / AP / picture alliance / dpaDein SPIEGEL: Wie füllen die Russen ihre Lücken?
Major: Auch Russland hat Verbündete. Also Länder, die mit ihm befreundet sind. Iran gibt Russland Drohnen. Und die Lücken in der Armee werden durch »Mobilmachung« gefüllt: Es werden Männer eingezogen, die eigentlich nicht als Soldaten arbeiten. Sie müssen für Putin kämpfen. Viele wollen das gar nicht. Aber das ist dem Staatschef egal. Ihm ist anscheinend auch egal, dass seine Armee Kriegsrecht gebrochen hat.
Dein SPIEGEL: Was bedeutet »Kriegsrecht«?
Major: Vor langer Zeit haben sich die Länder der Welt darauf geeinigt, dass es auch im Krieg Regeln geben muss. Zu diesen Regeln gehört zum Beispiel, dass Soldaten gegeneinander kämpfen, die dafür ausgebildet und ausgerüstet sind. Zivilisten, also andere Mitglieder der Bevölkerung, Menschen wie ihr und ich, dürfen nicht angegriffen werden. Und auch die Lebensgrundlage der Zivilbevölkerung – vom Kindergarten bis zum Krankenhaus – darf nicht zerstört werden. Doch genau das macht Putins Armee. In der Ukraine sind schon Wohnungen, Wasserwerke, Heizanlagen beschossen und Zivilisten getötet worden. Das sind Kriegsverbrechen.

Claudia Major, 46, erklärt Leni, 12, und Flora, 13, wie ein Flugabwehr-System funktioniert. Die Sicherheitsexpertin sagt, dass die Ukraine solche Systeme dringend benötigt
Foto: Julia Steinigeweg / Dein SPIEGELDein SPIEGEL: Welche Unterstützung bekommt die Ukraine bisher?
Major: Nach dem russischen Überfall haben sich viele Länder wie die USA, Kanada, Großbritannien, die Mitglieder Europäischen Union, Japan, Australien und Neuseeland zusammengetan und gesagt: Wir müssen der Ukraine helfen. Politisch, indem wir klar und deutlich sagen: Wir akzeptieren diesen Krieg nicht. Wir sind dagegen. Finanziell, indem wir der Ukraine Geld geben. Humanitär, indem wir Medikamente, Lebensmittel, Decken schicken. Krankenhäuser sind zerbombt. Unzählige Menschen frieren, haben keinen Zugang zu Wasser, Essen oder Medizin. Und es gibt militärische Hilfe. Das sind die Waffen, von denen wir vorhin sprachen.
Dein SPIEGEL: Was braucht die Ukraine noch, um sich verteidigen zu können?
Major: Zum Beispiel Flugabwehr-Systeme. Mit solchen Anlagen kann man Raketen in der Luft abschießen, bevor sie einschlagen. Aber natürlich brauchen die Ukrainer auch Panzer und andere Waffen, um die Russen zurückzudrängen. Und Munition. Sie müssen angreifen können, um sich zu verteidigen.

Dieses Wohnhaus in Dnipro, einer der größten Städte der Ukraine, ist von Raketen zerstört worden. Auf dem Foto erkennt man eine Küche. Die Möbel stehen noch drin, die Wand fehlt. Die Bewohner mussten fliehen, manche starben
Foto: REUTERSDein SPIEGEL: Manche Menschen, auch Politiker in Deutschland, sind dagegen, dass wir Waffen liefern. Können Sie das verstehen?
Major: Ja, natürlich. Jeder Krieg geht mit enormer Zerstörung und riesigem Leid einher. Aber man darf nicht glauben, dass es Frieden gibt, wenn wir der Ukraine keine Waffen mehr liefern. Dann könnten die Ukrainer ihr Land nicht mehr verteidigen und müssten auf Putins Forderungen eingehen. Sie würden damit ihr Land zur Vernichtung freigeben. Dann gäbe es keine Ukraine mehr. Und Putin würde eine gefährliche Lehre aus dem Krieg ziehen.
Dein SPIEGEL: Welche Lehre wäre das?
Major: Dass sich Krieg führen lohnt, weil er sich so durchsetzen kann. Dass das Recht des Größeren, Mächtigeren gilt und sich ihm keiner standhaft in den Weg stellt. Dass er auf die Regeln pfeifen kann, die wir uns als internationale Staatengemeinschaft gegeben haben. Das wäre gefährlich, weil man davon ausgehen kann, dass Putin dann auch andere Länder angreifen würde.

Die Kinderreporterinnen: Leni (links) besucht die 6. Klasse des Herder-Gymnasiums. Flora (rechts) geht in Klasse 7 der Hagenbeck-Oberschule. Die beiden Freundinnen aus Berlin haben sich bei einem Filmdreh kennengelernt, bei dem sie als Komparsinnen mitgemacht haben. Sie teilen das Hobby Reiten. Leni tanzt außerdem Hip-Hop, Flora spielt Handball.
Foto: Julia Steinigeweg / Dein SPIEGELDein SPIEGEL: Warum drängt man nicht auf Friedensverhandlungen oder zumindest auf einen Waffenstillstand, anstatt noch mehr Waffen zu schicken?
Major: Seit Beginn des Krieges gab und gibt es viele Verhandlungsangebote. Doch Putin hat kein Interesse daran, diesen Krieg zu beenden. Er glaubt noch immer, dass er gewinnen und seinen Willen durchsetzen kann. Er ist der Ansicht, dass die Ukraine geschichtlich zu Russland gehört und kein eigener Staat sein sollte. Das kann die Ukraine nicht akzeptieren. Solange Putin von seinen Forderungen nicht abweicht, haben wir keine Chance auf Verhandlungen. Es bleibt momentan nur die Hoffnung, dass er auf Härte reagiert.
Dein SPIEGEL: Was ist damit gemeint?
Major: Damit sind zum einen die wirtschaftlichen Strafen gemeint, die wir für andere Länder verhängt haben, um Russland zu schaden. Viele Länder kaufen keine russischen Waren mehr ein und verkaufen auch keine Sachen mehr nach Russland. Zum anderen muss die Ukraine durch die militärische Hilfe so wehrhaft bleiben, dass sie die russischen Soldaten zurückdrängt. Das soll dazu führen, dass Putin irgendwann einlenkt und an den Verhandlungstisch gezwungen wird. Mehr Waffenlieferungen könnten also dazu führen, dass wir schneller Frieden haben.
Dieses Interview erschien in »Dein SPIEGEL« 03/2023.

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