Barbara Hans

Vertrauen in Journalismus Warum Redaktionen mehr Vielfalt brauchen

Der Journalismus droht, seine Glaubwürdigkeit zu verspielen. Es wird Zeit für einen Kulturwandel. Zehn Thesen, wie er gelingen kann.
Barbara Hans

Barbara Hans

Foto:

DPA/ Michael Kappeler

Dieser Text basiert auf der Eröffnungsrede zur Dverse Media Konferenz in Hamburg.

"Der Chef der Zeitschrift 'Unser Tier' ist auch kein Dackel", hat Hans Huffzky gesagt. Huffzky war Chefredakteur der Frauenzeitschrift Constanze, später Chefredakteur von Brigitte - und schon damals, in den Sechzigerjahren, stellte man ihm die Frage, wie es eigentlich sein könne, dass er als Mann eine Zeitschrift für Frauen verantworte.

Schon damals stand also die Frage im Raum, welche Bedeutung Repräsentation im Journalismus hat. Inwiefern sich die verschiedenen Lebensrealitäten der Leserinnen und Leser auch durch vielfältige Lebensrealitäten in den Redaktionen widerspiegeln sollen. Und schon damals gab es die Vermutung, dass Vielfalt den Journalismus verändert, ja nicht nur das, sondern auch, dass Vielfalt den Journalismus besser macht.

Die Sache mit dem Dackel hat auch ein halbes Jahrhundert später nichts an Relevanz eingebüßt.

Doch wenn ich ehrlich bin, bin ich vermutlich nicht die beste Wahl, um über Diversität zu sprechen. Ich könnte - wie manche meiner Kollegen es tun - mit Statistiken versuchen zu belegen, wie viel diverser die Redaktion von SPIEGEL ONLINE heute ist; wie viel sich in den vergangenen Jahren zum Guten gewendet hat. Für solche Rechnungen werden dann mitunter neue Teamleitungen geschaffen, um zu belegen: Wir sind auf einem ganz guten Weg.

Aber das würde wenig bringen; und es würde auch wenig aussagen: Zahlen alleine geben keine Auskunft über Meinungsmacht, über Deutungshoheit. Wer sind die Leute am Konferenztisch, auf die alle hören? Wer sind die Leitartikel- und Kommentarschreiber? Wer die Edelfedern? Redaktionelle Gefüge sind komplex - auch wenn sie längst nicht immer vielfältig sind. Also: Zahlen sind keine gute Antwort, wenn nach einem Kulturwandel gefragt wird.

Ich bin aber noch aus einem anderen Grund möglicherweise nicht die beste Wahl: Ich bin sehr nah dran am journalistischen Mainstream. Ich habe einen sehr deutschen Namen, ich bin ziemlich weiß, habe studiert, bin heterosexuell. Ich bin Durchschnitt.

Und dennoch strengt mich schon dieser Durchschnitt oft genug an.

Es gibt Tage, an denen wünschte ich, ich sei ein Anfang 50-jähriger Mann. Vielleicht 54, leicht schütteres, leicht angegrautes Haar, 1,87 groß, 85 Kilo schwer. Ein Sport dazu, vielleicht Tennis. Ein Lieblingsfußballverein: Dortmund (allein um sich in Hamburg abzugrenzen von den St.-Pauli- und HSV-Fans). Ich würde von meinen Kindern erzählen und den Aktivitäten, die ich mit ihnen unternehme neben meiner vielen Arbeit. Ich erzählte nicht von den Hausaufgaben, nicht von der Zeit im Wartezimmer beim Kinderarzt. Sondern von den besonderen Dingen: Ich und die Jungs beim ersten Konzert meines Lieblingsjazzsängers. Wir Jungs beim Angeln. Es wären Abenteuergeschichten. Sie würden mich menschlicher erscheinen lassen, irgendwie sympathisch. Toll, die Familie ist ihm auch wichtig. Das wäre die Botschaft.

Und, wenn ich ehrlich bin, gibt es Runden, in denen versuche ich, einfach so zu tun, als sei ich ein Anfang 50-jähriger Mann. Chamäleontaktik. Es funktioniert kläglich. Denn egal, wie sehr ich mich auch anstrenge: Ein 50-jähriger Mann werde ich in diesem Leben nicht mehr werden.

SPON-Backstage: Wie wir arbeiten
Foto: SPIEGEL ONLINE

Es geht nicht darum, Ähnlichkeit zu reproduzieren

Jede noch so kleine Abweichung vom Durchschnitt macht Mühe, der "kleine Unterschied" - und ich meine es nicht im Sinne Alice Schwarzers - ist eben am Ende trotzdem auch ein Unterschied. Den nehme ich wahr - und meine Kollegen in den einzelnen Runden sicherlich auch. Das zeigt aber auch: Wenn wir einen Kulturwandel wirklich wollen und anstreben, müssen wir das mit großer Konsequenz tun, denn vom Mainstream geht immer ein Sog aus. Je näher am Durchschnitt man ist, desto weniger Mühe macht die Adaption.

Aber: Genau das ist das Problem.

Es geht nicht darum, Ähnlichkeit zu reproduzieren. Kleine Mini-Mes in blauen Anzügen. Chamäleonfähige Kollegen. Vielfalt ist das Gegenteil von Assimilation. Wenn ich so bin wie alle anderen, dann ist es letztlich auch egal, dass ich mit am Tisch sitze. Dann regieren Konformität und Homogenität.

Wo ist eigentlich das Problem? Warum reden wir über Vielfalt - und warum gerade jetzt?

Vielleicht ist es ja so, wie Hans Huffzky gesagt hat: Das Tiermagazin braucht den Dackel nicht.

Das Zitat zeigt zweierlei: 1. Das Thema Vielfalt im Journalismus ist nicht neu. 2. Vor gut 50 Jahren konnte sich der Journalismus eine solche Haltung und Ignoranz leisten. Heute kann er das nicht mehr. Diese Erkenntnis ist leider relativ neu.

Was bedeutet das?

Es gab auch in den Sechzigerjahren zu wenig Repräsentanz in der Berichterstattung. Und seit Jahrzehnten wird das von Minderheiten beklagt. Von Lesben und Schwulen, von Migranten, von Menschen mit Behinderung. Gruppen und Vereine, die versuchen, das zu verändern, gibt es schon lange. Ich bin vor Kurzem auf ein Buch aufmerksam geworden. Es heißt: "Macht war mir nie wichtig" und ist erschienen in der Reihe "Die Frau in der Gesellschaft" in den Achtzigerjahren. Es umfasst Gespräche mit Journalistinnen. Und im Vorwort steht eine Frage, die genauso gut auch heute noch Leitsatz sein könnte:

"Leistet euer Medium genug, um fremden Alltag, fremde Kulturen, fremde Vorstellungen von der Welt weniger fremd zu machen?"

Die Antwort, damals wie heute, lautet: nein.

Viele Medien, SPIEGEL ONLINE ausdrücklich eingeschlossen, tun nicht genug. Und, noch viel schlimmer: Man kann den Eindruck gewinnen, dass uns immer mehr Dinge "fremd", also fern, erscheinen.

Der Journalismus ist zuletzt zu oft überrascht worden. Von dem Aufstieg der AfD, vom Brexit, von der Wahl Trumps, sicher in Teilen auch vom Ausmaß des IS-Terrors. Wir haben aus der Überheblichkeit heraus, es besser zu wissen, gegen die Dinge angeschrieben. Wir waren so überzeugt, dass wir blind waren.

Blind dafür, dass die Mehrheit der britischen Wähler der EU den Rücken kehren wollte und immerhin 63 Millionen Amerikaner Trump für eine bessere Wahl hielten als Clinton. Wir haben es für Irrsinn gehalten und nicht ernst genommen. Wir waren nicht neugierig. Wir waren selbstgerecht.

Empfohlener externer Inhalt

Hier finden sich Informationen über das besprochene Produkt und werbliche Verlinkungen. Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser Inhalt angezeigt wird. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung. Sie können Ihre Zustimmung jederzeit wieder zurücknehmen.

Externer Inhalt

Journalisten müssen das Weltgeschehen nicht wie in einer Glaskugel vorhersehen. Dann sollten sie auf der Kirmes sitzen, aber nicht in einer Redaktion. Sie müssen aber offen sein für Wahrscheinlichkeiten. Sie müssen sich irritieren lassen. Sie müssen zu den Menschen gehen und hinterfragen, was sie nicht verstehen. Statt das, was sie nicht verstehen, schlicht abzulehnen.

Wenn beinahe die Hälfte der US-Wähler für Trump stimmen und wir sie zuvor kaum abgebildet haben, dann muss uns das nachdenklich machen. Wenn wir den Brexit für komplett unmöglich gehalten haben, dann zeigt das doch bloß unsere eigene Arroganz, unsere Blase. In London fühlte sich der Brexit unwahrscheinlich an, außerhalb der Metropole war es anders. Wir müssen Dinge für möglich halten, auch wenn wir sie für falsch halten. Und die Frage, was wir für richtig und was wir für falsch halten, sollte nicht unser Leitmotiv sein.

Wir müssen die Dinge verstehen wollen, unterschiedliche Lebensrealitäten verstehen wollen. Und sie nicht primär beurteilen.

Es ist unser Job, rauszugehen zu den Menschen, uns mit ihrem Alltag zu beschäftigen. Es ist nicht unser Job, die Menschen zu missionieren. Die Demokratie braucht unterschiedliche Meinungen; Missionare braucht nur die Kirche.

Das ist Aufgabe des Journalismus: sich nicht den Mehrheitsmeinungen hinzugeben. Ressourcen bereitzustellen, die es ermöglichen, rauszugehen, zu recherchieren, zu reportieren, statt nur einzuordnen.

Journalisten, die auf den Leser fokussiert sind, sind solche, die mehr zuhören, als dass sie selbst senden. Die sich selbst nicht so wichtig nehmen; sondern vor allem den Gesprächspartner oder die Recherche. Die viel sehen, weil sie aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt schauen.

Die vergangenen Monate haben uns gezeigt, dass wir uns entfernt haben von unseren Lesern. Dass unsere Wahrnehmung eingeschränkt ist. Unsere blinden Flecken sind zu groß geworden. Wir haben uns geirrt, und alle haben es mitbekommen.

Wir halten den Nutzern ihre Filterblasen vor. Und verkennen unsere eigenen.

Leser wählen nicht länger nur ausschließlich die Medien aus, die schreiben, was sie selbst denken - das Phänomen gibt es seit Jahrzehnten. Leser werden heute auch in ihrer Timeline häufig mit den Dingen konfrontiert, die ihrer Sicht entsprechen. Der Algorithmus vernebelt die Weltsicht. So entsteht der Eindruck: Meine Meinung ist mehrheitsfähig. Alle denken wie ich. Ich hülle mich in den Konsens wie in eine warme, kuschelige Decke.

Das ist ziemlich komfortabel. Und es macht auf Dauer ziemlich dumm.

Denn wer sich nur mit dem umgibt, was er ohnehin schon kennt, der lernt nicht. Der verändert sich nicht. Der bestätigt sich immer nur selbst.

Doch diesen Vorwurf müssen wir nicht nur den Lesern machen. Denn auch wir in den Redaktionen sind gefangen in unseren eigenen Filterblasen.

Mittelalte weiße Männer, gutverdienende Akademiker definieren und prägen die journalistische Realität und damit unsere Weltsicht. Was sie am besten kennen, das sind andere mittelalte weiße Männer, mit Abitur und schicker Altbauwohnung. Was sie weniger gut kennen, das ist das Leben als Arbeiter in Herne-Crange. Oder das Leben als lesbische junge Frau. Oder, oder. Wenn Journalismus eine Profession ist, die Realitäten abbilden will und daran glaubt, dass es eben nicht nur die eine Realität gibt, dann müssen wir raus aus unserer Blase.

Wir brauchen Vielfalt, damit wir in den Redaktionen, bei unserer Arbeit, bei der Recherche auch künftig die richtigen Fragen stellen. Damit sich nicht nur eine Lebensrealität wiederfindet am Konferenztisch morgens um 9.15 Uhr, sondern zig verschiedene. Damit wir lernen können von verschiedenen Lebensrealitäten.

Das war in den Achtzigerjahren richtig, und es ist immer noch richtig. Mit einem Unterschied: Wir können uns unsere biografische und ökonomische Homogenität heute nicht mehr leisten. Wir müssen verstehen, dass sie mit dazu beigetragen hat zu einer Entfremdung von den Lesern. Dass sie Ausdruck ist unserer eigenen Arroganz. Und dass diese Entfremdung dazu führt, dass die Menschen das Vertrauen in uns verlieren. Weil Leser jemandem, der sie nicht versteht, schwerlich vertrauen können. Weil wir Expertisen brauchen, die weiter gefächert sind. Und weil Journalismus immer etwas mit Repräsentation zu tun hat.

Filterblasen sind ein Problem der Nutzer. Und sie sind unser eigenes Problem.

Das beantwortet die Frage, warum das Phänomen zwar lange bekannt ist, aber so lange so wenig passiert ist: Was hat die Verlage in all den Jahren daran gehindert, diverser zu werden? Die Antwort ist so simpel wie unbefriedigend: Es gab keinen Leidens- und damit keinen Veränderungsdruck. Es hat auch so funktioniert. Man könnte es auf die Formel bringen: ökonomischer Erfolg + institutionalisierte Breitbeinigkeit = Selbstgefälligkeit.

Oder mit anderen Worten: Es ging dem Journalismus zu gut.

Doch jetzt ist die Krise da; und sie führt dazu, dass der Journalismus in seine Ecken schaut, unter den Teppich, dass man versucht zu verstehen, worauf sich die Krise des Journalismus gründet. Wir sprechen in diesen Wochen immer wieder über Fake News, gerade so, als sei das die größte Herausforderung der Branche. Ich glaube das nicht. Ich glaube: Manches Mal, wenn wir über Fake News sprechen, sprechen wir in Wahrheit über Vertrauen in Journalismus. Fake News sind nur ein Symptom. Tatsächlich geht es darum, was Journalismus legitimiert; wie wir legitimieren, was wir tun, und wie wir es besser machen können.

Die Krise führt dazu, dass es eine Bereitschaft gibt, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Veränderungen beginnen eben selten in der Hängematte, und das ist auch in Ordnung.

Diese Krise ist eine ökonomische Krise, keine Frage. Aber sie ist auch eine Sinnkrise. Denn die sich verändernden Öffentlichkeiten werfen nicht nur die Frage auf, wie sich Journalismus künftig finanzieren lässt und wie wir neue Zielgruppen erschließen.

Sie konfrontieren uns auch, und das ist viel existenzieller, mit der Frage nach unserer Daseinsberechtigung. Das Publikum kann sich praktisch ohne jeden Aufwand in Echtzeit informieren, über jedes noch so nischige Thema. Die Erwartungshaltung steigt. Warum sollen die Menschen ihre eh schon knappe Zeit bei SPIEGEL ONLINE verbringen und nicht bei SZ.de? Die Nutzer erwarten mehr.

Aber: In welcher Konsequenz sind wir bereit und fähig, uns und unsere Routinen zu ändern? Was für einen Journalismus wollen wir machen?

Wenn man verstehen will, was digitalen und analogen Journalismus unterscheidet, dann ist dieser Punkt aus meiner Sicht der wichtigste: Die Digitalisierung zwingt uns, uns auf den Nutzer zu fokussieren. Denn die Nutzer, ihr Nutzungsverhalten sind allgegenwärtig. Wir sehen, wie sie sich durch ein Angebot navigieren. Wir bekommen die Daten in Echtzeit. Wir sind permanent damit konfrontiert, was für den Nutzer relevant ist: zu einer bestimmten Tageszeit, in einer bestimmten Situation.

Der Begriff der Relevanz wird damit demokratisiert: Wichtig ist nicht länger nur, was der Journalist als wichtig erachtet. Vielmehr bietet sich dem digitalen Journalismus die permanente Möglichkeit des Abgleichs. Wie funktioniert mein Text? Wie viele Leser findet er? An welchen Stellen eines Artikels steigen die Leser aus? Was sagt uns das über den Aufbau von Texten?

Den Nutzer im Blick zu haben, bedeutet auch: vom Nutzer über den Nutzer zu lernen. Texte besser zu machen, weil man viel kritischer auf sie schaut, wenn man weiß, wie weit die Nutzer lesen und welche Themen sie interessieren.

Die Digitalisierung verändert die Branche, sie lehrt uns zuzuhören, statt nur zu senden. Das verändert das Selbstverständnis des Journalisten. Die Nutzer sind es, die ein Argument liefern, warum Vielfalt kein akademisches Projekt ist, sondern ein sehr handfestes: Geschichten, die von unterschiedlichen Lebensrealitäten handeln, sind häufig die meistgelesenen.

SPON-Backstage: Wie wir arbeiten
Foto: SPIEGEL ONLINE

Wie kann Vielfalt gelingen? Was braucht es?

Zehn Thesen zum Kulturwandel in Redaktionen. Wie kann der Wandel gelingen?

1. Kulturwandel braucht Mut.

Vielfalt gelingt nur, wenn wir Entscheidungen treffen, die nicht naheliegen. Wenn wir uns nicht mit der ersten Option zufriedengeben. Wenn wir einen Vertrauensvorschuss ermöglichen. Kollegen einzustellen, die mir ähnlich sind, ist einfach und gibt der Führungskraft das behagliche Gefühl, alles richtig gemacht zu haben und nicht enttäuscht zu werden.

Die Abweichung von der Norm muss man begründen: vor sich selbst und vor anderen. Und sie macht denjenigen, der entscheidet, selbst mit angreifbar. Das darf man nicht unterschätzen. Verantwortung funktioniert wie ein Dominoeffekt. Es wird viel geredet über eine Kultur des Scheiterns und der Fehler; so wie im Silicon Valley, so wären wir wahnsinnig gern. Das bedeutet aber nicht nur neue Produkte, sondern auch Mut bei Personalentscheidungen.

Einem Kandidaten mehr zuzutrauen, jemanden an die Hand zu nehmen und zu unterstützen, der zögert, eine Führungsposition anzunehmen. Zu fragen: Was brauchst du, um die Entscheidung treffen zu können?

Vielfalt braucht also vor allem mutige Führungskräfte. Die Potenzial erkennen. Die in Vorleistung gehen. Von mutigen Personalentscheidungen kann eine ungeheure Kraft ausgehen für das Team.

Wenn ich auf meine Berufsbiografie schaue, dann hatte ich immer wieder das Glück, mutige Vorgesetzte zu haben. Denn die Beharrungskräfte sind enorm. "Altes Holz bricht nicht so schnell", hat einmal ein Chef zu mir gesagt und mich daran teilhaben lassen, dass er ringt, ob er mir die Position geben soll oder nicht. Er meinte das nicht despektierlich. Es wird viel ins Feld geführt, und das ist mitunter schwer auszuhalten: "So schmal wie sie ist, kann sie sich durchsetzen?" Gerade so als stünden wir auf der Boxbude auf dem Dom.

Es macht mich wütend. Aber ich sehe die Chance, dass sich die Dinge ändern. Der Mut muss sich für die Führungskraft lohnen. Dafür muss Personalentwicklung einen viel größeren Stellenwert in Verlagen einnehmen. Wir müssen die Personalentwicklung professionalisieren.

2. Es braucht Selbstkritik statt Selbstzufriedenheit.

"Leistet euer Medium genug, um fremden Alltag, fremde Kulturen, fremde Vorstellungen von der Welt weniger fremd zu machen?" Das war die Frage aus dem Buch; eigentlich könnte es unsere tägliche oder wöchentliche Leitfrage sein.

Vielfalt zeigt sich daran, wer mit am Konferenztisch sitzt, könnte man meinen. Doch das ist nur die vordergründige Antwort. Die Frage ist, ob diejenigen, die dort sitzen, auch eine Vielfalt an Meinungen abbilden, oder ob sie alle versucht sind, möglichst uniform und unternehmenskonform zu agieren. Es geht um Offenheit.

Denn genauso wie es Mut braucht, braucht es die Entschlossenheit, etwas ändern zu wollen. Daher beginnt Vielfalt mit einer Erkenntnis und dem Sinneswandel: So wie bislang, so geht es nicht weiter. Am Anfang steht die Haltung, das Problembewusstsein. Denn nur dann gibt es die nötige Konsequenz, um die Dinge wirklich zu ändern - und das ist mühsam genug.

Anlass zur Selbstkritik haben wir allemal. (Und Kritik ist etwas anderes als lamentieren.)

3. Kultureller Wandel ist unbequem.

In einem Führungskräftetraining bekam ich von einer Trainerin einmal den Ratschlag: "Lesen Sie sich Wissen an zu Fußball und Autos. Sonst wird man Sie nicht ernst nehmen." Ich frage mich eher, ob mich noch jemand ernst nehmen würde, wenn ich versuchte, über Fußball oder Autos zu schwadronieren.

Vielfalt bedeutet, dass Smalltalk sich verändert. Man kann mit mir über vieles reden; über manches rede ich gerne, über anderes nicht so gerne, aber immerhin halbwegs kundig. Von einem Gespräch mit mir über Fußball hat niemand etwas.

Das Beispiel aber zeigt: Vielfalt bedeutet, dass wir Routinen überwinden müssen, die uns so vertraut sind, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen. Gepflogenheiten, Selbstverständlichkeiten. All das ändert sich, wenn man nicht länger unter sich ist. Und mehr noch: Die Selbstverständlichkeiten werden infrage gestellt. Warum ist das eigentlich so? Muss das so sein? Und vor allem: Soll das so bleiben?

Diversity ist die Chance auf einen tiefgreifenden Unternehmenswandel, eine Inventur der Unternehmensroutinen. Und das macht sie nervig. Für beide. Für die Mehrheit, die sich ändern muss. Und für diejenigen, die hinzukommen.

Ich habe mir vor der Übernahme des Jobs die Frage gestellt: Will ich mir das antun? An keiner Stelle ging es dabei um die Inhalte, nicht um die Publizistik, nicht die Redaktion. Es ging um die Andersartigkeit. Darum, wie viel Kraft es wohl kosten würde, sich in diesem Umfeld zu bewegen. Es ist ein Lernprozess, für beide. Und ich glaube, man sollte ihn unternehmensseitig nicht unterschätzen: Es ist nicht damit getan, einfach ein paar Frauen oder ein paar Homosexuelle oder ein paar Menschen mit Migrationshintergrund einzustellen und zu meinen, damit sei die Arbeit erledigt.

Diversität verändert alle: die, die kommen; und die, die schon da sind. Beide brauchen dabei Unterstützung. Echte Vielfalt bedeutet für mich, sich den anderen zuzumuten mit dem, was man einbringen kann. Und für das Unternehmen bedeutet es, die Vielfalt als Chance zu sehen; nicht als etwas, das nivelliert werden muss. Wenn die 25-Jährige in der Redaktionskonferenz argumentiert wie der 50-Jährige, dann sollte uns das alarmieren und nicht als Indiz dafür dienen, wie schnell sie sich eingefunden hat in die Unternehmenskultur.

Die Wahrnehmungspsychologie hat schon in den Vierzigerjahren belegt, dass wir Menschen leichter vertrauen, die uns ähnlich sind. Hier liegt das Dilemma: Für die Rekrutierung bedeutet es, dass allzu oft Menschen eingestellt werden, die der Führungskraft ähnlich sind ("Der junge Kollege erinnert mich an mich selbst in jungen Jahren."). Für die Leser bedeutet es aber auch: Die Auswahl an Protagonisten und Perspektiven ist entscheidend für das Vertrauen, das Leser uns und unserer Berichterstattung entgegenbringen.

4. Kulturwandel ist eine Frage der Haltung.

Für den Kulturwandel braucht es keine großen Programme.

Es braucht den Willen und die Konsequenz, ihn umzusetzen. Die Kultur in einer Redaktion wird durch die Chefredaktionen und Ressortleitungen geprägt. Sie entscheiden über Umgang, Ton, Haltung, Breitbeinigkeit. Sexismus und Ignoranz äußern sich durch Sprache. Wir müssen diesen Punkten Aufmerksamkeit schenken, damit Vielfalt mehr ist als ein Feigenblatt, dem man durch vereinzelte Einstellungen versucht, gerecht zu werden.

5. Wir müssen es schon selbst machen.

Was wir ja ganz gut können, ist wehklagen. Aber die Frage muss sein: Was hält uns davon ab? Warum geht der Job angeblich nicht in Teilzeit? Welcher Halbsatz in der Konferenz war unter der Gürtellinie? Spreche ich den Kollegen darauf an?

Wir müssen dahin, wo es wehtut. Raus aus der redaktionellen Komfortzone. Wir können nicht alles so lassen und hoffen, dass einige wenige Neueinstellungen zum Wandel führen werden. Wir müssen arbeiten, wir können die Aufgabe nicht delegieren an neu einzustellende Kollegen - oder uns rausreden. À la: Wir würden ja, aber wir können ja niemanden einstellen. Oder: Wir stellen ein paar Leute ein und tun ansonsten möglichst wenig.

Wenn wir nicht den Boden bereiten, dann kann die Vielfalt nicht die Wirkung entfalten, die dringend notwendig ist. Mit anderen Worten: Erst wenn die Beine etwas weniger breit stehen, ist auch Platz für andere. Daran wird sich entscheiden, ob man wirklich bereit ist für den Wandel; daran wird man uns in den Chefredaktionen zu Recht messen.

6. Wir müssen früher anfangen.

Wir brauchen alternative Wege der Begabtenförderung. Wenn wir uns nur auf die Absolventen von Journalistenschulen und Journalismusstudiengängen konzentrieren, führt das nicht weiter: Denn diejenigen, die dort aufgenommen worden sind, sind auch schon "ausgesiebt".

Und das zeigt der Blick in die Geschichte: Die Frauen, die die ersten waren im Journalismus, hatten sehr oft keine gradlinigen, das heißt akademischen Biografien. Wir müssen neue Wege gehen und gezielt fördern.

7. Solange der Türke über den Türken berichtet, sind wir nicht am Ziel.

Sie alle kennen vermutlich das Phänomen: Je nach Randgruppe wird man zur Expertin einzelner Themen, ob man sich nun dafür interessiert oder nicht. Minderheitenexpertise. Im Fall von Frauen ist das wahlweise: Mode, Lifestyle, Kultur, Kinderbetreuung, Teilzeit, Schule, Betreuung kranker Eltern.

Es passieren zwei Dinge: Eine bestimmte Herkunft geht offenbar einher mit fachlicher Expertise in einem Bereich; was natürlich Humbug ist. Oft genug führt das dazu, dass Kollegen ein bestimmtes Themengebiet zugewiesen bekommen.

Zum anderen führt es zum Phänomen "eine ist nicht alle Frauen". Also der Frage in der Konferenz: Was sagen denn "die Frauen" dazu, "die Muslime" etc. Und auf einmal wird man qua Geschlecht, sexueller Orientierung, Glauben zum Sprecher einer Gruppe, was auch nicht funktioniert. Das ist keine Vielfalt, sondern das Klassensprecherphänomen, was notgedrungen schiefläuft.

Wenn der Türke nur über die Türken berichtet, ist auch das Diskriminierung. Diversität wäre es, wenn wir unterschiedliche Milieus unterschiedlich abbilden würden; wenn sich fachliche Expertise ergänzte.

8. Es ist nervig, aber nötig.

Kultureller Wandel ist damit ein bisschen wie Verhaltenstherapie: Wir müssen es üben, es wird uns vielleicht erst etwas akademisch und wenig intuitiv erscheinen, etwas holprig und anstrengend. Und dann, irgendwann, wird es normal. Und je mehr Vorbilder es gibt, desto einfacher wird es.

Und irgendwann, wenn die Therapie geglückt ist, ist es gerade so, als sei es nie anders gewesen.

9. Vielfalt braucht Schutz.

Die Digitalisierung ermöglicht den Dialog mit dem Leser. Ob wir Journalisten ihn bewusst initiieren oder nicht. Er ist einfach schon da. Das bedeutet für Redaktionsleiter eine besondere Verantwortung für alle, die nicht Mainstream sind.

Ich war im April in Perugia auf einem Panel zum Thema Hate Speech. In US-amerikanischen Redaktionen ist man bei dem Thema viel weiter als bei uns. Vielfalt braucht einen besonderen Schutz. Studien zeigen, dass Frauen und allen voran schwarze Journalistinnen überdurchschnittlich oft Opfer von Hate Speech werden, sodass Redaktionen den Kolleginnen inzwischen sogar dazu raten, in den sozialen Medien nicht präsent zu sein, beziehungsweise es vorkommt, dass Kolleginnen unter Pseudonym schreiben.

Wir haben eine Verantwortung für alle Kolleginnen und Kollegen, sie vor allem in Zeiten der Digitalisierung zu schützen und Redaktionen adäquat darauf vorzubereiten. Dort stehen wir erst ganz am Anfang.

10. Auf die blinden Flecken kommt es an.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, was besser wird, wenn wir diverser werden. Der Nutzen muss so plastisch werden wie nur möglich. Diversity braucht Ziele: Wie unterscheidet sich die Berichterstattung dann? Welche Arten von Artikeln wünschen wir uns? Welchen Ausdruck findet eine diversere Zusammensetzung der Redaktion im Blatt? Konkret: Woran messen wir den Erfolg und wie muss er beschaffen sein?

Schicken wir dezidiert Kolleginnen und Kollegen gemeinsam zu Interviews? Bitten wir Ressortleiter, darauf zu achten, dass Texte als Gemeinschaftsprodukt von Männern und Frauen entstehen? Und wenn dies nicht so ist: Machen wir es erklärungspflichtig, um beispielsweise Netzwerke und Seilschaften zu durchbrechen und einen Wissenstransfer zu ermöglichen?

Anders als anderen Branchen fällt es dem Journalismus häufig schwer, wissenschaftliche Untersuchungen mit in seinen Alltag einzubeziehen. Zum Beispiel Untersuchungen, welchen Textaufbau Frauen bevorzugen im Unterschied zu Männern. Stattdessen bewegen wir uns allzu oft auf dem Niveau der Lifestyle-Debatte: "Für die Frauen machen wir ein Stück über Handtaschen", "was Weiches".

Nicht Themen sind männlich oder weiblich - es geht um die Frage der Aufbereitung. Das heißt auch, dass wir eine Vielfalt an Formen und Angängen im Blatt benötigen, divers sind in unserer publizistischen Erscheinung.

Wir haben Diversität erreicht,

...wenn sich niemand mehr wünschen muss, jemand anders zu sein.

...wenn meine Kollegen nicht fürchten müssen, mit mir über Fußball zu sprechen.

...wenn wir akzeptieren, dass Relevanz nie im Singular kommt, es immer verschiedene Perspektiven gibt.

...wenn wir bereit sind, unsere Breitbeinigkeit (und sie ist keine Frage des Geschlechts) über Bord zu werfen, sie ist so Achtziger.

Diversität bedeutet, dass wir nicht versuchen, Unterschiede bestmöglich zu kaschieren oder zu nivellieren, sondern sie zu kultivieren und zu zelebrieren als unsere Stärke. Wenn verschiedene Leute auf die Dinge schauen, dann sehen sie mehr. Wie mit allen Veränderungen mutet das zu Beginn etwas mühsam an, aber es führt kein Weg daran vorbei.

Dieser Text wurde in der August-Ausgabe der Zeitschrift "Journalist" veröffentlicht. Mehr dazu finden Sie hier bei Facebook .

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten