

Familiennewsletter Wir Einzelkinder – was verpassen wir?

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, liebe Eltern,
ich werde heute über etwas schreiben, das ich mir nicht richtig vorstellen kann. Gut, man könnte sagen, das gehört zu meinem Job: über Lebenswelten zu schreiben, die sich von meiner sehr unterscheiden.

Einzel- oder Geschwisterkind? Eine prägende Erfahrung
Foto: Henrik Sorensen / Getty ImagesAber wie es ist, Geschwister zu haben, wie es gewesen wäre, vom großen Bruder verdroschen worden zu sein, auf die kleine Schwester aufzupassen, wie es als Kind gewesen wäre, wenn da noch jemand zu meiner Mama »Mama« gesagt hätte – das ist ein Gefühl, das ich nicht recherchieren kann. (Übrigens, gar nicht verkehrt, sich diese Erkenntnis immer wieder ins Gedächtnis zu rufen als Journalistin: Wie groß der Anteil dessen ist, was man im Kern nicht erfassen kann, trotz des ehrlichen Bemühens, anderen Menschen nahezukommen).
Das Einzelkind-Dasein zieht sich bei uns durch die Familie, meine Oma, meine Mutter, ich, meine Tochter – alle sind wir Einzelkinder, allerdings aus den unterschiedlichsten Gründen. Und manche Muster sehe ich natürlich schon als Einzelkind-Mutter bei meinem Einzelkind, unabhängig davon, dass meine Tochter das Downsyndrom hat: die relativ große Anzahl von Geschenken, die einem zuteilwerden und die mindestens ebenso große elterliche Aufmerksamkeit, die auf einem ruht. Beides ist nicht nur schön, wie man spätestens als Erwachsene begreift.
Einmal die Woche erzählen fünf Mütter und Väter aus ihrem Leben und geben Lesetipps, was für Familien interessant sein könnte. (Wer wir sind, lesen Sie hier.) Schreiben Sie uns gern Ihre Gedanken zum Thema Familie, Ihre kleinen Geschichten aus dem Alltag, Ihre besonderen Momente mit Ihren Kindern! Wir würden uns freuen! Unsere Adresse: familie@spiegel.de
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Sicher, die Freude ist im ersten Moment groß, auf beiden Seiten, wenn unsere Tochter begeistert »Schenk!« ruft. Und wenn einer da ist, der tatsächlich zuschauen kann, wenn sie das erste Mal allein mit dem Roller durchs Wohnzimmer kurvt: »Guck mal, Mama, guck mal, Papa! Klatschen, bitte!«
Aber ich frage mich schon, an welchem Punkt wir falsch abgebogen sind, wenn sich zwischen meiner Tochter und mir heute folgende Dialoge abspielen: »Kannst du mir helfen, die Wäsche aufzuhängen?« »Nein, danke!« »Hilfst du mir beim Blumengießen?« »Lieber nicht.« Und stehen Mehrfach-Mütter frühmorgens auch mit Hosen vor dem Wohnzimmervorhang, hinter dem sich das bockige Kind vor dem Anziehen versteckt?
Tatsächlich habe ich bis heute eher romantische Bilder zu Großfamilien im Kopf und lese deswegen fasziniert Geschichten wie diese: Wie konnte meine Mutter elf Kindern Liebe schenken? Ich weiß noch, wie sehr ich es als kleines Mädchen genoss, zu Gast zu sein in Häusern, die wie lebende Wimmelbücher waren: die Mahlzeiten an ewig langen Tischen, das Gewusel. Und auch das, was im allgemeinen Gewusel eben auch möglich war: später als Teenager mit meiner Freundin aus dem Badfenster zu steigen und nachts zur Party abzuhauen, während die Gewusel-Eltern den Schlaf der Gerechten schliefen.
Meine Lesetipps
Aber war es wirklich immer so gerecht, fröhlich, unbeschwert in diesen Familien? Wohl nicht, allein die Anzahl der Texte, die bei uns im SPIEGEL über Geschwisterbeziehungen erschienen sind, sind ein Hinweis darauf, dass es viel zu sagen gibt über Rangfolgen, Rollen und Rivalitäten.
Hier eine kleine Auswahl, die ich als neugierige Außenstehende mit Interesse gelesen habe:
Meine Kollegin Heike Le Ker ist dem Phänomen der sogenannten Lieblingskinder auf den Grund gegangen.
Was ein Geschwisterchen für das erstgeborene Kind bedeutet und was man als Eltern dafür tun kann, damit aus dem Buhlen um Liebe und Aufmerksamkeit keine schwerwiegenden Verletzungen erwachsen, greifen diese beiden Interviews auf.
Mein Kollege Markus Deggerich, selbst Großfamilienkind und Großfamilienvater, hat ebenso persönlich wie eindringlich über das schwierige Verhältnis zu seinem großen Bruder berichtet.
Wie ein großer Bruder aber auch eine neue Welt eröffnen kann, das lässt sich in den Protokollen von drei jungen Erwachsenen nachlesen , die von ihrer Kindheit in Armut erzählen. Und in denen sich sehr einprägsame Sätze finden, zum Beispiel dieser hier: »Andere Familien hatten Angst vor Einbrechern, wir vor dem Gerichtsvollzieher.« Die Protokolle, aufgezeichnet von Franziska Schindler und Leon Berent, möchte ich Ihnen wirklich ans Herz legen.
Interessanterweise ist die Psyche von Einzelkindern journalistisch gesehen offenbar nicht so ergiebig wie die von Brüdern und Schwestern, dabei prägt unsere Kindheit als Einzel- oder Geschwisterkind auch die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen. Welche Gründe dahinter stecken können, wenn Kinder Einzelkinder bleiben, hat meine Kollegin Anna Clauß hier auf nachdenkliche Weise erzählt .
Schreiben Sie mir gern, welche besonderen Geschwister-Momente Sie oder Ihre Kinder erlebt haben – oder wann Sie mal ganz froh waren, ein Einzelkind zu sein! Unsere Adresse: familie@spiegel.de
Gedanken zum Altwerden
Es gibt einen Punkt, der erst auf den zweiten Blick etwas mit dem Thema Einzelkind zu tun hat, nämlich die Frage: Wie werde ich leben, wenn ich alt bin? Werde ich einsam sein? Das Thema ist zum Glück noch weit weg, aber manchmal bedrängen mich Gedanken zu meiner Zukunft, die vermutlich auch andere Eltern von Kindern mit Behinderung kennen: das Gefühl, lange leben zu müssen, nicht zu wollen, sondern zu müssen, damit man sich noch möglichst lange um sein Kind kümmern kann, auch wenn es irgendwann sicherlich nicht mehr zu Hause wohnen wird.
Ist es zu selbstmitleidig, wenn ich bei aller Sorge um meine Tochter auch Sorge um mich habe? Wer wird sich einmal um mich kümmern? Wer wird vielleicht mal kritisch nachfragen, ob im Altenheim alles gut läuft? Wenn ich irgendwann vielleicht dement bin und Witwe? (Was beides bitte nicht eintreten möge, aber eben leider im Bereich des Möglichen liegt.)
Als Journalistin habe ich mich mit dieser Frage schon beschäftigt: Wie wir Demenzkranken ein würdevolles Leben ermöglichen können. Und gerade erst gab es eine SPIEGEL-Titelstory zum Thema Altersdiskriminierung . Was mich umtreibt: Wenn es keine Geschwister gibt, weder in meiner noch in der Generation meiner Tochter, wenn ich also irgendwann die Übriggebliebene meiner Familie sein sollte, mit wem werde ich dann mein Innerstes teilen können? Zum Glück gibt es – das wünsche ich mir zumindest sehr – meine Freunde, die dann noch da sind.
Wie eng und langlebig Freundschaften unter Frauen sein können, darüber hat sich meine Kollegin Maren Keller mit der Schriftstellerin Jojo Moyes unterhalten. Sie sagt: »Wenn man erst einmal 40 oder 50 ist, hat so gut wie jeder Mensch schwierige Phasen im Leben überstehen müssen. Wenn ich Frauen in diesem Alter kennenlerne, kann ich spüren, dass wir das voneinander wissen... Jede Frau ist in diesem Alter die Überlebende von etwas.«
Und ich glaube, da hat sie recht. Möchte aber hinzufügen: Ich habe auch seit mehr als 20 Jahren einen sehr guten Freund – genau, männlich, das geht tatsächlich!
Mein Moment
Puh, wissen Sie, manchmal sind die Übergänge im Text so abrupt wie im Leben, wo es eben nicht nur eine Abfolge, sondern auch eine Gleichzeitigkeit von Leichtigkeit und Schwere gibt, und deswegen sage ich einfach: Jetzt ist erst einmal Wochenende, Osterurlaub, Frühling, und ich verabschiede mich mit einem Rezept, das schon beim Lesen hungrig macht, den sogenannten Bombay-Kartoffeln von unserer Kochkolumnistin Verena Lugert. Diese, verspricht sie, »bringen die Sonne auf den Teller – so lange, bis sie dann endlich auch wieder am blauen Himmel draußen zu sehen ist«.
Herzlich, Ihre Sandra Schulz
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