Alter! Die Midlife-Kolumne Zeit zu trauern

Die Coronakrise hat die Welt eingefroren - auch die Trauer um die Opfer. Für den New Yorker SPIEGEL-Korrespondenten Marc Pitzke keine neue Erfahrung: Dem Tod ist er immer lieber ausgewichen.
Kolumnist Marc Pitzke

Kolumnist Marc Pitzke

Foto: Arturo Stanig/ DER SPIEGEL

Zu historischen Anlässen lässt sich die "New York Times" für ihre Titelseite gern etwas Besonderes einfallen. Am Sonntag war es ein Bild des Todes.

Das gesamte Cover sowie die drei folgenden Zeitungsseiten bestanden einzig aus Namen nebst kurzen Angaben zur Person. Insgesamt 1000  dicht an dicht gedruckte Namen, repräsentativ für 100.000 US-Todesopfer des Coronavirus - eine Marke, die die USA in diesen Tagen überschreiten werden.

Die Schlagzeile: "Ein unermesslicher Verlust".

Tausend Namen: Corona-Cover der "New York Times"

Tausend Namen: Corona-Cover der "New York Times"

Foto: DER SPIEGEL/ NYT

Einer dieser 100.000 war ein Bekannter. Giovanni hatte wochenlang mit Covid-19 gerungen, zuletzt im Krankenhaus. Anfangs protokollierte er seinen Leidensweg auf Facebook, mal mit schonungslosen Videos, mal mit optimistischen Durchhalteparolen. Am Mittwoch verlor er seinen Kampf. Er war 52.

Sein Tod traf mich unerwartet hart, obwohl wir uns nicht besonders gut kannten. Fast zum ersten Mal seit Beginn dieser Pandemie fühlte ich etwas. Nicht nur etwas: Schmerz, Wut, Furcht, Hilflosigkeit.

Abgesehen davon habe ich bisher seltsam wenig gespürt. Womit ich wohl kaum der Einzige bin. Vielen hier fällt es schwer, die Corona-Toten zu betrauern. Nicht einmal der US-Präsident ist dazu in der Lage - oder willens: Donald Trump verbrachte das Wochenende lieber mit Golfen und Twitter-Tiraden. Selbst am Feiertagsmontag, als Amerika zum Memorial Day seiner Gefallenen gedachte, rang er sich nur krude Plattitüden ab: "Happy Memorial Day!"

Dabei gibt es so viel zu betrauern. Die Opfer. Den Alltag und wie er einmal war. Die Unschuld der Vergangenheit. Unseren bisherigen Way of Life. Doch das Ausmaß der Pandemie ist einfach zu groß, zu abstrakt. Unermesslich.

Ein Bekannter schrieb, ihn erinnere das an die Aidskrise der Achtzigerjahre. Und zwar an den vergleichbaren Tag, als in den USA 100.000 Aidsfälle vermeldet wurden. Am 1. Juli 1989 war das: Viele Betroffene würden "angesichts der stetig wachsenden Zahlen desensibilisiert", schrieb der Journalist Cliff O'Neill damals. "Weshalb sie oft schwer zu verstehen oder zu akzeptieren sind." So, wie es früher fast nur den Schwulen ging, geht es heute der ganzen Welt.

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Bei mir kommt zudem ein lebenslanger Unmut - oder besser eine Angst - hinzu, mich mit dem Tod und allem, was damit zu tun hat, direkt zu befassen. Erst neulich, als ich meine euphemistisch so benannte Midlife-Phase erreichte, begann dieser Lernprozess, gegen meinen Willen. Was ist "Tod"? Was kommt danach? Uralte Fragen, auf die ich keine Antworten habe.

Die Pandemie hat diesen Lernprozess nun beschleunigt - ein Speeddate mit dem Sensenmann, so fühlt es sich jedenfalls an.

Ein Speeddate, das ich lange vermeiden konnte oder es verleugnete, als es nicht mehr anders ging. Mein erster direkter Kontakt mit dem Tod war eine Bestattung in Kingston, einem Neuengland-Ort, wo ich als Austauschschüler an der Highschool war und Amerikas Rituale kennenlernen durfte. Ein offener Sarg, so etwas hatte ich noch nie gesehen.

Mit dem Tod konfrontiert

Jahre später nahm sich jemand, der mir sehr nahe stand, das Leben. Die Teilnahme an der Beerdigung blieb mir verwehrt, ich ertränkte meine Trauer in Bier und Arbeit und einem transatlantischen Ortswechsel. Ein Freund empfahl das Buch "When Things Fall Apart" der buddhistischen Nonne Pema Chödrön, ein Bestseller in US-Selbsthilfekreisen. Trauer, schreibt sie, brauche genauso viel Platz wie Freude. Ich hatte nie genug Platz für beides. Entweder oder.

Obwohl mich auch mein Journalistenleben mit dem Tod konfrontiert hat. Ich erlebte die 9/11-Anschläge in New York City mit, sah nach dem Hurrikan "Katrina" Leichen im Brackwasser treiben, begleitete Waisen nach dem Erdbeben 2010 in Haiti. Meist versteckte ich meine Emotionen hinter dem Notizblock oder der Kamera. Ich konnte sie mir nur begreifbar machen, indem ich über die Emotionen anderer schrieb.

Nach 9/11 versanken die ganzen USA in wochenlanger Nationaltrauer. Diesmal nicht. Politisch wie physisch fehlt das Gemeinschaftsgefühl. Die Krise hält uns weiter auf Distanz.

Neue Trauerrituale

Der Respekt vor dem Lebensende, so kommt es mir vor, war hier zuletzt sowieso immer mehr geschrumpft. Der Tod schien schon lange nur ein Kollateralschaden von Waffenwahn und Rassismus, eine in vielen (aber immer weniger) US-Bundesstaaten akzeptierte Bestrafung für Schwerkriminelle, ein Cliffhanger in TV-Serien. Die sozialen Medien haben Beileid und Trauer zu Tränen-Emojis reduziert, zu beiläufigen Klicks, zum deplatzierten "Gefällt mir".

Corona erzwingt nun noch einmal ganz neue Rituale. Das Mount Sinai Hospital in Manhattan setzt einen Roboter ein, damit Familien mit Sterbenden kommunizieren können, ohne am Sterbebett zu sein. Begräbnisse finden virtuell statt, per Videokonferenz. Ein guter Freund von mir konnte nicht richtig Abschied nehmen von seinem Vater, der im April im Pflegeheim an Covid-19 gestorben war: Bei der Beisetzung auf dem Friedhof winkten die Hinterbliebenen aus dem Autofenster zum Grab.

"Die Pandemie hat alles angehalten, selbst Diegos Beerdigung", schreibt die Veteranin Kelsey Baker , deren Partner Diego Pongo, ein Marineinfanterist, im März im Irak erschossen worden war. Pongos Leiche ist auf dem Luftwaffenstützpunkt Dover in Delaware zwischengelagert, bis er zum Nationalfriedhof Arlington gebracht werden kann, zwei Autostunden entfernt. Die Zwangspause, fügt Baker hinzu, habe ihr damit aber auch ein Geschenk gemacht: "Die Chance, noch ein bisschen länger in einer Welt mit Diego zu leben."

Die Gedenkfeier für meinen Bekannten Giovanni wird wohl erst 2021 stattfinden. Bis dahin wird Corona hoffentlich "history" sein - und ich etwas besser gelernt haben, wie man trauert, ohne zu flüchten.

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