

Misshandelte Kinder »Gewalt zieht sich querbeet durch alle Schichten«
SPIEGEL: Frau Köppe-Gaisendrees, viele Kinderschutzeinrichtungen haben während des ersten Shutdowns weniger vernachlässigte und misshandelte Kinder gesehen. Expertinnen und Experten schließen daraus, dass die Dunkelziffer gestiegen sein muss. Was sind Ihre Beobachtungen?
Birgit Köppe-Gaisendrees: Wir haben im vergangenen Frühjahr nur drei Wochen dichtgemacht und danach schnell wieder Termine angeboten, weil wir wussten, dass das nötig sein würde. Und in den ersten Tagen, nachdem wir aus dem Homeoffice zurückgekehrt waren, haben wir in der Kinderschutzambulanz tatsächlich vergleichsweise viele schwer misshandelte Säuglinge aufnehmen müssen. Sieben Babys kamen mit Frakturen, Verbrennungen, Schütteltraumata zu uns. So viele habe ich in meinen gut 30 Berufsjahren in so kurzer Zeit noch nicht gesehen.
SPIEGEL: Manche Einrichtungen berichten Ähnliches, doch insgesamt sind die Rückmeldungen aus den Gewaltschutzambulanzen sehr unterschiedlich. Statistisch lässt sich bisher nicht belegen , dass Kinder in der Coronakrise mehr Gewalt erfahren.
Köppe-Gaisendrees: Das stimmt, und das ist aus mehreren Gründen auch sehr schwierig: Zu uns kommen Familien nicht freiwillig. Das Jugendamt schickt sie, weil Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Nachbarn oder Bekannte dort einen Verdacht gemeldet haben. Unsere Aufgabe ist es dann einzuschätzen, ob das Kindeswohl gefährdet ist. Wenn Kinder aber nicht zur Schule, in Vereine oder zu Freunden gehen dürfen, fallen wichtige Orte weg, an denen Misshandlungsspuren wie blaue Flecken jemandem auffallen könnten. Hinzu kommt, dass sexuelle Gewalt oft körperlich kaum nachzuweisen ist, bei psychischer Gewalt ist das praktisch unmöglich. Viele Fälle kommen deshalb nie ans Licht.
SPIEGEL: Wie finden Sie heraus, ob hinter einem Bluterguss ein Unfall oder ein Übergriff steckt?
Köppe-Gaisendrees: Wenn Kinder von der Rutsche fallen, können ihre Eltern meist sehr genau erklären, wie das passiert ist, und auch die Kinder selbst erzählen in der Regel eifrig und detailreich davon. Wenn Eltern und Kinder für eine Verletzung jedoch angeblich keine Erklärung haben, ist das ein erstes Indiz.
SPIEGEL: Wie sprechen sie mit den Kindern über das, was passiert sein könnte?
Köppe-Gaisendrees: Wir führen keine Vernehmungen durch, sondern wir tasten uns vorsichtig heran. In der Regel machen wir fünf bis acht Einzeltermine mit jedem Kind, in denen wir versuchen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen und seine Situation und seine Symptome zu verstehen. Das erfordert viel Geduld. Oft hören die Kinder vorher von ihren Eltern: »Sag denen nichts, die wollen dich ins Heim bringen.« Außerdem sind Kinder extrem loyal. In meinen Anfangsjahren stand ich manchmal an den Betten von Kindern, die so schwer misshandelt worden waren, dass mir die Tränen kamen. Ich dachte, wir tun ihnen etwas Gutes, wenn wir ihnen sagen, dass sie nie wieder zu ihren Eltern zurückmüssen. Doch auch diese Kinder sagten nach dem Aufwachen oft als Erstes: »Mama macht das nicht mehr« oder »Papa hat mich lieb«. Gerade kommt ein Elfjähriger zu uns, dessen jüngere Geschwister schon aus der Familie genommen wurden. Er sagte neulich: »Ich kann es aushalten, wenn Papa mich verprügelt oder Zigaretten auf mir ausdrückt, ich bin schon groß.«
SPIEGEL: Wie vermitteln Sie Kindern, dass sie nicht nach Hause zurückdürfen?
Köppe-Gaisendrees: Die Entscheidung, wann Kinder in Obhut genommen werden sollen, obliegen den Jugendämtern und den Familiengerichten. Wenn wir sie überbringen, sagen wir zum Beispiel: »Ich habe gehört, dass du bei deiner Mama bleiben willst, aber wir möchten nicht, dass sie dich noch einmal so verletzt. Und wir möchten deiner Mutter die Möglichkeit geben, etwas zu verändern. Solange wird es so sein, dass du nicht bei ihr wohnen kannst.« Ich habe oft erlebt, dass Kinder danach fröhlich an der Hand eines fremden Jugendamtsmitarbeiters aus der Ambulanz gegangen sind. Sie wirkten erleichtert.
SPIEGEL: Wo fangen Gewalt und Missbrauch an?
Köppe-Gaisendrees: Schlagen, verbrennen oder einsperren – das ist eine Seite. Doch viele Kinder erleben es auch als sehr schlimm, wenn sie angeschrien, verbal erniedrigt oder vernachlässigt werden. Vor einigen Tagen kam eine Mutter zu uns, weil wir mit ihrem fünfjährigen Sohn eine Gefährdungseinschätzung machen sollten. Einer Kollegin fiel auf, dass seine Schuhe viel zu klein waren. Der Junge bestätigte, dass ihm die Füße wehtäten. Als die Kollegin seine Mutter darauf ansprach, schrie sie ihr Kind an: Warum er nicht Bescheid gesagt habe, dass ihm die Schuhe nicht mehr passten? Der Junge hatte bei dem kalten Wetter nur ein T-Shirt an, doch die Mutter sagte, sie könne ihm keinen neuen Pullover kaufen: Er müsse warten, bis der Umsonstladen wieder aufmache.
SPIEGEL: Diese Familie scheint sehr arm zu sein. Was ist an dem Klischee dran, dass Kinder, deren Eltern wenig Geld haben, häufiger Gewalt erfahren?
Köppe-Gaisendrees: Das ist ein verzerrtes Bild, Gewalt zieht sich querbeet durch alle Schichten. Doch in bestimmten Brennpunktvierteln fallen Misshandlungen eher auf, weil Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter dort ohnehin ein und aus gehen. Deshalb ist das Jugendamt in solchen Fällen nicht darauf angewiesen, dass zum Beispiel Lehrkräfte ihre Beobachtungen melden. In Siedlungen mit lauter Einfamilienhäusern ist hingegen die Hemmschwelle höher, das Jugendamt einzuschalten. Außerdem wohnen Menschen dort nicht so nah beieinander, und Nachbarn bekommen mitunter wenig mit. Dort gibt es jedoch genauso überforderte und gewalttätige Eltern. Letztens kam ein Mädchen mit Einblutungen im Gesicht zu uns. Die Mutter war Ärztin, der Papa hatte auch studiert, beide waren berufstätig. Das Kind sollte unbedingt aufs Gymnasium gehen, dabei wäre es auf einer Gesamtschule besser aufgehoben gewesen. Es stellte sich heraus: Abends bei den Hausaufgaben war der Vater ausgerastet. Er hatte seine Tochter gepackt und mit dem Kopf auf den Glastisch geknallt.
SPIEGEL: Wann werden Eltern gewalttätig?
Köppe-Gaisendrees: Es gibt mehrere Risikofaktoren wie Armut, schwierige Wohnverhältnisse, eigene Gewalterfahrung und Partnerschaftskonflikte. Doch Eltern, die in ihrer eigenen Kindheit Gewalt erlebt haben, werden nicht automatisch ihre Kinder verprügeln. Schwierig ist es dann, wenn Eltern ihre Kindheit verdrängen und überzeugt sind: »Ich werde mein Kind nie schlagen!« Dann kommt der Erziehungsalltag und sie stellen fest, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Oft beschweren sich Eltern auch bei uns, sie könnten nichts dafür, dass ihr Kind morgens nicht aufstehen will. Doch wer sollte sonst dafür verantwortlich sein? Der Gedanke, jemand möge es von außen richten, ist fatal.
SPIEGEL: Was können überforderte Eltern tun?
Köppe-Gaisendrees: Es hilft, wenn sie sich eingestehen: Egal wie innig sie ihre Kinder lieben, es gibt Momente, in denen sie sie auf den Mond schießen könnten. Eltern müssen dann nicht nach außen so tun, als ob sie alles im Griff hätten. Sie sollten sich mit anderen Eltern austauschen, denen es ähnlich geht. Wenn sie es in hitzigen Momenten schaffen, dreimal tief Luft zu holen und auf den Balkon oder eine Runde um den Block zu gehen, statt ihre Kinder zu ohrfeigen, ist das ein großer Schritt. Es ist auch immer gut, frühzeitig eine Beratungsstelle aufzusuchen, wenn sich Eltern nicht selbst helfen können.
SPIEGEL: Wissen Eltern immer, wann sie zu weit gegangen sind?
Köppe-Gaisendrees: Ich glaube schon, dass Eltern das spüren. Sie sollten das Gefühl dann jedoch nicht überspringen und aus Scham oder Schuldbewusstsein heraus so tun, als sei nichts gewesen. Sie sollten mit ihrem Kind in Beziehung bleiben und Verantwortung übernehmen. Auch wenn es Eltern schwerfallen mag: Sie sollten auf ihre Kinder zugehen und sich bei ihnen entschuldigen, wenn sie sie seelisch oder körperlich verletzt haben.