Engholms Rücktritt Schubladen voller Geld - Triumph und Sturz

Rücktritt vor 25 Jahren: Am 3. Mai 1993 zog Björn Engholm die Konsequenz aus seiner Falschaussage, die er 1987 vor dem Kieler Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Barschel-Affäre gemacht hatte. Er räumte vor der Presse ein, früher als bis dahin zugegeben gewusst zu haben, dass ein Mitarbeiter des CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel im Landtagswahlkampf 1987 eine Schmutzkampagne gegen die SPD geführt hatte. Mit seinem Rücktritt, sagte Engholm später, habe er "einen hohen Preis für ein relativ kleines Vergehen bezahlt".

Eingeständnis: "Im Bewusstsein der geleisteten und getanen Arbeit und in der Absicht, mein Land und meine Partei davor zu bewahren, mit meinem politischen Fehler identifiziert zu werden, werde ich mein Amt als Ministerpräsident und meine Funktionen in der SPD aufgeben", erklärte Engholm in der Bonner SPD-Zentrale.

"Watergate in Kiel" Sechs Jahre zuvor hatte diese SPIEGEL-Titelgeschichte vom 14. September 1987 ein politisches Erdbeben ausgelöst. Reiner Pfeiffer, Medienreferent des Ministerpräsidenten, versicherte an Eides statt, Uwe Barschel persönlich habe den Auftrag erteilt, das angeblich ausschweifende Sexualleben seines homosexuellen SPD-Gegenspielers Björn Engholm auszuspionieren. Zudem habe Barschel selbst einen gegen Engholm gerichteten anonymen Brief entworfen und Pfeifer beauftragt, eine Abhörwanze zu besorgen, deren Einsatz der SPD hätte angelastet werden können.

Der Jurist Uwe Barschel, hier bei seinem Amtseid, war seit 1982 Regierungschef in Schleswig-Holstein und zuvor bereits Finanzminister im Kabinett von Gerhard Stoltenberg. Die Barschel-Affäre 1987 zählt zu den größten politischen Skandalen der bundesdeutschen Geschichte.

Ehrenwort: Bei einer Pressekonferenz im Kieler Landeshaus wies Ministerpräsident Uwe Barschel am 18. September 1987 die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zurück. Er bekräftigte dies mit seinem "Ehrenwort". Als der SPIEGEL über weitere, bis dahin unbekannte Aktionen gegen Engholm berichtete und selbst unter seinen Parteifreunden die Zweifel an Barschels Unschuld wuchsen, kündigte der CDU-Politiker am 25. September seinen Rücktritt an.

Beau Rivage am Genfer See in der Schweiz: In diesem Hotel wurde Barschel am 11. Oktober 1987 tot in der Badewanne seines Zimmers gefunden. Todesursache war eine Vergiftung durch Medikamente. Ob es sich um Selbstmord oder Mord handelte, konnte nie mit letzter Sicherheit geklärt werden.

Der Überläufer: Uwe Barschels Medienreferent Reiner Pfeiffer, eigens für den schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf 1987 vom Axel-Springer-Verlag ausgeliehen, bezichtigte sich in der Woche vor der Wahl gegenüber dem SPIEGEL, im Auftrag des CDU-Ministerpräsidenten schmutzige Tricks gegen den SPD-Herausforderer Björn Engholm angewandt zu haben. So habe er den SPD-Spitzenkandidaten wegen angeblicher Steuerhinterziehung anonym angezeigt und durch Detektive bespitzeln lassen. Der Fall Barschel beherrschte, wie hier am Mittwoch nach der Wahl an einem Hamburger Zeitungskiosk, wochenlang die Schlagzeilen.

Weggefährte: Sechs Jahre nach der Barschel-Affäre holte Björn Engholm, inzwischen SPD-Bundesvorsitzender und angehender Kanzlerkandidat, eine Lüge ein. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau (links) gehörte zu den Sozialdemokraten, die seinen Rücktritt für nicht nötig hielten. Rau hatte ihn allerdings, seit er im April 1988 darüber informiert worden war, gemahnt, die Falschaussage nicht länger zu leugnen. Bei der Pressekonferenz am 3. Mai 1993 saß Rau, nun für eine dreiwöchige Übergangszeit kommissarischer SPD-Vorsitzender, an Engholms Seite.

Solidarität: Engholm seien Tränen in die Augen geschossen, als er das Erich-Ollenhauer-Haus am 3. Mai 1993 betrat, berichteten Beobachter. Mitarbeiter der SPD-Zentrale hatten ein Transparent aufgehängt: "Björn mach' weiter". Doch die Sympathiebekundung kam zu spät, nach langem inneren Ringen hatte sich Engholm wegen der "Schubladenaffäre" zum Rücktritt entschlossen.

Zynisch: Das Satiremagazin "Titanic" montierte auf der Titelseite der Ausgabe vom April 1993, also vor Engholms Rücktritt, das Gesicht des lachenden Sozialdemokraten in das Foto des toten Uwe Barschel in der Badewanne. Die Titelzeile "Sehr komisch, Herr Engholm!" fand der infolge der "Schubladenaffäre" bald im freien Fall befindliche Politiker alles andere als witzig und verklagte das Blatt. Das Oberlandesgericht sprach Engholm 40.000 Mark Schmerzensgeld zu. Die Gesamtkosten des Rechtsstreits, fast 200.000 Mark, trieben die Zeitschrift an den Rand des Ruins.

Brandt-Enkel: Björn Engholm, SPD-Vorsitzender seit 1991, war designierter Kanzlerkandidat seiner Partei, als ihn die Vergangenheit einholte. Im März 1993 entstand dieses Foto, da war seine Bewerbung unter den "Enkeln" des legendären Vorsitzenden Willy Brandt noch unangefochten. Als Engholm strauchelte, meldete der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (links) sogleich seinen Anspruch auf Parteivorsitz und Kandidatur an, den die damaligen SPD-Granden jedoch vereitelten. In einer Mitgliederabstimmung erhielt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Rudolf Scharping (Mitte) eine relative Mehrheit und wurde auf einem Parteitag zum Vorsitzenden gewählt.

Altkanzler zwischen Ex-Vorsitzenden: Beim SPD-Bundesparteitag im Juni 1993 in Essen, auf dem Rudolf Scharping zum neuen Parteichef gewählt wurde, saß Altkanzler Helmut Schmidt zwischen dem zurückgetretenen Björn Engholm und dessen Vorgänger Hans-Jochen Vogel. In Schmidts Regierung war Engholm ab 1977 Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Bildung und Wissenschaft gewesen, von Januar 1981 bis Oktober 1982 hatte er das Ministerium geleitet.

Herausforderer: 1987 trat Engholm zum zweiten Mal als Gegenkandidat des CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel an. Elegant und eloquent, gutaussehend und stilvoll auftretend, immer freundlich und nie laut - solche Eigenschaften Engholms ließen den Amtsinhaber um den Machterhalt bangen. Auch wenn unbewiesen ist, ob Barschel seinem Medienreferenten Pfeiffer den Auftrag zu den schmutzigen Aktionen gegen Engholm gab, waren aus Barschels Staatskanzlei gesteuerte persönliche Diffamierungen des politischen Gegners im Wahlkampf offenkundig.

Fernsehduell: Zweimal diskutierten Uwe Barschel und Björn Engholm vor der Landtagswahl am 13. September 1987 im Regionalfernsehen. Die beiden Spitzenkandidaten, behauptete Moderatorin Ulrike Wolf, die NDR-Chefredakteurin, seien im Wahlkampf "auffallend und, wie ich finde, wohltuend sachlich miteinander persönlich umgegangen". Engholms Hinweise auf bereits zu diesem Zeitpunkt bekannte Diffamierungen durch die CDU tat die Christdemokratin Wolf einfach ab.

Aufsteiger: 1970, als dieses Foto entstand, war Engholm, damals 31, seit einem Jahr Bundestagsabgeordneter. Er blieb Parlamentarier in Bonn bis 1983, als er erstmals gegen Uwe Barschel antrat und nach der Wahlniederlege die Oppositionsführung in Schleswig-Holstein übernahm. Der gelernte Schriftsetzer war 1962 in die SPD eingetreten und hatte auf dem zweiten Bildungsweg ein Studium aufgenommen, das er als Diplom-Politologe abschloss. Danach arbeitete er als Dozent in der Jugend- und Erwachsenenbildung.

Zwei Lübecker: Der Parteipatriarch Willy Brandt, geboren 1913 in der Hansestadt, hatte stets eine starke emotionale Bindung zu Engholm. Die gemeinsame Geburtsstadt Lübeck vermittelte auch persönliche Nähe. Zwei Tage vor der Landtagswahl 1988 trat Brandt am 6. Mai gemeinsam mit Engholm bei einer Kundgebung auf dem Kieler Alten Markt auf.

Neuwahl: Acht Monate nach der Barschel-Affäre wurden die Schleswig-Holsteiner am 8. Mai 1988 erneut an die Wahlurnen gerufen. Im September 1987 war die SPD zwar erstmals seit 1958 stärkste Partei im Land geworden, aber bei der Verteilung der Parlamentssitze hatte sich mit jeweils 37 Mandaten ein Patt zwischen CDU und FDP einerseits sowie SPD und Südschleswigschem Wählerverband andererseits ergeben. Björn Engholm, hier bei der Stimmabgabe in einem Kieler Wahllokal, wurde bei der Neuwahl der überragende Sieger.

Glückwünsche: Am Tag nach der Landtagswahl wurde Engholm von seinen Parteifreunden in Bonn begeistert gefeiert. Die CDU, seit Jahrzehnten ununterbrochen in Kiel an der Macht, wurde von der SPD als Regierungspartei abgelöst. Der Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel (links) und sein Stellvertreter Johannes Rau beglückwünschten Engholm zum Wahlsieg.

Amtsantritt: Am 31. Mai 1988 wurde Björn Engholm mit überwältigender Mehrheit zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Er erhielt 47 von 74 Stimmen und stellte sich danach in seinem Amtszimmer den zahlreichen Fotografen.

Amtseid: Nach seiner Wahl im Kieler Landtag wurde Björn Engholm am 31. Mai 1988 von Parlamentspräsidentin Lianne Paulina-Mürl als neuer Regierungschef vereidigt. Er versuchte einen neuen politischen Stil einzuführen, der sich in mehr "Transparenz, Modernität, Kooperation und Bürgernähe" ausdrücken sollte.

Hoffnungsträger: Am 15. März 1991 präsentierte der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel (rechts) bei einer Pressekonferenz seinen designierten Nachfolger Björn Engholm. Der in Schleswig-Holstein erfolgreich und effizient regierende Ministerpräsident war der neue Hoffnungsträger der SPD.

Retter in der Not: Als Björn Engholm im Mai 1991 SPD-Vorsitzender wurde, schien er dank seiner Erfolge in Schleswig-Holstein prädestiniert für dieses Amt. Der smarte Schöngeist galt nach dem Wahldebakel vom Dezember 1990 als Retter aus der Not. Doch die SPD war, wie der SPIEGEL in einer Titelgeschichte zur Engholm-Wahl analysierte, tief gespalten; dem neuen Parteichef wurde wenig Integrationskraft zugetraut. Pazifist Engholm war, im Gegensatz zum gesamten Partei-Establishment, strikt gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, auch unter Uno-Flagge. Und er plädierte, anders als Willy Brandt, dafür, dass Bonn Regierungssitz bleiben solle.

Nächstenliebe oder Erpressung? Der SPD-Landesvorsitzende Günther Jansen ließ Barschels ehemaligem Medienreferenten 1988 und 1989 in zwei Tranchen insgesamt rund 50.000 Mark überbringen. Er gab an, in seiner Küchenschublade Geldscheine gesammelt zu haben, um den arbeitslos gewordenen Journalisten finanziell unter die Arme zu greifen. Zweifler hingegen glaubten, Pfeiffer habe die SPD wegen deren früher Mitwisserschaft um die Machenschaften gegen Engholm erpresst.

Geldbote: Klaus Nilius, ehemaliger Pressesprecher der Landes-SPD, hatte Reiner Pfeiffer bei zwei heimlichen Treffen im Auftrag von Jansen insgesamt rund 50.000 Mark in bar übergeben. Nilius (hier als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss) hatte im Juli 1987 als erster Sozialdemokrat direkten Kontakt mit Pfeiffer gehabt.

Wahrheitssuche: Ein neuer Untersuchungsausschuss im Landtag wurde "Schubladenausschuss" genannt. Der Vorsitzende Heinz-Werner Arens (rechts, SPD) und sein Stellvertreter Bernd Buchholz (FDP) bemühten sich in 241 Sitzungen mit rund 250 Zeugenvernehmungen, die Hintergründe der Geldübergabe an Pfeiffer zu ermitteln. Die Version des SPD-Landesvorsitzenden Günther Jansen konnte nicht widerlegt werden. Der Ausschuss revidierte jedoch teilweise die Ergebnisse des ersten Barschel-Untersuchungsausschusses.

Engagement für Kultur: Mit seiner Ehefrau Barbara, einer Malerin, mit der er seit 1964 verheiratet ist (hier ein Foto von 1988), verband Engholm schon immer die enge Beziehung zu Kunst und Kultur. Nach dem Rücktritt aus der Politik engagierte er sich ehrenamtlich unter anderem als Kulturkurator der Lübecker St.-Petri-Kirche, als Beiratsvorsitzender der Universität und der Musikhochschule in Lübeck sowie im Kulturbeirat Wismar-Stralsund. 2001 gründete er das Kulturforum Schleswig-Holstein und leitete es bis 2011.

Seifenoper: In einer Folge der ZDF-Serie "Der Landarzt" spielte Ministerpräsident Björn Engholm im März 1993 sich selbst. Der Doktor (Walter Plathe) und seine Assistentin (Antje Weisgerber) verabreichten ihm nach einem Sturz vom Fahrrad eine Tetanusspritze.

Ostsee-Kooperation: Nach seinem Rückzug aus der Politik widmete sich Engholm verstärkt auch den Beziehungen der Ostsee-Anrainerstaaten untereinander. Schon in den Achtzigerjahren hatte er die Idee einer "Neuen Hanse" entwickelt. 1997 wurde er Vorstandsmitglied des deutsch-finnischen Vereins "Pro Balticum Forum. Für seine Verdienste zur Förderung der deutsch-skandinavischen Beziehungen wurde Engholm am 13. Juni 2005 in Oslo der Willy-Brandt-Preis verliehen.