Distanzunterricht »Wenn ich ungeduldig werde, funktioniert hier gar nichts mehr«
Das ist Johann, 7 Jahre alt, 2. Klasse. Er hat gerade Schule: Englischunterricht.
Sein Kinderzimmer ist jetzt auch sein Klassenraum und sein Pausenhof. Seit Wochen läuft der Kontakt zu seinen Lehrern und seinen Schulkameraden über den Computer.
Johann Kalkum / Grundschüler
»I am happy.«
»Wir haben so eine App, da können wir uns anrufen bei der Videokonferenz, die heißt Sdui und bei Sdui klappt noch nicht das ganze Internet. Deswegen ist alles Durcheinander immer.«
So wie Johann aus Solingen in Nordrhein-Westfalen werden in Deutschland zur Zeit über 10 Millionen Kinder und Jugendliche im Distanzunterricht unterrichtet. Lernen ohne Schule – für Johanns Vater Moritz Kalkum aus Solingen bedeutet das, heute erstmal zur Schule seiner Kinder zu fahren, um Arbeitsaufträge für die älteste Tochter abzuholen.
Moritz Kalkum / dreifacher Familienvater
»Meine Frau und ich sind beide selbstständig, das heißt wir können uns die Zeit ganz gut selbst einteilen. Aber man muss auch ganz ehrlich sagen, einen Großteil fängt meine Frau auf, die ist als Designerin selbständig. Sie kann im Moment viele Aufträge nicht abarbeiten oder muss sie sogar ablehnen. Das ist keine gute Situation. Das kann man mal ein paar Wochen machen, aber auf Dauer wird das auch schwierig.«
So sehr die Schulen an die Selbständigkeit der Kinder appellieren, am Ende gehen die vielen Mails an die Eltern, die das Material dann persönlich abholen oder ausdrucken, weil das Schulsystem in Deutschland noch nicht ausreichend digitalisiert ist. In der Schule von Moritz Kalkums Tochter Rosa liegen die Päckchen für die Viertklässler schon bereit.
»So, das ist für die Rosa.«
»Wunderbar. Ich weiß Bescheid. Frau Micks hatte ja geschrieben.«
»Hier ist noch eine kleine Aufmerksamkeit.«
»Das ist lieb. Vielen Dank.«
»Schöne Grüße.«
»Ciao.«
Für Moritz Kalkum geht es jetzt schnell nach Hause. Dort hat seine Frau Sophie schon mit dem Heimunterricht begonnen. Die 37jährige Mutter versucht dem Familienalltag eine neue Tagesstruktur zu geben. Schule, Kita, Sportvereine, alles ist momentan geschlossen.
Sophie Kalkum / Mutter
»Rosi, wir haben jetzt gleich zwanzig vor zehn. Um zehn Uhr hast du eine Videokonferenz. Das Laptop lädt, den Link haben wir noch nicht bekommen. Wahrscheinlich hat die der Papa bekommen. Die haben mich aus dem E-Mail-Verteiler herausgenommen. Aber bis dahin machst du noch den alten Wochenplan. Das gucken wir uns dann nachher ganz in Ruhe an.«
»Die Motivation ist natürlich am eigenen Schreibtisch ein bisschen schwierig. Ich bin vor allem Motivatorin hier und muss halt schauen, dass das immer funktioniert. Und dazu haben wir noch den Kleinsten hier, der eigentlich Kindergartenkind ist, der muss halt auch versorgt werden. Das ist schon herausfordernd manchmal.«
Gerade für Pablo, mit fünf Jahren der Jüngste in der Familie, sind die Homeschooling-Vormittage seiner Geschwister oft langweilig. Heute früh kann sich Mama Sophie nicht viel um ihn kümmern, weil die Schulsoftware der Geschwister nicht funktioniert und sie einen Link organisieren muss, mit dem Tochter Rosa den Zugang zum Unterricht erhält.
Sophie Kalkum / Mutter
»Hallo Schatz, sag' mal, wie war das jetzt mit Teams mit dem Zugang zu Rosas Meeting? Kam das per Mail, hast du eine Mail bekommen? Ich habe keine bekommen und Sdui ist natürlich down.«
»Mama, ich brauche Hilfe. Da steht, bilde einen Satz mit Nomen. Ich weiß, was Nomen sind, aber da steht noch sowas drunter.«
»Ich bin jetzt ganz da rausgeflogen.«
Sophie Kalkum / Mutter
»Ich würde mir wünschen, dass das halt unser gesamtes Netz besser funktioniert, dass die Server besser ausgewählt werden, also ständig bricht irgendeine App ab, dann wird ständig irgendetwas über den Haufen geworfen, dann plötzlich wird mit Teams gearbeitet, vorher mit einer schuleigenen App, die extra angeschafft worden ist und dann wird mittendrin gemerkt, die Server Kapazitäten reichen nicht. Wo ich mich dann auch frage, wo ist denn das Problem? Die zur Verfügung zu stellen, wenn man merkt jetzt ab heute ist Homeschooling angesagt.«
Distanzunterricht ist für viele gut verdienende Familien schon eine Herausforderung. Für Familien in sozialen Brennpunkten ist es ein Riesenproblem. Der Leiter des Kinderhilfprojektes Arche in Hamburg befürchtet, dass die Schulschließungen und das Homeschooling bei wirtschaftlich schwach gestellten Kindern tiefe Spuren hinterlässt.
Tobias Lucht / Leiter Kinderhilfsprojekt Arche in Hamburg
»Es ist natürlich allgemein für alle Familien, glaube ich, gerade schwierig, aber gerade hier in den Brennpunkten. Wir haben viele alleinerziehende Mütter, wo schon auch allgemein die Atmosphäre in den Familien angespannt ist, man viel aufeinander hockt, auch bei dem Wetter nicht viel raus kann. Und im schlimmsten Fall erleben wir natürlich auch Gewalt in Familien. Kurz vor Weihnachten hatten wir leider auch zwei Fälle, wo Kinder aus der Familie raus mussten. Und da ist es natürlich wichtig, das überhaupt zu erkennen. Und dazu müssen unsere Häuser auch offenbleiben. Und aus meiner Sicht auch Schulen und soziale Einrichtungen, die Kinder wirklich sehen, damit sie einschätzen können, ist ein Kind gefährdet und spielt Kinderschutz eine Rolle.«
Im Gegensatz zum ersten Lockdown musste das Hilfsprojekt diesmal nicht schließen. Im Moment werden hier täglich rund hundert Kinder in einem ausgeklügeltem Schichtsystem betreut. Es gibt Spielangebote und Platz zum Toben. Und das wichtigste für die Kinder: Ansprechpartner, die sie kennen und denen sie vertrauen.
Tobias Lucht / Leiter Kinderhilfsprojekt Arche in Hamburg
»Ein neunjähriges Mädchen hat sich uns gegenüber geöffnet und von Gewalt zu Hause, Gewalt der Mutter berichtet. Das hat sich dann auch bestätigt, weil wir am Rücken Hämatome gesehen haben. Und bevor sich ein 9jähriges Kind öffnet, das erleben wir eigentlich fast nie, dass Kinder darüber sprechen. Das dauert sehr lange und da muss es doch schon sehr schlimm sein. Das war jetzt kurz vor Weihnachten. Das Kind hatte sich dann auch zurechtgelegt bei welchen Freundinnen wird es über die Feiertage übernachten, um nicht zu Hause sein zu müssen. Und da muss ich sagen, das wäre uns nicht aufgefallen, wenn wir mit unserem Team und die Schule nicht drauf geguckt hätten. Und solche Fälle gibt es sicher auch noch in anderen Familien, wo jetzt nochmal weniger Menschen hinschauen.«
Hinzu kommt: Das Lernen ist in dieser Situation viel schwieriger. Die Arche bietet eine Hausaufgabenbetreuung und wenn nötig auch Nachhilfe an. Wie für die zehnjährige Ainour. Sie kam mit ihrer Familie vor fünf Jahren aus Syrien nach Deutschland. Die Viertklässlerin hat sieben Geschwister. Ab Sommer möchte Ainour ein Hamburger Gymnasium besuchen.
Ainour Mashkali / Schülerin
»Es ist sehr schwer, weil wir eine sehr große Familie sind. Ich gehe halt auch in die Notbetreuung, weil viele von uns haben auch Videokonferenzen mit den Lehrern. Wir verpassen sehr viel Lernstoff in der schwierigen Zeit. Ich bin jetzt 4. Klasse, da wird auch entschieden, wohin ich gehe. Und jetzt können die Lehrer das nicht so gut betrachten, wie wir arbeiten.«
Auch ihre 11jährige Schwester Amanous kommt zum Lernen oft hierher. Sie besucht die sechste Klasse eines Hamburger Gymnasiums und möchte einmal Zahnärztin werden. Doch wie sollen Kinder am digitalen Heimunterricht teilnehmen, wenn alles dafür fehlt: Computer, Drucker, Scanner?
Amanous Mashkali / Schülerin
»In meiner Schule hat man Leih-Ipads bekommen und ich habe mir da eins ausgeliehen und mein Bruder auch. Und eins haben wir hier bei der Arche bekommen. Zwei meiner anderen Geschwister gehen zur Schule, weil wir auch nicht so viel Platz haben. Das Haus muss ruhig sein, damit wir die Lehrer verstehen.«
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen befand im Oktober 2020, dass der Schulträger eine kostenfreie Leihmöglichkeit schaffen muss, wenn sich Eltern einen Computer oder Ipad nicht leisten können. Doch nicht alle Schulen haben entsprechend viele Geräte, um ihre Schüler damit auszustatten. Bildungsgerechtigkeit bleibt beim Homeschooling für viele Kinder unerreichbar.
Tobias Lucht / Leiter Kinderhilfsprojekt Arche in Hamburg
»Im Lernbereich macht mir große Sorgen, dass viele Kinder auch schildern, dass sie sich abgehängt fühlen, weil eigentlich auch die Defizite aus dem ersten Lockdown noch nicht aufgearbeitet waren. Jetzt kommt nochmal die zweite Zeit dazu, wo sie auf sich gestellt sind.«
Zurück in Solingen versucht Familie Kalkum die Videokonferenz für Tochter Rosa einzurichten. Da die App, die die Schule benutzt, wegen Überlastung immer noch down ist, kommt der rettende Link per Mail. Die hat Papa Moritz bekommen, der eigentlich ein Stockwerk tiefer in seiner Firma arbeiten wollte.
»Mama.«
Moritz Kalkum / Vater
»Pablo warte mal, wir machen gerade die Videokonferenz an. Wir kommen gleich.«
Sophie Kalkum / Mutter
»Wenn die einmal in der Videokonferenz sind, dann hat man zumindest einen Moment zum Durchatmen. Die Zeit vorher ist immer lustig.«
Zwei Minuten vor zehn ist alles installiert und Rosa hat es pünktlich in den Unterricht geschafft. Nun braucht der 7jährige Johann Hilfe.
Sophie Kalkum / Mutter
»Was ist denn die Einzahl?»
Johann Kalkum / Grundschüler
»Nicht Bäume, sondern Baum.«
»Genau, oder bei Kleider, da ist Kleid die Einzahl. Dann sollst du mit jedem Namenwort einen Satz bilden. Nur hierhin. Wenn ich jetzt ungeduldig werde, dann funktioniert hier gar nichts mehr. So, nächstes Wort.«
Sophie Kalkum / Mutter
»Ich habe schon den Luxus hier mir den Vormittag dafür zu nehmen und ich bin trotzdem völlig zerrissen. Mich ärgert das total, dass innerhalb von 10 Monaten das nicht auf die Beine gestellt werden konnte. Es ist wirklich ein Witz. Es hat sich herausgestellt, dass wir ein extrem gutes Gesundheitssystem haben, aber ein katastrophales Bildungssystem. Das ist wirklich schlimm.«
Bis Mitte Februar soll nach dem Beschluss von Bund und Ländern der Distanzunterricht verlängert werden. Damit geht die tägliche Belastungsprobe »Homeschooling« für Lehrer, Eltern und ihre Kinder weiter.