Juno Vai

Corona-Tod in der Familie Das Virus hat kein Gewissen

Einen geliebten Menschen an Covid-19 zu verlieren, ist schrecklich. Aber wie geht man damit um, wenn man ihn selbst angesteckt hat? Über Corona und Schuld. Und die Frage, wie verantwortungsvoll wir sein wollen.
Foto: Mosuno / Stocksy United

Wir haben neulich meinen Schwiegervater begraben, auf einem kleinen Friedhof in der Provinz. Es war ein eiskalter und diesiger Tag, die Novemberfeuchte hing schwer in den Mänteln der Trauergäste.

Nur die engsten Angehörigen waren gekommen, in versprengten Corona-Kohorten folgten sie dem Sarg. Alle trugen schwarze Kleidung und grellweiße FFP2-Masken, wir trauerten vermummt.

Günter hatte viele Kinder und etliche Enkelkinder, ein langes, arbeitsreiches Leben, dessen Tragödien er mit Gottvertrauen und Pragmatismus gemeistert hat. Bis zuletzt, mit Ende 80, blieb er neugierig. Er hatte sich seinen scharfen Blick auf Menschen und Dinge bewahrt, sein verschmitztes Lächeln, seine Bescheidenheit, die es ihm erlaubte, trotz besseren Wissens nie belehrend aufzutreten.

Und dann kam Corona

Günters Tod traf uns nicht überraschend. Er hatte schwere gesundheitliche Probleme und nach mehreren Schlaganfällen ein wenig die Lust am Leben verloren. Dennoch war es ein Schock, als mein Mann und ich erfuhren, dass sein Bruder den Vater bei einem mehrtägigen Besuch mit dem Coronavirus infiziert hatte. Günter entwickelte eine Lungenentzündung und musste im Krankenhaus beatmet werden.

Ich reagierte empört. Wie konnte der Sohn das Leben des alten Mannes durch eine solche Fahrlässigkeit aufs Spiel setzen? Die zweite Corona-Welle lief bereits, die Zahl der Neuinfektionen stieg – und damit bekanntermaßen auch das Risiko.

Mein Mann war besorgt und traurig, aber fernab jeder Schuldzuweisung. Dasselbe galt für seine Geschwister, die sich abwechselnd um den Erkrankten kümmerten, ohne Fragen zu stellen und Gewissenskonflikte zu befeuern. Günter selbst habe immer gesagt, Corona sei ihm egal, jeder persönliche Kontakt zur Familie wichtiger als die Angst vor dem Virus, sagten sie. Es gab also eine Art exkulpierenden Pakt in der Familie.

Moralische Dilemmata

Mich aber plagten Gewissensfragen. Natürlich hatte mein Schwager nicht absichtlich gehandelt, denn er wusste zum Übertragungszeitpunkt gar nicht, dass er Corona-positiv war. Er hatte das Beste gewollt. Und dann war das Schlimmstmögliche passiert.

Ausgangspunkt war ein moralisches Dilemma, mit dem sich derzeit viele konfrontiert sehen: Auf der einen Seite hegte er den Wunsch, Günter nah zu sein und sich um ihn zu kümmern, ihn vor einer Isolation in der Coronakrise zu bewahren. Auf der anderen Seite stand die rationale Erkenntnis, dass ein ausgedehnter Besuch ohne Wahrung der Abstandsregeln riskant war. Eine Entscheidung zwischen Liebe und Verstand, auf den ersten Blick.

Aber eben nicht nur. Hätte der Sohn nicht einen Mittelweg wählen können, sich in einer Pension einmieten und Günter mit Maske und etwas Abstand mehrmals für kurze Zeit besuchen können, um das Übertragungsrisiko zu mindern?

Die Frage ist ungerecht, denn in Wahrheit weiß ich nichts über die Motive für den folgenschweren Besuch. Ich traue mich auch nicht, meinen Schwager danach zu fragen, weil ich Angst habe, ihn in Agonie zu versetzen.

Die Vermessenheit der Schuldfrage

Aber ich stelle mir vor, wie ich selbst mit der Erfahrung umgehen würde, einem geliebten Menschen den Tod ins Haus gebracht zu haben. Vermutlich würde ich unter der Last zusammenbrechen. Denn obwohl mein Schwiegervater sein Placet für einen lockeren Umgang mit der Corona-Gefahr gegeben hat, bleibt die schreckliche Vermutung, dass er an den Covid-19-Folgen am Ende heftiger und länger gelitten hat als an seinen Vorerkrankungen.

Aber wer bin ich, überhaupt die Schuldfrage anzusprechen? Jahrhundertelang haben Rechtsgelehrte, Philosophinnen und Theologen sich an dem Begriff abgearbeitet. Für die einen ist das Gewissen, die Fähigkeit, überhaupt Schuld zu empfinden, der göttliche Funken im Menschen.

Andere, wie der Philosoph Arthur Schopenhauer, werfen das Individuum auf seine Eigenverantwortung zurück: »Will man den Grad von Schuld, mit dem unser Dasein selbst behaftet ist, ermessen, so blicke man auf das Leiden, welches mit demselben verknüpft ist. Jeder große Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, was wir verdienen: Denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten«, schreibt er in seinem Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung«.

Schuldgefühle als ansteckende Krankheit

Mein Mann und ich kommen aus protestantischen Elternhäusern, wir haben ein gewisses Talent für schlechtes Gewissen. Im Christentum muss der Sohn Gottes erst am Kreuz sterben und die Schuld der Menschen auf sich nehmen, um sie zu erlösen. Da fühlt man sich gleich doppelt schuldig, oder? So wie die christliche Religion Gewissensfragen aufwirft, tröstet sie mit Heilsversprechen, der Vergebung durch Gott. Aber nicht jeder erfährt diese.

Als Konfirmandin habe ich jeden Sonntag das Vaterunser gebetet, »und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«. Die Zehn Gebote, der erhobene Zeigefinger des Pfarrers und der gequält-vorwurfsvolle Gesichtsausdruck der Religionslehrerin waren wirkungsmächtig: Ich weiß noch, wie ich mal mit feucht-klebrigen Kinderfingern im Kaufhaus ein Barbie-Kleid geklaut habe und danach wochenlang abends nicht ohne Licht einschlafen konnte, weil ich mich so schuldig fühlte. Erst als ich meiner Mutter alles beichtete und Reue bekundete, beruhigte sich mein Gewissen.

Als Erwachsene versuchte ich mich freizumachen von einer ganzen Reihe zwar anders gelagerter, aber ebenso düsterer Schuldgefühle. Ich lernte, dass dem Buddhismus Schuld und Vergebung, wie man sie aus den abrahamitischen Religionen kennt, fremd sind. Hier wird Reue als stimulierend begriffen, Schuldgefühle hingegen als Leid, das es zu vermeiden gilt.

Für Sigmund Freud waren Schuldgefühle im strengen Über-Ich verortet, eine Pathologie, die durch Therapie geheilt werden könne. Auch der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Arnold Kaufmann nannte sie eine »ansteckende Krankheit, die die Befallenen schädigt und die in ihrer Nähe Lebenden gefährdet«. Die Befreiung von Schuld ist demnach der erste Schritt zur Autonomie des Menschen.

Eine verführerische Vision. Aber sobald es konkret um Leben und Tod geht, sind solche Theorien nur noch akademisches Geplänkel, Schuldzuweisungen und -gefühle plötzlich wieder so präsent wie in der Kindheit.

Die Pandemie wirft Gewissensfragen auf, die jede und jeder nur für sich selbst beantworten kann. Niemand kann uns letztlich daran hindern, unsere Liebsten an Weihnachten zu besuchen. Aber: Um Reue zu vermeiden, reicht es manchmal, etwas nicht zu tun.

Anmerkung: Um die Privatsphäre der Autorin zu schützen, haben wir ihren Namen und einige wenige Details der Familiengeschichte verändert.

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