Kritzelbilder Ist das Kunst, oder kann das weg?

Kleine Kunstwerke von Nebenbei-Zeichnern: Dieses Fabelwesen könnte ein Shrimp sein, meint Mathematikdozent Rainer Klages. Er ist bekennender Kritzelkünstler und zeichnet am liebsten bei Mathematik- und Physikvorträgen. Das Argument, Kritzeln helfe bei der Konzentration, hält er für eine Ausrede - Psychologen sehen das anders.

Einfach loslegen: Wenn Rainer Klages mit dem Kritzeln anfängt, weiß er meist selbst nicht, welche Figuren am Ende dabei herauskommen. "Das ist anders, als am Tisch zu sitzen und gezielt zu malen, es ist eine andere Art von Kreativität."

In den meisten Physikvorträgen kommen abstrakte Zeichen und Symbole vor, deshalb fällt seine Kritzelei nur selten auf. "Wenn bei Tagungen erst der rechte und dann der linke Sitznachbar komisch guckt, ist mir das teilweise schon peinlich", gibt Klages zu. Beschwert habe sich aber noch niemand.

Mit Sternchen und Spiralen haben die Kritzeleien von Friedhelm Feldkamp, 50, wenig zu tun: Es sind Karikaturen, die auch in Zeitungen gedruckt werden könnten. Der Pastor der Petruskirchengemeinde in Barsinghausen bei Hannover zeichnet nebenher - zum Beispiel bei Sitzungen des Kirchenkreises, Besprechungen mit Gemeindemitgliedern, Konfirmandenfreizeiten.

"Zehn Minuten, mehr brauche ich nicht für eine Zeichnung", sagt Feldkamp. Schon als Student war Feldkamp begeisterter Kritzler, das gefiel nicht jedem Dozenten.

Wenn Konfirmanden gedankenverloren im Unterricht zeichnen, bekommen sie oft Ärger. Bei Pastor Feldkamp nicht - er hat dafür viel Verständnis.

Zu diesem Kritzelbild hat Pastor Feldkamp gedichtet:
So kriegt man aus schnöden, ollen,
lästigen Sitzungsprotokollen
mit ein paar Strichen hier und dort
die Langeweile ganz fix fort.

Auf Facebook hat Michael Laumer die Seite Sitzungskunst gegründet und stellt dort eigene Werke und die von Kollegen aus. "Zum ersten Mal muss ich gestehen: Diese Zeichnung entstand aus purer Langeweile. Könnte glatt als Tarotkarte oder Rückseite eines Kartendecks durchgehen", schreibt er zu diesem Werk.

Güterzug, Grundrisse, Armband? "Bei dieser Zeichnung aus einer Entwicklerbesprechung fällt mir die Deutung schwerer als sonst", sagt Laumer. Ein Förderband für Tabletts oder ein Samuraischwert schlugen zwei Facebook-Fans vor.

Martin Silbernagl, 46, arbeitet als Verwaltungsinspektor in der Südtiroler Landesverwaltung. Die Pinnwand hinter seinem Schreibtisch hat er mit Kritzelbildern gespickt. "Inzwischen haben sich meine Vorgesetzten und Kollegen daran gewöhnt", sagt er.

"Ursprünglich habe ich mit jenen Stiften gekritzelt, die gerade greifbar waren. Mittlerweile habe ich mir sieben verschiedenfarbige Stifte zugelegt, aus denen ich vor einer Sitzung je nach Stimmung den passenden auswähle", so Silbernagl.

300 bis 400 Bilder hat Silbernagl in den vergangenen acht Jahren gekritzelt, schätzt er: "Effektiv konzentriere ich mich durch meine Kritzeleien besser, allerdings nur auf jene Dinge, die mich interessieren oder die mich persönlich betreffen. Alles andere blende ich mehr oder weniger aus."

Anfangs sei er mit seinen Kritzeleien negativ aufgefallen, sagt Silbernagl: "Man warf mir vor, ich würde der Sitzung nicht aufmerksam folgen - was nicht der Fall war."

Auch SPIEGEL-ONLINE-Reiseredakteurin Antje Blinda ist bekennende und praktizierende Kritzelkünstlerin. Diese Stadt hat sie während einer Redaktionskonferenz auf den Themenplan gezeichnet.

"Ich mag Motive, die sich der Dauer der Konferenzen anpassen - je länger, desto komplexer, bis sie ganz schwarz gestrichelt sind", erzählt Blinda.

"Konferenzen sind ideal zum Perspektive-Üben, machmal inspiriert auch der Blick aus dem Fenster", sagt Antje Blinda. Diese Straßenszene kann sie aus dem Fenster des neuen SPIEGEL-Gebäudes aber kaum gesehen haben.

Martin Schabet, 55, arbeitet als Neurologe in einem Krankenhaus in Ludwigsburg. Mindestens zwei Bilder kritzelt er jeden Tag, das erste in der Morgenkonferenz. Seinen Füller mit blauer Tinte hat er immer griffbereit.

Weißes Papier ganz ohne Schrift oder Aufdruck mag Schabet nicht: "Wenn sich die Kritzeleien mit den Notizen vermischen, hat man gleich einen Bezug und weiß, wann das Bild entstanden ist."