Nachkolorierte Bilder Was der Fotograf wirklich sah (vermutlich)

Jahrzehntelang war die Welt auf Fotos schwarz-weiß, nun hauchen Spezialisten alten Aufnahmen Farbe ein. Wird die Vergangenheit dadurch verfälscht?

Arbeit im Stahlwerk: Glühend heiß läuft der flüssige Werkstoff aus dem riesigen Ofen. Die Schwarzweiß-Aufnahme von ca. 1940 war Grundlage ...

... einer Kolorierung von Dana Keller, die viel Präzision verlangt. Der Künstler und gelernte Archivar hat sich zum Ziel gesetzt, "das Bild als Farbfoto glaubhaft zu machen".

Marsch auf Washington: Mehr als 200.000 Menschen nahmen im August 1963 an der Bürgerrechtsdemo teil. Das Kolorieren eines historischen Schwarz-Weiß-Fotos ...

... verlangt Sachkenntnis und Recherche. Etwa hinsichtlich der korrekten Farbwahl bei Uniformen oder verbreiteten Logos. Doch die Forschung hat Grenzen, weiß Dana Keller. Es lassen sich nicht die Farben jedes einzelnen Kleidungsstücks ermitteln.

Hai gefangen: Die Aufnahme des Jungen entstand ca. 1915 im Hafen von Russell, Neuseeland. Wer der Junge ist, ist mit dem Foto nicht überliefert. Doch der Kleiderstil und die typische Bebauung könnten Hinweise ...

... auf die originale Farbgebung geben. Der Prozess der Bildbearbeitung, sagt Marina Amaral, "mag einfach klingen - ist es aber nicht. Ich muss so genau wie möglich sein bei jedem Aspekt des Bildes."

Luna Park auf Coney Island, New York: Die Aufnahme des Vergnügungsparks entstand kurz nach seiner Eröffnung 1903. 1944 wurde der Park durch ein Feuer weitgehend zerstört. Die Qualität der Kolorierung, sagt Dana Keller, hänge im Wesentlichen ...

... von der Original-Vorlage ab. "Eine breite Palette von mittleren Grauwerten ist zwingend notwendig."

Zu viel Staub: Der Farmersjunge aus dem Cimarron County, Oklahoma hält sich die Hand vor das Gesicht. Die Aufnahme von Arthur Rothstein entstand 1936 in Rahmen einer Fotokampagne der Farm Security Administration.

Die "Staubschüssel", zu der die Region nach Rodung der Prärie und infolge langer Dürre geworden war, könnte für den Fotografen so ausgesehen haben, vermutet Dana Keller.

Vier Schwestern: Als Anna Alexandrowna Wyrubowa 1920 nach Finnland floh, hatte das ehemalige Hoffräulein einige ledergebundene Fotoalben im Gepäck. Die enge Vertraute von Alix von Hessen-Darmstadt, besser bekannt als Gattin von Zar Nikolaus II, veröffentlichte im Exil ihre Erinnerungen an die im Juli 1918 ermordeten Romanows. Zu den geretteten Fotografien gehört diese Aufnahme der vier Zarentöchter an Bord der kaiserlichen Yacht.

Weiße Kleider, schwarze Schuhe. Fotohistoriker Anton Holzer sieht das Kolorieren kritisch: "Es zeigt uns die Welt vor 100 Jahren nicht realer oder besser." Das Einfärben bringe "keinen Zugewinn an historischer Erkenntnis."

Das Bild vom Krieg: Soldaten der 1. US-Infanteriedivision patrouillieren am 3. August 1944 auf einer einsamen Straße im französischen Mortain. Zwei Monate zuvor waren sie an den Stränden der Normandie gelandet. Die Aufnahme in Schwarzweiß verstärkt den Eindruck von Zerstörung und Tristesse. In Farbe ...

... könnte die gleiche Szene so ausgesehen haben - eine Bearbeitung von Marina Amaral.

Kriegsende: Amerikanische Truppen befreiten Anfang Mai 1945 das KZ Wöbbelin bei Ludwigslust. Die Szene zeige einen Insassen, der in Tränen ausbrach, als er erfuhr, dass er nicht gleich mit der ersten Gruppe ins Krankenhaus gebracht werde, notierte Armeefotograf Ralph Forney zu der Aufnahme.

So stellt sich die Grafikerin Marina Amaral die Szene vor, die sich Forney bot. "Ich versuche, eine zweite Perspektive zu bieten - und das mit viel Respekt", sagt die Künstlerin über ihre Arbeit.

US-Flagge: Bis Ende des 19. Jahrhunderts dominierten in der aktuellen Berichterstattung Zeichnungen, danach expandierte der Fotojournalismus. Farbbilder allerdings kamen bis in die Dreißiger- und Vierzigerjahre kaum als schnelles Medium in Frage. Verstanden wurde die Botschaft auch in schwarz-weiß:

Nach Monaten der Belagerung wehte am 16. März 1945 eine amerikanische Flagge in der französischen Kleinstadt Bitche, deutsch: Bitsch, in Lothringen. Bearbeitung: Marina Amaral

Erster Weltkrieg: Ein französischer Junge macht sich im September 1914 mit indischen Soldaten bekannt, die in der Nähe von Marseille campieren. Der ganz überwiegende Teil aller Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg ist schwarzweiß.

Marina Amaral hat der Szene Farbe gegeben.

Brennender Mönch: Die Aufnahme wurde weltbekannt. Der Vietnamese Thích Quảng Đức tötet sich am 11. Juni 1963 in Saigon durch Selbstverbrennung, um gegen die Unterdrückung und Verfolgung von Buddisten in Südvietnam zu protestieren. Augenzeugen waren unter anderem der Journalist David Halberstam von der "New York Times" und der Fotograf Malcolm W. Browne. Sein Bild wurde später als Pressefoto des Jahres 1963 ausgezeichnet. Obwohl die Aufnahme schwarz-weiß war, weiß man heute, dass es sich bei dem Fahrzeug im Hintergrund ...

... um einen himmelbauen Austin handelt. Thích Quảng Đức war mit diesem Wagen von seinem Kloster in Zentralvietnam nach Saigon gekommen. Der Austin A95 ist bis heute in der Thien Mu-Pagode im vietnamesischen Huế zu besichtigen.

Lee Harvey Oswald: Als mutmaßlicher Mörder des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy war Lee Harvey Oswald am 23. November 1963 in der Polizeistation Dallas zu einer Befragung geholt worden. Sehr viel mehr aktuelle Fotos sollte es von ihm nicht geben - einen Tag später wurde Oswald erschossen.

Marina Amaral hat das Porträt von Lee Harvey Oswald, dem mutmaßlichen Mörder John F. Kennedys, koloriert.

Junge mit Hund: Fotograf Leslie Jones dokumentierte fast 40 Jahre lang für den "Boston Herald Traveler" Gewöhnliches und Außergewöhnliches im Alltag von Boston, Massachusetts. Diesen Jungen mit Hund entdeckte er 1947 als Motiv. Bei dem Tier handelt es sich um einen Boston Terrier, seit 1979 ist die Rasse offiziell "State Dog" von Massachusetts. Die Farbe des Tieres war damit nie strittig.

Auch nach der Kolorierung des Fotos blieb der Boston Terrier schwarz mit weißen Markierungen auf der Schnauze, der Brust und der Stirn.

Al Capones Suppenküche: Arbeitslose Männer 1931 in einer Warteschlange vor einem Laden, der kostenlos Suppe, Kaffee und Donuts ausgab. Die Suppenküche in Chicago gehörte dem berüchtigten Gangster Al Capone, der mit derartigen Wohltätigkeitsaktionen sein Image aufzubessern versuchte.

Das Gebäude steht heute nicht mehr, die Küche war in den Fünfzigerjahren abgerissen worden. Für die Farbgebung gab es damit kein Referenzobjekt. Hinsichtlich Kleidung und Beschilderung orientierte sich Dana Keller an den gebräuchlichen Farben der frühen Dreißigerjahre. Circa zwei Tage nahm die Bearbeitung des Motivs in Anspruch.