Frühe Fahrrad-Stunts Todessprünge auf dem Drahtesel

Sie rasten über Löwengruben, überquerten Wasserfälle auf dem Drahtseil: Ende des 19. Jahrhunderts wurden Rad-Artisten zur Attraktion von Jahrmärkten und Zirkussen. Zwischen den Künstlern entbrannte ein halsbrecherischer Wettkampf, den manche mit dem Leben bezahlten.
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Galionsfigur: Wer als Fahrradartist auch einen Hang zum aufkommenden Bodybuilding hatte, war bei dieser abenteuerlichen Übung gut beraten. Seine Bauchmuskeln haben es dem Fahrer sicher gedankt.

Foto: Science Museum/Science & Society Picture Library & Old House Books & Maps
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Gemütlich auf dem Lenker sitzen: Im Jahr 1901 erschien im Londoner Verlag Sands & Company ein gewagtes Buch: "Fancy Cycling" von Isabel Marks. Dass es dabei um mehr als nur normales Radfahren gehen sollte, machte schon das Titelbild klar: Lässig saß da ein bestens gekleideter Gentleman mit verschränkten Armen auf einem Rad, die Füße auf dem querstehenden Vorderreifen - und das alles frei balancierend -, ähnlich wie auf diesem Bild. Laut Untertitel wollte Marks nicht weniger vermitteln als "Trickfahren für Amateure".

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Tricks zum Nachmachen? Das Buch, das 2013 als Neuauflage unter Radfans Furore machte, ist eine bebilderte Anleitung. Nach bescheidenen sechs Seiten Einleitung zeigen Isabel Marks' Fotos das Können versierter Hobby-Radartisten. Zudem gibt es detaillierte Beschreibungen, wie man diese Tricks hinbekommt - etwa das Balancieren auf dem Vorderreifen.

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Entfaltung von Talenten: Im gestelzten Stil der edwardianischen Zeit erklärt Marks die Vorzüge der körperlichen Ertüchtigung und welch positiven Einfluss diese sowohl auf die körperlichen als auch die geistigen Fähigkeiten der Übenden hat. Da konnten Eltern also froh sein, wenn ihre Kleinen einen etwas unorthodoxen Fahrstil entwickelten.

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Adrett ist nett: Bei der Präsentation ihrer Kunst achteten die Fahrer auf die zeitgenössische Etikette und führten die Tricks im typischen Sport-Ornat der Zeit vor - die Herren im Anzug mit streng geknöpfter Weste und mit Hut,...

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...die Damen in hochgeschlossenen Kleidern, gewienerten Stiefeln und mit opulentem Kopfschmuck.

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Würdevoll: Erhaben und mit stoischer Ernsthaftigkeit verrenkten sich die Sportler. Radartistik betrieb man schließlich nicht zum Spaß, sondern zuvorderst, um seine Beherrschung des Fahrgeräts auch unter widrigen Umständen zu optimieren. Um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, die Radartistik diene womöglich keinem höheren Zweck,...

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...liefert Marks schon im Vorwort ein ganzes Bündel trefflicher Argumente: Auch bei der Landfahrt seien solcherart artistisch trainierte Fahrer für jede sich aus schlechtem Straßenzustand oder überraschender Gefahr ergebende Widrigkeit gerüstet.

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Hoch hinaus: Mit einem Fuß auf dem Sattel und dem anderen auf dem Lenker gondelt dieser Fahrradartist über eine Rasenfläche Londons. Für Laien ist diese Übung nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen - erst recht nicht bei plötzlichen Gefahren oder beim nächsten Schlagloch.

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Wer übt denn da? Man fragt sich, wer das ist, der oder die da über solche halsbrecherischen Fähigkeiten verfügt. Die Fahrer, die in "Fancy Cycling" ihre Tricks zeigen, sind ihrer Kleidung nach Mitglieder der gehobenen Gesellschaft. Dem Buch ist das nicht zu entnehmen, aber es waren wohl Mitglieder Londoner Fahrrad-Clubs - nichts Ungewöhnliches für die Zeit.

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Beschwingt: Mit den damaligen schnörkellosen Fahrmaschinen ließ sich so mancher Stunt bewerkstelligen. Dieser Artist stützt sich auf den Lenker, um sich mit Schwung aus dem Sattel zu heben.

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Früh übt sich: Marks' Buch brachte eine ganze Reihe populärer Trends zusammen. Stuntfahrer und Radartisten beeindruckten seit den 1870er Jahren ihr Publikum auf Jahrmärkten und im Zirkus. Viele waren regelrechte Stars ihrer Zeit. So eiferten bereits die Kleinsten den bekannten Vorbildern nach. Zudem hatte...

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...eine Reihe von Erfindungen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem beispiellosen Fahrrad-Boom geführt: Der Bau des sogenannten Sicherheits- oder Niederfahrrads (im Gegensatz zum wackeligen Hochrad), kombiniert mit den 1888 von Dunlop entwickelten Gummireifen, hatte das Fahren nicht nur bequemer, sondern auch leichter gemacht, und beflügelte die Fahrer zu Stunts wie diesem.

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Hobby-Artisten: Mit der Heerschar neuer Radfahrer, die Monat für Monat hinzukamen, stieg auch der Bedarf an Unterweisung. Fahrradfahrschulen entstanden überall im Land. Hier zum Beispiel übt ein Stunt-Fahrer in der Londoner Jarvis' School, 81 Euston Road. Hinzu kamen Clubs mit Freizeit- oder Sportinteressen. Die meisten davon waren an Rennen interessiert, ansonsten teilte sich die Masse der Radfahrer in solche, die das Rad als Transportvehikel brauchten, und solche, die es für die kultivierte Spazierfahrt nutzten.

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Sport im Trend: Die von Deutschland kommende Turnerbewegung fand immer mehr Anhänger, aus Skandinavien schwappte eine Bodybuilding-Mode über den Kontinent. In Großbritannien feierten frühe, angeblich asiatisch inspirierte Kampfsportarten Erfolge, und "olympische" Athletik als Mittel, Körper und Geist zu veredeln, war unter Englands Gentlemen bereits seit dem 18. Jahrhundert fest etabliert. Doch...

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...seinen spektakulärsten Ausdruck fand dieser Zeitgeist 1896 mit der ersten internationalen Olympiade der Neuzeit. Sie rückte den Sport als respektable Beschäftigung ins öffentliche Bewusstsein. Und das erstarkende, von der Emanzipationsbewegung gestützte Selbstbewusstsein der Frauen sorgte dafür, dass auch sie hier schnell ihren Platz beanspruchten. Diese beiden Damen versuchen es gleich im Doppelpack.

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Eindrucksvoll zurückgeradelt: In der Neville-Halle am Berkeley Square übt ein Fahrer einen besonders spektakulären Trick. Er sitzt auf seinem Lenker und fährt rückwärts. Die große Halle ist auf einigen der Fotos von "Fancy Cycling" zu erkennen. Sie dürfte tatsächlich eine Übungshalle für Radartisten gewesen sein. Ihr Besitzer war ein Herr Neville, der sie Isabel Marks unentgeltlich zur Verfügung stellte. Seine Gegenleistung: Marks legte der ersten Auflage ihres Buches einen Werbeflyer von Neville bei - für dessen Automobil-Fahrschule in Kensington. Denn...

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...Automobilhersteller und andere Dienstleister hatten ein Interesse an der Masse an Radfahrern. Waren das nicht Leute, die ihr Interesse am schnellen Transport jeden Tag demonstrierten? Die bereit waren, Geld für Fahrmaschinen auszugeben? Die enorm viel Zeit investierten, um ihr Fahrzeug zu meistern? Verlässliche Statistiken gibt es nicht, doch...

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...Schätzungen zufolge fuhren in den Städten Englands in den Jahren ab 1890 mehr Fahrräder als heute: Es war neben der Kutsche und vor den Bussen und frühen Straßenbahnen das dominante Fahrzeug der Zeit. Autos stellten noch keine große Konkurrenz oder Alternative dar. Die schweren Dampf- und Elektromobile waren für normale Bürger unerschwinglich, und Benzinfahrzeuge hatten sich noch nicht durchgesetzt. Radartisten zumindest konnten sich mit Stunts dieser Art leicht von der Masse absetzen.

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Wachsende Lobby: So groß war die Masse der Fahrer, dass bereits 1890 Fahrradclubs in England damit begannen, die Regierung zum Ausbau besserer, gepflasterter Straßen zu drängen - mit einigem Erfolg. Es sollte den Boom der Fahrräder für einige Jahre weiter antreiben - und später den Autoverkehr begünstigen.

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Wachsende Verbreitung: Um die Jahrhundertwende fiel der Preis für einen Drahtesel so weit ab, dass die neuen Fahrzeuge auch für Arbeiter erschwinglich wurden. In Londons Parks tummelten sich an Sonntagen nun viele tausend Radfahrer, und man musste ihnen auf den Wegen zeitweilig die Fahrtrichtung vorschreiben: Ein endloser Strom radelnder Menschen nutzte öffentliche Parkanlagen als Rundkurs. Dieses Mädchen gehört zwar wohl nicht zur Arbeiterschicht, hat sich aber für das Training mit ihrem blitzblank polierten Drahtesel zumindest sonntagstauglich herausgeputzt.

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Mehrwert: Ob es Isabel Marks gelang, mit ihrem Buch auch einen Rad-Akrobatik-Trend loszutreten, ist nicht überliefert. Klar ist, dass es bereits ab den 1870ern zahlreiche Radclubs gab, von denen etliche Übungshallen unterhielten und sportliche Aktivitäten förderten. Diese Dame versucht, ihre sportliche Betätigung gleich mit dem Nützlichen zu verbinden: Während sie rückwärts auf dem Fahrrad balanciert, strickt sie.

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Der Schwerkraft getrotzt: Der junge Mann drückt mit dem rechten Fuß auf dem Sattel das Rad von sich weg und zieht es zugleich an Vorderrad und Lenker zu sich hin. Sein Sport wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich populär. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass der Fahrrad-Boom, auf dessen Höhepunkt Marks' Buch erschien, so plötzlich endete, wie er begonnen hatte. Ab 1905 mehrten sich die Motorwagen in den Städten, vor allem kam es nun zu einem rapiden Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel. Elektrische Straßenbahnen...

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...und U-Bahnen machten in den Großstädten neben Omnibuslinien den motorisierten Verkehr für viele erschwinglich. Das Heer der Berufspendler verlegte sich auf bequemere, weniger schweißtreibende Fortbewegungsarten, während Vermögende nun nicht mehr nach dem Fahrrad, sondern nach dem eigenen Auto strebten. Das Fahrrad wurde zum Freizeitvehikel - und zum Fahrzeug weniger betuchter Schichten. Es jedoch nur auf einer Seite benutzen zu können, wie hier zu sehen, machte bestimmt nach wie vor was her.

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Alltagstauglich: Auch diese Übung, die ebenfalls in der Trainingshalle der Neville School präsentiert wurde, hat bei Zuschauern bestimmt für einige Aufmerksamkeit gesorgt. Die Dame hebt während des Radfahrens ein am Boden liegendes Taschentuch wieder auf - im Alltag bestimmt von Nutzen.

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Radfahren ohne Fortkommen: Eine Variation dieses Tricks beschreibt Marks in ihrem Buch. Das Rad wird "so aufgestellt, dass es auf Sattel und Griffen steht. Der Fahrer steht mit dem Gesicht zum Hinterrad. Um aufsteigen zu können, muss er den linken Fuß über die Halterung bringen und auf dem rechten Pedal platzieren, während er das Hinterrad festhält, um jedwede Bewegung des Fahrrads zu verhindern. Während er solchermaßen beschäftigt ist und so über das rechte Pedal aufsteigt, wird der rechte Fuß zum ungenutzten Pedal geführt. Sodann wird das Hinterrad losgelassen, und die Pedale werden in Drehung versetzt, die dann natürlich die Füße des unerschrockenen Artisten mitnehmen (...). Das Treten der Pedale muss sehr regelmäßig ausgeführt werden, während der Balance, falls notwendig, mit Armbewegungen nachgeholfen werden kann."

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