
2021 winkt - Party!
Foto: shironosov / Getty Images / iStockphotoAls ob das nötig gewesen wäre. Auf den letzten Metern hat mir 2020 noch mal so richtig den Finger gezeigt, mir klargemacht, woran es gefehlt hat in diesem unseligen Jahr.
Kurz vor Silvester fuhr der Hexenschuss in mich. Eine winzige Bewegung hatte gereicht, um mich von einer leidlich funktionierenden 54-Jährigen in eine fiepende Greisin zu verwandeln. Ich konnte nicht mehr laufen, nicht sitzen und nur unter Schmerzen liegen. Ach ja, stehen konnte ich noch. Wenn ich es schaffte, mich aufzurichten.
Wer Erfahrung hat mit akuter Lumbalgie – geradezu groovy auch Lumbago genannt – der weiß, wie sich diese Schmerzen anfühlen. Etwa siebenmal am Tag traf mich der Blitz. Ich fühlte mich wie der Mann aus den Stummfilmsequenzen in »Benjamin Button«, mit dem Unterschied, dass ich in einem Tonfilm lebte und die Einschläge sich nicht auf ein ganzes Leben, sondern 24 Stunden verteilten.
Wenn die Hexe zustieß, jaulte ich. Mein Sohn fand das so erschütternd, dass er sich dauerhaft ins obere Stockwerk verzog. Meine Tochter brachte mir für mich unerreichbare Dinge, half mir in Hosen und Strümpfe, band mir die Schuhe zu. Extrem demütigend, diese Blitzalterung.
Mein Mann lief als Notfallstütze neben mir, als ich versuchte, spazieren zu gehen, weil im Internet stand, man solle unbedingt in Bewegung bleiben. Ich tapste mit kurzen Parkinson-Schritten 20 Meter weit, dann wurde mir übel und ich kehrte ins Haus zurück, um ein bisschen im Wohnzimmer vorm Ofen herumzustehen. Dort atmete ich aus Versehen etwas Asche ein und musste niesen. Kurze Erklärung für die sportbegeisterten, disziplinierten und mithin vermutlich rückenschmerzfreien Leser: Niesen ist bei Hexenschuss so eine Art Wirkverstärker, ein Lumbago-Booster, der einen fast in Ohnmacht fallen lässt.
Ich suchte Trost. »Der Papst hat Ischias«, las ich in der Zeitung und war fast versöhnt mit meinem Schicksal. Dann fiel mir auf, dass der Pontifex 30 Jahre älter ist als ich, also 84.
Hunger und Kälte sind schlimmer
Dabei hatte ich mich doch gerade auf einen Neuanfang eingestellt. War in Startposition gegangen für mehr Sport, mehr frische Luft, weniger Bildschirmzeit 2021. Stattdessen wurde ich mal wieder ausgebremst. Verlief das Leben seit Monaten auf einer schwammigen Nulllinie, crashte es jetzt in den Minusbereich der maximalen Stagnation.
Neun Monate lang war ich mit dem verdammten Virus schwanger gegangen – ich wurde dicker, bewegte mich weniger, schnaufte, weil ich kaum Luft kriegte durch die Maske. Ich hatte versucht, jeden Tag fünf Kilometer zu laufen, doch irgendwann war die Aussicht, sich eine Stunde lang durch eine Masse keuchender Jogger und maskenfreier Passanten zu schlängeln, so gruselig, dass ich es einfach bleiben ließ.
In der Jugend erlebt man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden Sie hier.
Mental habe ich die Corona-Zeit ganz gut überstanden, weil ich Eltern hatte, die ihre Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg fest in unserem Familiengedächtnis verankert haben. Ihr Worst-Case-Szenario war, an der Front oder in Gefangenschaft zu sterben, im Bunker zu ersticken, die auf der Flucht verloren gegangene kleine Schwester nie wiederzusehen. »Hunger und Kälte sind das Schlimmste«, hatte meine Mutter uns immer eingebläut. Mein Mantra 2020 lautete deshalb: »Bei uns bullert der Ofen, wir haben genug zu essen, die Familie ist da, alles okay.«
Wenn man sich selbst kleiner macht
Demut ist eine gute Sache. Man macht Abstriche, schraubt bestenfalls seine Ansprüche zurück, ohne seine Träume zu verraten. Meist ist es keine intellektuelle Entscheidung, demütig zu sein. Das Außen oder der Körper oder beide lehren uns Bescheidenheit und Akzeptanz.
Demut hat mit Dienen zu tun. Esoteriker würden mir angesichts meiner Lumbalgie vielleicht meine inhärente Unfähigkeit zur Verneigung, zum Buckeln, attestieren.
Wer eine Demutsgeste vollzieht, will den Frieden wahren und Aggressionen vorbeugen. Er macht sich kleiner, als er ist. Haben wir nicht genau das seit März 2020 getan? Unsere Welt ist geschrumpft, die eigenen vier Wände kamen immer näher, wir mussten kleiner werden, um nicht an die Decke zu stoßen. Dabei kann man sich schon mal verrenken und aus dem Gleichgewicht geraten.
39 Jahre Schmerz
»Krankheit ist der Ort, wo man lernt«, schrieb der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert. Der Mann wusste, wovon er sprach – er hatte Lähmungserscheinungen an den Beinen und soll keinen Tag seines nur 39 Jahre währenden Lebens ohne Schmerzen zugebracht haben. Seiner Hinfälligkeit begegnete Pascal mit einer radikalen Frömmigkeit, die ihn in den Augen späterer Denker deklassierte, weil er strenge religiöse Moralität mit mathematischer Rationalität verknüpfte.
Im 20. Jahrhundert dann beriefen sich Psychosomatiker auf seinen zeitlosen Aphorismus, der illustriert, dass jede Erkrankung auch einen Lernprozess oder eine Erkenntnis mit sich bringt.
Eine plötzliche körperliche Hinfälligkeit kann als demütigend empfunden werden, aber in der Folge auch heilsame Demut erzeugen. Ich kämpfe mich gerade Schritt für Schritt aus meiner Buckelhaltung heraus und kann schon wieder schlechte Witze über mein Gejaule reißen.
Heute bin ich einen Kilometer den Feldweg entlanggelaufen und war stolz auf mich. Ich kann wieder eine Teekanne anheben, hurra. In grotesker, aber schmerzfreier Haltung die Katze streicheln. Wie direkt und unmissverständlich uns der Körper Demut lehrt! Fast wie die Pandemie, könnte man sagen.
Glückspläne
Und deshalb komm ich nach diesem peinlichen Jammerausreißer auch endlich zur Sache: Es sind nur noch wenige Monate, dann können viele von uns damit rechnen, geimpft zu werden. Ich bin gern bereit, weiter eine Maske zu tragen, aber die Aussicht, dies als Vorerkrankte ohne Beklommenheit und Angst vor der Intensivstation zu tun, ist so großartig, dass sich selbst bei einer alten Zynikerin wie mir Optimismus einstellt.
Ja, die Regierung hat im Deal um Impfstoffe versagt. Ja, es wird zu langsam geimpft. Dennoch: Wir gehen mit völlig anderen Vorzeichen ins neue Jahr. Zeit für ein wenig positives Wunschdenken, oder?
Was also sind die ersten drei Dinge, die Sie im neuen Jahr tun werden, sobald Sie Impfschutz haben?
Meine Prä-Lumbago-Antworten lauteten:
1. Eine gefährliche Fernreise in ein seltsames Land mit merkwürdigen Gesprächspartnern unternehmen
2. Mit meiner Tochter eine Nacht lang in einem House-Klub durchtanzen
3. Meine liebsten Freunde um eine riesige Tafel versammeln und sie umarmen, bis sie anfangen, mir nachsichtig mit Abstand auf die Schulter zu patten
Die Post-Lumbago-Liste wurde leicht modifiziert:
1. Mit dem Rad an meinen Lieblingsostseestrand fahren
2. Meiner Tochter zwei Stunden lang beim Tanzen in einem House-Klub zuschauen und mich freuen, dass ich dazu mit dem Fuß wippen kann
3. Meine liebsten Freunde um eine riesige Tafel versammeln und sie umarmen, bis sie anfangen, mir nachsichtig mit Abstand auf die Schulter zu patten
Und was sind Ihre Pläne? Ich freue mich auf Ihr Feedback im Forum!