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Menschen mit Behinderungen in der Coronakrise "Ich habe schon eine doppelte Lungenentzündung überlebt"
Für Kinder mit Behinderungen und ihre Familien ist das Leben in Corona-Zeiten besonders schwer. Viele Hilfen, die im Alltag die Angehörigen entlasten, fallen weg. Wichtige Therapien sind ausgesetzt. Und oft gehören die Kinder aufgrund von Vorerkrankungen zur Risikogruppe und müssen besonders geschützt werden. Eine Herausforderung für Eltern, Homeoffice und Pflege, Homeschooling und Betreuung miteinander zu verbinden. Eine mühsam aufgebaute Normalität gerät ins Wanken - Isolation statt Inklusion, zum Schutz aller.
Doch wie soll man einem Kind mit einer geistigen Behinderung erklären, dass plötzlich alles anders ist, dass man geliebte Menschen nicht mehr sehen kann, dass der gewohnte Tagesablauf, der die Welt begreifbar machte, nicht mehr möglich ist? Auch wenn jetzt mit neuen Formen wie Logopädie am Bildschirm experimentiert wird - nicht alles lässt sich in die digitale Welt überführen. Das spüren vor allem Kinder, die den persönlichen Kontakt, die Berührung, zur Kommunikation brauchen, weil ihnen die Sprache fehlt.
Wie also meistern diese Familien jetzt ihr Leben? Zwei Mütter, eine Kinderkrankenschwester und eine Frau mit Down-Syndrom erzählen, was Corona für sie bedeutet. Protokolle der Angst und Erschöpfung, aber auch der Stärke und Zuversicht.
Nicole Fiebrich, Mutter von Nele, 10, die chronisch krank ist, Frankfurt am Main

"Nele ist jetzt zehn Jahre alt. Seit ungefähr sieben Jahren wissen wir, dass sie eine schwere Stoffwechselerkrankung hat, eine Mukopolysaccharidose Typ 3. Das bedeutet, dass ihre Entwicklung Schritt für Schritt zurückgeht. Einfach ausgedrückt: Das ist wie Alzheimer bei Kindern. Ich weiß, sie wird irgendwann in den Rollstuhl kommen. Ich war auch schon auf zwei Beerdigungen von anderen Kindern. Noch ist Nele sehr fit, sie läuft, sie kann äußern, was sie möchte. Aber vom geistigen Stand her gleicht sie eher einem Kleinkind, sie trägt auch wieder Windeln.
Nicole Fiebrich
Durch ihre Erkrankung ist Nele gerade in einer sehr aktiven und aggressiven Phase, und ihr fehlt die Auslastung. Sie haut oft ihren Bruder, und alles wird nur noch geworfen, das Brot genauso wie das Spielzeug. Sie ist einfach sehr frustriert, versteht nicht, warum es nicht mehr möglich ist, in die Schule oder ins Schwimmbad zu gehen. Die ehrenamtlichen Helfer vom Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst, die normalerweise mit Nele spazierengehen oder schwimmen, dürfen nicht mehr kommen. Nele gehört zur Risikogruppe, sie hatte schon viele Lungenentzündungen. Viele der Kinder mit Neles Krankheit sterben irgendwann an einem Infekt oder an einer Lungenentzündung, das kann ganz schnell gehen.
Nele braucht viel Bewegung, um sich auszupowern. Da wir in einer Vier-Zimmer-Wohnung ohne Balkon leben, laufen wir nachmittags oft am Main entlang. Leider rasen dort die Fahrradfahrer, und ich muss Nele fest an der Hand halten. Sie schreit dann: 'Lass mich in Ruh!' Das ist ein eingeprägter Satz von früher. Vor Corona haben die Schwiegereltern Nele einmal die Woche abgeholt zur Reittherapie, einer Art Physiotherapie auf dem Pferd, die ganz wichtig ist für Neles Hüfte. Die ist jetzt auch eingestellt worden.
Meine Mutter hat mir Nele viel abgenommen vor Corona. Ich arbeite auch noch als Tagesmutter; normalerweise kommen fünf Schulkinder zu mir, jetzt mache ich allerdings nur noch die Notbetreuung für einen Jungen, dessen Mutter alleinerziehend ist und als Krankenschwester arbeitet. Die anderen Kinder dürfen nicht mehr zu mir kommen.
Damit Nele wenigstens ein bisschen Abwechslung hat, fahren wir ab und zu in die Praxis zur Ergotherapie. Die unterstützt ihre Fein- und Grobmotorik. Bei Nele ist die Rückentwicklung ein schleichender Prozess, deswegen versuche ich, Nele so gut wie möglich auf dem jetzigen Stand zu halten.
Es ist schon alles sehr belastend. Ich habe oft starke Kopfschmerzen. Ich habe ja keine Minute für mich, außer spätabends, wenn die Kinder im Bett sind. Um mich selbst mache ich mir aber keine Sorgen. Ich habe Angst um Nele. Ich möchte einfach alle Zeit, die mir noch mit ihr bleibt, nutzen. Wir genießen jeden Augenblick mit ihr, auch wenn es sehr anstrengend ist."
Sarah Reinsch, Kinderkrankenschwester im Kinderhaus "Nesthäkchen", Heidenrod-Laufenselden (Hessen)

"Als Corona in Italien angekommen war, haben wir uns überlegt, wie wir unsere Kinder am besten schützen können. Denn bei uns im Haus 'Nesthäkchen' wohnen mehrfach und schwerstbehinderte Mädchen und Jungen, manche haben Herzprobleme, bei anderen sind Immunsystem und Lunge ohnehin sehr geschwächt. Bei ihnen könnte Corona massive Auswirkungen haben.
Die erste Stufe war, dass die Kinder zwar noch von den Eltern abgeholt und zu ihnen nach Hause gebracht werden durften, dann allerdings nicht mehr ins 'Nesthäkchen' hätten zurückkehren dürfen. Denn in der Zeit zu Hause, in der Großstadt, hätte es einfach zu viele Kontakte gegeben. Die Eltern haben diese Regelung verstanden, es hat aber niemand sein Kind zu sich geholt. Zum einen sind manche Wohnungen gar nicht behindertengerecht ausgestattet. Zum anderen braucht ein schwerbehindertes Kind eine 24-Stunden-Betreuung; das können viele Eltern gar nicht leisten. Wir haben auch viele epileptische Kinder, die schon bei einem leichten Infekt anfangen können zu krampfen. Manche Eltern hatten auch Angst, dass sie selbst ihr Kind infizieren, weil sie beruflich so viel unterwegs sind.
Sarah Reinsch
Die Eltern vertrauen uns. Sie wissen, dass sie jetzt besser auf Abstand gehen, und dass ihr Kind bestmöglich untergekommen ist. Wir sind wie eine zweite Familie. Die meisten Kinder sind schon mehrere Jahre bei uns, genauso wie viele meiner Kollegen. Unser jüngster Bewohner ist drei Jahre alt, der älteste 17.
Mittlerweile dürfen die Eltern gar nicht mehr zu Besuch kommen. Sie verstehen auch das, aber es ist schwer für sie. Denn natürlich sind sie in Sorge, und wenn man besorgt ist um jemanden, will man ihm ja eigentlich nahe sein. Immerhin können sie anrufen, und wir halten den Hörer zum Kind, machen den Lautsprecher an. Und die Kinder wenden dann den Blick Richtung Telefon. Die, die vorher aufgeregt waren, sind auf einmal ganz still und hören zu. Wir haben auch einen blinden Jungen, der sich immer so sehr freut, dass er lacht und mit den Beinen strampelt.
Ich glaube, dass das Besuchsverbot für die Eltern fast schwieriger auszuhalten ist als für die Kinder. Aber natürlich merken wir auch, dass einige Kinder traurig sind. Wenn wir Musik hören, fangen sie plötzlich an zu weinen. Den Kindern wurde ja auch viel anderes genommen. Es kommen keine Logopäden, keine Ergotherapeuten mehr, die Reittherapie ist abgesagt. Sie haben keine Schule mehr. Die Kinder sehen selbst unseren Mund nicht mehr, weil wir die ganze Zeit Mundschutz tragen.
Noch haben wir genügend dieser einfachen Masken auf Lager, notfalls aber müssen wir anfangen, selbst welche zu nähen. Desinfektionsmittel zu bekommen, war zwischendurch auch ein heikles Thema. Zum Glück konnten wir bei einer Apotheke sicherstellen, dass diese uns welches anmischt, falls es knapp wird.
Die Welt rast, aber bei uns im Kinderhaus auf dem Land komme ich mir vor wie in einer Blase. Ich frage mich, wann die Blase platzt, wann wir also auch einen Fall bei uns haben werden. Sollte unser Haus unter Quarantäne stehen, würden einige Kollegen ganz dort bleiben - das haben sie schon angekündigt. Natürlich haben wir auch Angst, dass uns Personal wegbricht. Es fehlen ja ohnehin schon Fachkräfte.
Man fühlt sich also bei der Arbeit noch mehr gebraucht als sonst. Gleichzeitig wird man aber auch zu Hause noch mehr gebraucht. Ich habe selbst drei Kinder und bin alleinerziehend. Die Kleine ist zwar zwischndurch bei ihrem Papa, und die Großen können auch mal alleine bleiben. Aber ich versuche, so oft es geht Nachtdienste zu machen. Dann kann mein Freund aufpassen; wenn ich morgens nach Hause komme, geht er, und habe ich die Kinder bei mir. Und abends kommt wieder die nächste Schicht."
Verena Elisabeth Turin, 40, mit Down-Syndrom, Sterzing (Südtirol)

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"Seit ein paar Wochen bin ich nur bei meinen Eltern daheim. Leider darf ich nicht mehr im Altenheim arbeiten. Dort bin ich in der Wäscherei und im Freizeitbereich tätig. Ich vermisse meine Arbeit sehr: all meine Mitarbeiter, die rund um mich sind. Und auch die Menschen im Altenheim, die sehr nett zu mir sind. Leider weiß ich nicht, wie es den Menschen im Heim wirklich geht. Ich hoffe gut.
In dieser Zeit darf ich auch meinen Freund nicht besuchen. Es ist wegen der Corona-Ansteckung. Wir vermissen uns beide sehr stark. Aber wir telefonieren miteinander. Es ist ein kleiner Trost für mich, ihn zu hören. Wenn die ganze Corona-Zeit total weg ist, dann hoffen wir beide, dass wir uns wiedersehen können.
Durch diese Corona-Zeit ist mein Alltag ein wenig anders geworden. Bei uns geht mein Vater einkaufen. Er trägt dann einen weißen Mundschutz. Vor dem Geschäft muss er leider Abstand halten, wenn er in der Menschenschlange steht. Ich helfe meiner Mutter im Haushalt: Wäsche aufhängen, abspülen, Tisch decken. Manchmal bin ich auch im Garten und reche die vielen Blätter zu einem Haufen zusammen. Ich putze auch die Beete sauber.
Ich habe sehr viele Hobbys für den ganzen Tag. Am liebsten höre ich Geschichten und Musik-CDs in meinem Zimmer an. Viel später singe und tanze ich zu meiner Musik. Ich bin sehr gerne bei meinem Handy und beim Laptop.
Verena Elisabeth Turin
Für mich sind alle Tage gleich, aber manchmal finde ich es nicht so fein, immer im Garten und im Haus zu sein. Manchmal fühle ich mich wie eine Gefangene. Es ist gar nicht nett, dass man sich nicht mit den Freunden treffen kann. Ich würde gerne Eis essen oder ins Gasthaus etwas trinken gehen mit meiner Freundin oder schwimmen. Zum Glück sind meine Eltern sehr nett mit mir.
Ich schaue auch die Nachrichten im Fernsehen zu Corona an. Dort sieht man sehr viele Ärzte und Menschen, die freiwillig mithelfen in den Spitälern. Und ich sehe sehr viele Computergeräte, Schläuche bei den Patienten, die auf den Betten liegen. Da habe ich wirklich Mitleid mit ihnen. Medizin hat mich immer fasziniert. Immer wieder kommen neue Menschen in die Krankenhäuser. Und all die Ärzte haben einen Stress. Sie haben sehr viel rund um die Uhr zu tun, um das Leben der Menschen zu retten.
Ich habe keine Angst vor der Corona-Krankheit. In dieser Zeit esse ich sehr viel Obst. Ab und zu niese ich. Ich habe keine Angst, dass ich krank werde. Eine doppelte Lungenentzündung habe ich schon durchgestanden, und ich habe es überlebt. Natürlich habe ich Angst, wenn meine Eltern krank werden und daran sterben sollten. Ich will sie nicht verlieren. Nicht in dieser Zeit."
Katrin Buol-Wischenau, Mutter von Tobi, 10, der eine Cerebralparese hat, Karben (Hessen)

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"Wenn ich mir überlege, was ich schon alles durchgestanden habe, dann kommt mir das jetzt gar nicht so schlimm vor. Die Geburt, die Diagnose, es gab schon viele Einschnitte in unserem Leben, und man entwickelt Techniken, damit umzugehen - ist vielleicht auch etwas abgehärteter. Mein Sohn Tobi war ein Frühchen, einer von Drillingen, die anderen zwei sind im Mutterleib gestorben. Tobi hat eine Cerebralparese, das haben wir früh erfahren, aber wie genau sich das auswirkt, wusste keiner. Heute sitzt er im Rollstuhl, zieht die Arme an den Körper heran, hat oft Muskelschmerzen. Er ist geistig soweit fit, spricht auch ein bisschen, lernt aber deutlich langsamer.
Je kleiner Tobi war, desto kurzfristiger haben wir gedacht. Zunächst hatten wir nur einen Zeithorizont von ein paar Tagen, dann von zwei, drei Wochen. Wir haben Schritt für Schritt geschaut, was geht, haben auch gar nicht so viel gelesen über die Diagnose. Man hat es genommen, wie es ist. Und genauso machen wir es jetzt auch. Sonst macht man sich verrückt.
Wenn sich eine neue Situation abzeichnet, ein Schulwechsel oder eine Operation anstehen, weiß ich genau: Die ersten Tage werden hart, aber nach einer Woche setzt Routine ein, und dann läuft es irgendwie. Dieses Wissen hilft mir, Druck rauszunehmen. Es ist immer alles gut getaktet bei uns. Wir werden oft ein wenig belächelt, dass wir so strukturiert sind. Aber Tobi braucht eine feste Struktur, möchte genaue Uhrzeiten wissen. Und auch uns gibt das Halt.
Katrin Buol-Wischenau
Auch jetzt, während mein Mann im Homeoffice arbeitet und ich gerade Urlaub nehme von meinem Job in der Bank, haben wir unseren Ablauf: Morgens um viertel vor sieben Uhr mache ich Turnübungen mit Tobi, um acht Uhr fangen wir mit den Schulaufgaben an. Normalerweise hat Tobi einen Schulbetreuer in der Grundschule, er kann ja nicht alleine eine Seite im Buch umschlagen, man muss ihn füttern und den Rollstuhl bewegen.
Jetzt sehe ich zu, dass wir vor allem Mathe und Deutsch zu Hause lernen. Mein achtjähriger Sohn Till und Tobi sitzen dann zusammen am Küchentisch, und der Kleine krabbelt durchs Wohnzimmer und räumt das Regal aus. Wenn es zu laut wird, schiebe ich Tobi ins andere Zimmer, zwischendurch muss ich ihn auch umsetzen oder zur Toilette bringen, dann ist wieder Video-Chat mit einer Lehrerin, man ist immer hin- und hergerissen.
Trotzdem muss man sich Zeit nehmen, wenn man mit Tobi lernt. Er kann nicht schreiben, aber er arbeitet gern mit Apps am Ipad. Ich lese ihm dann die Fragen vor, und wir sprechen solange darüber, bis die Antwort klar ist. Dann hält er meinen Zeigefinger fest, und wir führen gemeinsam die Hand zum Display.
Ich setze mich aber gar nicht erst unter Druck, alles perfekt zu machen. Was wird, wird. Und wenn etwas nicht wird, dann ist es halt so. So haben wir es immer schon gehalten. Ich bin bestimmt niemand, der nachlässig ist, aber ich habe nicht den Anspruch an mich, perfekt zu sein. Ich sage auch meinen Kindern, dass ich nicht perfekt bin. Ich glaube, dass wir in dieser Hinsicht entspannter sind als andere.
Mit einem behinderten Kind rücken viele Dinge in den Hintergrund, man hat andere Prioritäten. Manchmal wundere ich mich, worüber sich andere so ärgern. Natürlich tut es mir für die Kinder leid, was jetzt alles gerade nicht mehr möglich ist. Auch Tobi fehlen seine Klassenkameraden. Aber wir funktionieren als Familie sehr gut, und wir werden auch diese Zeit überstehen."