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1. Mai in Berlin: Ausnahmezustand in Kreuzberg

Foto: imago/ Peter Homann

1.-Mai-Krawalle Eins, zwei - Keilerei!

Es fliegen die Steine, scheppern die Scheiben, sausen die Schlagstöcke - so begann es 1987 in Berlin mit der Mutter aller Krawallnächte. Und so ging es lange weiter: rituelle Randale mit viel Adrenalin und Alkohol.

Der Mann, der sagt, ohne ihn und andere hätte es all das nicht gegeben, die Steinhagel, die Feuerstürme, die unerwartete Eskalation - er sitzt an seinem Arbeitsplatz in Kreuzberg: ein Verschlag im Erdgeschoss eines verwitterten Altbaus, bis an die Decke voll mit theorielastigen Büchern und praktischem Beiwerk, von Sturmmaske bis Hoodie. Hans-Georg Lindenau heißt der Hüter dieses Sammelsuriums. Es ist ein Devotionaliengeschäft der linken Szene, bekannt als "M99 - Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf" und bereits eröffnet, als Berlin noch eine Enklave im Kalten Krieg war.

Am 1. Mai 1987 löste Lindenau mit anderen Autonomen einen der größten Straßenkrawalle in der Geschichte der Bundesrepublik aus. HG, wie ihn alle nennen, ist heute 58 und ein Altvorderer in Berliner Anarcho-Kreisen. Einen "Vermittler" nennt er sich rückblickend.

Die Randale gilt als "Mutter aller Krawallnächte". Sie erinnerte damalige Einsatzkräfte an Riots im bürgerkriegslädierten Belfast. Die Bilanz: 36 geplünderte Geschäfte, 35 Brände, Hunderte Verletzte.

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1. Mai in Berlin: Ausnahmezustand in Kreuzberg

Foto: imago/ Peter Homann

Seither kehrt das Ritual jährlich am Tag der Arbeit zuverlässig wieder. Unter den leuchtenden Blüten frühlingshafter Bäume kämpfen linke Aktivisten und Hundertschaften der Polizei um die Hoheit im Stadtteil - lange mehr, zuletzt weniger erbittert. Die 87er-Urerfahrung ist in der lokalen Geschichtsschreibung so tief verankert, dass die Protagonisten noch heute über den Hergang debattieren, wie Veteranen einer Schlacht.

Alles Schweine außer Mutti

HG Lindenau, der Aufwiegler, erinnert sich vor allem an die angespannte Atmosphäre vor der Eruption: "Es gab verschiedene Frustenergien." Da war die 750-Jahr-Feier der Stadt, die der von Eberhard Diepgen geführte Senat mit einer pompösen Party in den ICC-Hallen zelebrieren wollte - während Kreuzberg als "Hinterhof West-Berlins" darbte, vor allem der dauernervöse Bezirk 36 mit einer Jugendarbeitslosenquote von 40 Prozent, von der bürgerlichen Presse als "Elendsquartier" beschrieben. Und da war der Glaubenskrieg um die Volkszählung, die der Bund für das Frühjahr 1987 geplant hatte. Im linksalternativen Milieu sah man darin einen Generalangriff auf Persönlichkeitsrechte.

Die linke Berliner Szene der Achtzigerjahre brodelte ohnehin: Die Subkultur fand ein Zuhause im Kreuzberger Punk-Zentrum SO36. Bereits ab 1980 hatten sich Hausbesetzer Kämpfe mit der Polizei geliefert, in der Besetzerszene mischten sich dabei Radikale mit zunächst friedlichen Protestlern, die sich "mit dem Schlagstock sozialisiert" sahen. Hinzu kam die lange politische Tradition des 1. Mai als Tag der Arbeit, über viele Jahrzehnte immer auch ein "Kampftag der Arbeiterklasse".

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Das wilde Jahrzehnt: Hausbesetzer, Punks und Prolls - Westberlin in den 80ern

Foto: Christian Schulz/ Die wilden Achtziger - Fotografien aus West Berlin/ Lehmstedt Verlag 2016

Das lieferte einer gewaltbereiten Minderheit einen dünnen Firnis für Straßenschlachten gegen das kapitalistische "Schweinesystem". Es war die Zeit von Parolen wie "Mollis und Steine für die Bullenschweine".

Alles in allem ein fruchtbarer Nährboden für ein bisschen Revolution zum 1. Mai 1987. "In den Wochen vorher wurde dafür geworben, dass es Barrikadenkämpfe gibt", sagt Lindenau. Flyer gegen die umstrittene Senatspolitik habe er verteilt und Infos, "auf Volksversammlungen und Kieztreffen", dass es zu einer Abriegelung kommen könnte. Er erzählt zudem von einer Telefonkette im harten Kern der autonomen Community, einer 200- bis 300-köpfigen Gruppe.

In die Hände spielte den Aufrührern, dass Polizisten am frühen Morgen des 1. Mai das Büro der Boykottkampagne gegen die Volkszählung durchsuchten. Dieses Muskelspiel des Senats erzürnte nicht nur Kreuzberger Spontis.

Steine, Flammen, Tränengas

Der Tag X war bilderbuchhaft - Frühling, 20 Grad, knatschblauer Himmel. "Ein Wetter, von dem man sagt, dass es die Salatköpfe sprengen lässt", sagt Lindenau. Die Ausschreitungen begannen auf einem Straßenfest am Lausitzer Platz, veranstaltet von der Alternativen Liste und der Sozialistischen Einheitspartei Westdeutschlands, dem SED-Ableger im Westen.

Sibylle Albrecht, pensionierte Grundschullehrerin und damals Anwohnerin, erinnert sich, wie nachmittags die Menschentrauben an den Ständen "immer schwarzer" wurden - die Uniformen der Autonomen als Vorboten des Ausnahmezustands. Die Provokateure stießen einen Polizei-Bulli um, bald flogen Steine auf einen Einsatzwagen in der Manteuffelstraße, einen Häuserblock entfernt.

Video von SPIEGEL TV: Kampf in den Mai, Kreuzberg 2010

SPIEGEL TV

Wie andere Besucher floh Albrecht vor dem anbrechenden Chaos. Vom Balkon ihrer Wohnung am Lausitzer Platz sah sie Bäume und Buden in Flammen aufgehen, "eine unwirkliche Situation".

Die alarmierten Polizeieinheiten, nach und nach aufgestockt, starteten eine Gegenoffensive. Deren Härte trug fatal zur Eskalation bei, zumal die Schlagstöcke auch auf Normalos niederprasselten. Das Feindbild von der Polizei als Handlanger einer überheblichen Staatsmacht: Es schien sich zu bestätigen.

In die angrenzenden Gründerzeitbauten warfen die Polizisten Tränengasgranaten. Einige trafen auch das Haus, in dem Sybille Albrecht lebte. "Das Gas zog durch alle Ritzen", erinnert sie sich. "Wir saßen mit nassen Tüchern vorm Gesicht."

Bolle hat sich nicht so prächtig amüsiert

Die folgende Nacht schuf den Mythos mit Bildern fürs ewige Inventar linksradikaler Protestnostalgie: der Bolle-Supermarkt, der von Desperados ausgenommen und danach vom Feuer verschlungen wurde - es war die Brandstiftung eines Pyromanen, wie sich später herausstellte ("Ich war der Feuerteufel"). Die ebenfalls brennenden Feuerwehrwagen. Die Barrikaden, die linke Straßenkämpfer aus Bauwagen und privaten Pkw errichteten. Deshalb sei der Bezirk 36 "stundenlang bullenfrei" gewesen, wurde später in einem Flugblatt behauptet.

Vor allem aber machte die Verbrüderung der Kiez-Community mit den Autonomen den 1. Mai 1987 zum geschichtsträchtigen Datum. So erhoben sich auch Studenten oder türkischstämmige Kids gegen die anrückenden Polizisten. Zeitweise wüteten rund tausend Randalierer.

Thomas Tietz, heute Polizeihauptkommissar, wurde damals als Verstärkung ins Kreuzberger Krisengebiet gerufen - als sich die Einsatzstelle meldete, lümmelte er gerade auf der Couch und sah "einen Actionfilm, wahrscheinlich irgendwas mit Rambo".

Myfest statt Mairandale

Tietz erzählt von einem "Guerillakrieg" in den Straßenschluchten von Kreuzberg 36. Die Exekutive, 900 Mann stark, konnte den Stadtteil erst befrieden, als den Gegnern am anderen Morgen die Kräfte schwanden, ermüdet von Pils und Rotwein aus den Regalen gekaperter Geschäfte.

Den Autonomen attestiert Tietz, den Aufstand "super geplant" zu haben - und meint vor allem die Abriegelung des Stadtteils mit strategisch geschickt errichteten Barrikaden. Sie machten es schwer, ins Randalezentrum durchzustoßen.

Dass die Krawalle so heftig wurden, war kaum abzusehen. "Es war wohl der gesamten Situation geschuldet", sinniert Hans-Georg Lindenau heute in seinem "Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf". Ein explosives Gemisch aus gleißender Wut auf "die da oben", Adrenalin und Alkohol.

In den Tagen vor der diesjährigen Mai-Parade strömen junge Revoluzzer, noch im Schulalter, mit Vans-Schuhen und zarten Gesichtern, in Lindenaus Geschäft und kaufen Sturmmasken - aus einem Sortiment, das der "Alleshändler" wie eine Marktfrau anpreist, "mit Schlitz, zwei Löchern oder drei Löchern". Die Nachfahren des 87er-Jahrgangs wollen selbst ein bisschen Subversion verkörpern.

Die Zeit paramilitärischer Konfrontationen ist indes vorbei. Die Polizei ist mittlerweile in Deeskalation geschult. Vor allem aber raubt eine Gegenveranstaltung der autonomen Szene seit 2003 weite Teile ihres Auflaufgebiets: das Myfest, organisiert von Friedensstiftern aus dem Kiez, von Geschäftsleuten und Bürgerinitiativen. Der große Rummel mit Hip-Hop-Bühnen und Caipirinha-Ständen lockt Zehntausende ins Herz des Stadtteils - Partytouristen haben die Barrikadenkämpfer von einst verdrängt.

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