
1.-Mai-Krawalle Eins, zwei - Keilerei!


- • Kreuzberg in den Siebzigern: Der Hinterhof West-Berlins
- • Berliner Punk-Zentrum SO36: Bier, Schweiß, Lärm und Freiheit
Der Mann, der sagt, ohne ihn und andere hätte es all das nicht gegeben, die Steinhagel, die Feuerstürme, die unerwartete Eskalation - er sitzt an seinem Arbeitsplatz in Kreuzberg: ein Verschlag im Erdgeschoss eines verwitterten Altbaus, bis an die Decke voll mit theorielastigen Büchern und praktischem Beiwerk, von Sturmmaske bis Hoodie. Hans-Georg Lindenau heißt der Hüter dieses Sammelsuriums. Es ist ein Devotionaliengeschäft der linken Szene, bekannt als "M99 - Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf" und bereits eröffnet, als Berlin noch eine Enklave im Kalten Krieg war.
Am 1. Mai 1987 löste Lindenau mit anderen Autonomen einen der größten Straßenkrawalle in der Geschichte der Bundesrepublik aus. HG, wie ihn alle nennen, ist heute 58 und ein Altvorderer in Berliner Anarcho-Kreisen. Einen "Vermittler" nennt er sich rückblickend.
Die Randale gilt als "Mutter aller Krawallnächte". Sie erinnerte damalige Einsatzkräfte an Riots im bürgerkriegslädierten Belfast. Die Bilanz: 36 geplünderte Geschäfte, 35 Brände, Hunderte Verletzte.
Seither kehrt das Ritual jährlich am Tag der Arbeit zuverlässig wieder. Unter den leuchtenden Blüten frühlingshafter Bäume kämpfen linke Aktivisten und Hundertschaften der Polizei um die Hoheit im Stadtteil - lange mehr, zuletzt weniger erbittert. Die 87er-Urerfahrung ist in der lokalen Geschichtsschreibung so tief verankert, dass die Protagonisten noch heute über den Hergang debattieren, wie Veteranen einer Schlacht.
HG Lindenau, der Aufwiegler, erinnert sich vor allem an die angespannte Atmosphäre vor der Eruption: "Es gab verschiedene Frustenergien." Da war die 750-Jahr-Feier der Stadt, die der von Eberhard Diepgen geführte Senat mit einer pompösen Party in den ICC-Hallen zelebrieren wollte - während Kreuzberg als "Hinterhof West-Berlins" darbte, vor allem der dauernervöse Bezirk 36 mit einer Jugendarbeitslosenquote von 40 Prozent, von der bürgerlichen Presse als "Elendsquartier" beschrieben. Und da war der Glaubenskrieg um die Volkszählung, die der Bund für das Frühjahr 1987 geplant hatte. Im linksalternativen Milieu sah man darin einen Generalangriff auf Persönlichkeitsrechte.
Die linke Berliner Szene der Achtzigerjahre brodelte ohnehin: Die Subkultur fand ein Zuhause im Kreuzberger Punk-Zentrum SO36. Bereits ab 1980 hatten sich Hausbesetzer Kämpfe mit der Polizei geliefert, in der Besetzerszene mischten sich dabei Radikale mit zunächst friedlichen Protestlern, die sich "mit dem Schlagstock sozialisiert" sahen. Hinzu kam die lange politische Tradition des 1. Mai als Tag der Arbeit, über viele Jahrzehnte immer auch ein "Kampftag der Arbeiterklasse".
Das lieferte einer gewaltbereiten Minderheit einen dünnen Firnis für Straßenschlachten gegen das kapitalistische "Schweinesystem". Es war die Zeit von Parolen wie "Mollis und Steine für die Bullenschweine".
Alles in allem ein fruchtbarer Nährboden für ein bisschen Revolution zum 1. Mai 1987. "In den Wochen vorher wurde dafür geworben, dass es Barrikadenkämpfe gibt", sagt Lindenau. Flyer gegen die umstrittene Senatspolitik habe er verteilt und Infos, "auf Volksversammlungen und Kieztreffen", dass es zu einer Abriegelung kommen könnte. Er erzählt zudem von einer Telefonkette im harten Kern der autonomen Community, einer 200- bis 300-köpfigen Gruppe.
In die Hände spielte den Aufrührern, dass Polizisten am frühen Morgen des 1. Mai das Büro der Boykottkampagne gegen die Volkszählung durchsuchten. Dieses Muskelspiel des Senats erzürnte nicht nur Kreuzberger Spontis.
Der Tag X war bilderbuchhaft - Frühling, 20 Grad, knatschblauer Himmel. "Ein Wetter, von dem man sagt, dass es die Salatköpfe sprengen lässt", sagt Lindenau. Die Ausschreitungen begannen auf einem Straßenfest am Lausitzer Platz, veranstaltet von der Alternativen Liste und der Sozialistischen Einheitspartei Westdeutschlands, dem SED-Ableger im Westen.
Sibylle Albrecht, pensionierte Grundschullehrerin und damals Anwohnerin, erinnert sich, wie nachmittags die Menschentrauben an den Ständen "immer schwarzer" wurden - die Uniformen der Autonomen als Vorboten des Ausnahmezustands. Die Provokateure stießen einen Polizei-Bulli um, bald flogen Steine auf einen Einsatzwagen in der Manteuffelstraße, einen Häuserblock entfernt.
Video von SPIEGEL TV: Kampf in den Mai, Kreuzberg 2010
Wie andere Besucher floh Albrecht vor dem anbrechenden Chaos. Vom Balkon ihrer Wohnung am Lausitzer Platz sah sie Bäume und Buden in Flammen aufgehen, "eine unwirkliche Situation".
Die alarmierten Polizeieinheiten, nach und nach aufgestockt, starteten eine Gegenoffensive. Deren Härte trug fatal zur Eskalation bei, zumal die Schlagstöcke auch auf Normalos niederprasselten. Das Feindbild von der Polizei als Handlanger einer überheblichen Staatsmacht: Es schien sich zu bestätigen.
In die angrenzenden Gründerzeitbauten warfen die Polizisten Tränengasgranaten. Einige trafen auch das Haus, in dem Sybille Albrecht lebte. "Das Gas zog durch alle Ritzen", erinnert sie sich. "Wir saßen mit nassen Tüchern vorm Gesicht."
Die folgende Nacht schuf den Mythos mit Bildern fürs ewige Inventar linksradikaler Protestnostalgie: der Bolle-Supermarkt, der von Desperados ausgenommen und danach vom Feuer verschlungen wurde - es war die Brandstiftung eines Pyromanen, wie sich später herausstellte ("Ich war der Feuerteufel"). Die ebenfalls brennenden Feuerwehrwagen. Die Barrikaden, die linke Straßenkämpfer aus Bauwagen und privaten Pkw errichteten. Deshalb sei der Bezirk 36 "stundenlang bullenfrei" gewesen, wurde später in einem Flugblatt behauptet.
Vor allem aber machte die Verbrüderung der Kiez-Community mit den Autonomen den 1. Mai 1987 zum geschichtsträchtigen Datum. So erhoben sich auch Studenten oder türkischstämmige Kids gegen die anrückenden Polizisten. Zeitweise wüteten rund tausend Randalierer.
Thomas Tietz, heute Polizeihauptkommissar, wurde damals als Verstärkung ins Kreuzberger Krisengebiet gerufen - als sich die Einsatzstelle meldete, lümmelte er gerade auf der Couch und sah "einen Actionfilm, wahrscheinlich irgendwas mit Rambo".
Tietz erzählt von einem "Guerillakrieg" in den Straßenschluchten von Kreuzberg 36. Die Exekutive, 900 Mann stark, konnte den Stadtteil erst befrieden, als den Gegnern am anderen Morgen die Kräfte schwanden, ermüdet von Pils und Rotwein aus den Regalen gekaperter Geschäfte.
Den Autonomen attestiert Tietz, den Aufstand "super geplant" zu haben - und meint vor allem die Abriegelung des Stadtteils mit strategisch geschickt errichteten Barrikaden. Sie machten es schwer, ins Randalezentrum durchzustoßen.
Dass die Krawalle so heftig wurden, war kaum abzusehen. "Es war wohl der gesamten Situation geschuldet", sinniert Hans-Georg Lindenau heute in seinem "Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf". Ein explosives Gemisch aus gleißender Wut auf "die da oben", Adrenalin und Alkohol.
In den Tagen vor der diesjährigen Mai-Parade strömen junge Revoluzzer, noch im Schulalter, mit Vans-Schuhen und zarten Gesichtern, in Lindenaus Geschäft und kaufen Sturmmasken - aus einem Sortiment, das der "Alleshändler" wie eine Marktfrau anpreist, "mit Schlitz, zwei Löchern oder drei Löchern". Die Nachfahren des 87er-Jahrgangs wollen selbst ein bisschen Subversion verkörpern.
Die Zeit paramilitärischer Konfrontationen ist indes vorbei. Die Polizei ist mittlerweile in Deeskalation geschult. Vor allem aber raubt eine Gegenveranstaltung der autonomen Szene seit 2003 weite Teile ihres Auflaufgebiets: das Myfest, organisiert von Friedensstiftern aus dem Kiez, von Geschäftsleuten und Bürgerinitiativen. Der große Rummel mit Hip-Hop-Bühnen und Caipirinha-Ständen lockt Zehntausende ins Herz des Stadtteils - Partytouristen haben die Barrikadenkämpfer von einst verdrängt.
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Ein bisschen Frieden: Der 1. Mai 1987 war ein herrlicher Frühlingstag mit blauem Himmel und gut aufgelegten Menschen. Viele Kreuzberger trafen sich am Lausitzer Platz zu einem Straßenfest. Die eher familiäre Zusammenkunft (Foto) wurde am Spätnachmittag zum Schauplatz erster Scharmützel: Autonome kaperten die Veranstaltung und kippten einen Polizeiwagen um. So begannen die Ausschreitungen, die in eine legendäre Krawallnacht mündeten.
Gewaltfreie Demonstrationen wie diese des Deutschen Gewerkschaftsbundes gehörten bis dahin seit Jahrzehnten zum üblichen Programm des 1. Mai. Dass die Situation in Berlin 1987 derart eskalierte, kam überraschend.
In der Oranienstraße attackierten Vermummte am Nachmittag des 1. Mai ein Polizeifahrzeug. Die Ausschreitungen breiteten sich in der Nachbarschaft des Straßenfestes aus; die Oranienstraße ist die kulturelle Schlagader des Kreuzberger Bezirks 36. Nach und nach beorderte die Polizei weitere Einheiten in den Stadtteil.
Auf dem Lausitzer Platz spitzte sich die Lage zu. Polizisten versuchten, sich vor Angriffen der Autonomen zu schützen. Später schleuderten Tränengasgranaten in Menschentrauben und auf angrenzende Häuser. Darunter litten auch Anwohner und Passanten, ebenso trafen Unbeteiligte auch Hiebe der Schlagstöcke. Viele Kreuzberger brachte das gegen die Staatsgewalt auf.
Anwohnerin Sibylle Albrecht besuchte 1987 das bunte Straßenfest vor ihrer Haustür, wie viele ihrer Nachbarn. Die Provokationen der Autonomen überraschten sie - ebenso die brachiale Reaktion der Polizei. Sie floh in ihre Wohnung und sah vom Balkon die Buden auf dem Platz in Flammen aufgehen. Albrecht selbst musste sich zu Hause vor Tränengas der Polizei schützen, mit "nassen Tüchern vorm Gesicht", wie die pensionierte Grundschullehrerin erzählt. Polizisten hatten Granaten in Richtung des Miethauses geworfen, in dem sie wohnte.
Burn, Berlin, burn: Die linke Stadtguerilla, die an diesem Abend in Kreuzberg 36 wütete, verwandelte den Kiez in eine Festung. An neuralgischen Punkten wurden Barrikaden errichtet - aus Bauwagen und Pkw, die teils in Flammen aufgingen. Das erschwerte es den Polizeieinheiten, zu den Widerständlern durchzubrechen und die Lage zu beruhigen.
Hans-Georg "HG" Lindenau spielte eine nicht unwesentliche Rolle bei der Vorbereitung des Aufstands. Der Anarchist, der bis heute Heldenstatus in der linken Szene genießt, hatte im Kiez die Nachricht verbreitet, dass es am 1. Mai "Bambule" geben könnte. Das Bild zeigt den Berufsrevolutionär, wie er 2016 gegen die Räumung seines Fachgeschäfts protestiert, der "M 99 - Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf" heißt.
Wie ein Bürgerkriegsgebiet wirkte Kreuzberg in den Abend- und Nachtstunden. Autos wurden angezündet, aber auch Geschäfte, etwa ein "Bolle"-Supermarkt an der Ecke Wiener/Skalitzer Straße. Bevor die Flammen das Lebensmittelgeschäft verschlangen, leerten Plünderer die Regale. Darunter waren Studenten ebenso wie Rentner.
Volkszählungsboykott: Der Streit über die Volkszählung polarisierte damals Deutschland - und spielte auch beim Gewaltausbruch 1987 mit. Als am Morgen des 1. Mai Beamte ein Büro der Boykottkampagne im Kreuzberger Mehringhof durchsuchten, wuchs die Wut auf das Establishment. Das Bild zeigt Demonstranten, die am 16. Mai 1987 gegen die geplante Volkszählung auf die Straße gingen, also gut zwei Wochen nach den Ausschreitungen: "Zählt nicht uns, zählt eure Tage!"
In Ost-Berlin wurde derweil der Tag der Arbeit als sozialistische Pflichtübung begangen - im Rahmen einer von Erich Honecker abgesegneten Kampfdemonstration in der Karl-Marx-Alle. Ein bisschen Lokalkolorit war dabei gern gesehen, sichtbar am Berliner Stadtwappen, das Teilnehmer in die Luft reckten. Schließlich feierte die geteilte Stadt 1987 ihren 750. Geburtstag.
Was in Ost-Berlin sonst los war: Nicht viel - dieses Foto vom Alexanderplatz sieht nur nach Randale aus, tatsächlich rannten Demonstranten los, weil sie von einem Gewitterschauer überrascht wurden.
Ansonsten ging alles seinen geordneten und gewohnten sozialistischen Gang mit einer Parade...
...und freundlich winkenden Genossen aus dem Politbüro, darunter Egon Krenz (Mitte)...
...während Vopos auf einem Balkon an der Karl-Marx-Allee beobachteten, ob sich auch alle Teilnehmer der traditionellen Maidemonstration brav an die Marschordnung hielten.
Unterdessen zog die Polizei in West-Berlin immer mehr Beamte zusammen, die wie hier in der Skalitzer Straße Ketten bildeten und die Protestler in Schach zu halten versuchten - mit aller Härte und unter Verzicht auf Bemühungen zur Deeskalation.
Der 1. Mai 1987 war der Auftakt zu jährlich wiederkehrenden Ausschreitungen am Feiertag. Das Bild zeigt die hitzige Atmosphäre während einer Demo 2004 in Kreuzberg: Polizisten drängen einen Demonstranten ab, dahinter wird eine Absperrung vom Feuer versengt.
Seit 2003 steigt das "Myfest" - und prompt wurde es in Kreuzberg friedlicher. Die volkstümliche Kiezparty soll den Autonomen die Kulisse für ihr Revoluzzer-Ritual rauben. Das Bild zeigt Besucher des Massenspektakels 2015. Zehntausende Menschen strömen an diesem Termin jährlich durch die Oranienstraße und Umgebung - Party- statt Krawalltouristen.
Krawalle in Hamburg: In Berlin haben die Ausschreitungen an Wucht verloren, in Hamburg indes rüsteten Autonome wie Polizei auf. Dort kommt es regelmäßig am 1. Mai im Schanzenviertel, rund um die Rote Flora, zu Auseinandersetzungen. Dieses Jahr könnten sie besonders heftig ausfallen - als linksextremer "Probelauf" für den G20-Gipfel, der Anfang Juli auf dem Messegelände ganz in der Nähe stattfinden wird.
Oben Sturmhaube, unten ohne: Der Berliner Häuserkampf brach im Dezember 1980 aus, nach einer verhinderten Besetzung am Kreuzberger Fraenkelufer. 1981 bemühten Hausbesetzer sich auch um fantasievolle Aktionen, wie hier eine "Nackt-Demo" gegen das "Vermummungsverbot". Fotograf Christian Schulz war immer mittendrin im Westberlin dieses Jahrzehnts und zeigt im Bildband "Die wilden Achtziger" (Lehmstedt-Verlag) eine Stadt zwischen Party und Randale.
Parallelgesellschaft: "Gefühl & Härte" lautete einer der alternativen Slogans der Achtzigerjahre - mit der Lebenswelt dieser beiden älteren Herrschaften im Vordergrund hat er wohl nur wenig gemein. Die Hausbesetzer und die alternative Szene waren im Westberlin der Achtzigerjahre eine radikale Minderheit.
Avantgarde: Unternehmungslustige junge Menschen kamen nicht nur als Wehrdienstflüchtlinge aus Westdeutschland nach Westberlin, sondern zum Beispiel auch aus Frankreich - so wie Françoise Cactus (links). Sie gründete zunächst mit Coco Nut (rechts) die Band Lolitas, später mit Brezel Göring Stereo Total.
No Fun: Fünf Jahre brauchte es, bis Punk 1981 den Weg von London nach Westberlin gefunden hatte. Bei vielen Linken und Alternativen standen die Jungen mit ihren kurzen Haaren zunächst unter Faschismusverdacht. Nachdem anarchistische Punkbands wie Slime Furore machten, entwickelte sich eine vergleichsweise politische Punk-Kultur.
Multi-Kulti: Westberlin war in den Achtzigerjahren schon eine multikulturelle Stadt, auch wenn die Zuwanderer noch kaum integriert waren. Türken stellten die größte Gruppe der Migranten, Kurden feierten Hochzeiten auf ihre Art, wie dieses Foto von Christian Schulz zeigt.
"Ich fühl' mich gut, ich steh' auf Berlin": Als domestizierte Punk-Variante und deutsche Version von New Wave war die Neue Deutsche Welle stilbildend für die Westberliner Musikszene der Achtzigerjahre. Die erfolgreichste Band aus der Mauerstadt war Ideal mit Sängerin Annette Humpe.
Arm und sexy: Westberlin war in den wilden Achtzigerjahren eine Stadt der Außenseiter und Randgruppen, der wohlhabende Mittelstand fehlte weitgehend. Das Leben war billig, viele Westberliner waren arm, aber die Stimmung war prima. Minderheiten aller Art konnten nach ihrer Façon selig werden.
Sunshine: Die besetzten Häuser - im Juni 1981 gab es 165 davon - waren Freiräume und Anziehungspunkte für exzentrische Charaktere aller Art. Die Punkerin Sunshine, mit bürgerlichem Namen Dagmar Stenschke (1947-2011), zog rastlos durch die Häuser und Kneipen der Besetzer- und Punkszene. Der Name "Sunshine" leitete sich ab von ihrem Lieblings-LSD.
"Jeder Mensch ist ein Künstler": Viele der Hausbesetzer gewannen für ihre Häuser prominente Paten, der Künstler Joseph Beuys wurde Pate des Schöneberger Hauses Bülowstraße 52. In der "taz" hieß es über einen Besuch von Beuys bei seinen Schützlingen: "Er fand alles nett: das Haus, die Besetzer und die Bewegung sowieso. Auch er kündigte für den Fall der Räumung des Hauses künstlerische Konsequenzen an."
Randale: Die Militanz der Autonomen und Hausbesetzer - Politiker sprachen von "Gewaltbereitschaft" - übertraf die der Achtundsechziger um ein Vielfaches. Im Juni 1981 hätten die Demonstranten fast das Schöneberger Rathaus stürmen können. Die Parolen der Straßenkämpfer waren nicht gerade feinsinnig: "Mollis und Steine, für die Bullenschweine".
Untergrund: In den frühen Achtzigerjahren entwickelte sich in Westberlin eine Musikszene, die eng mit der Besetzerbewegung verbunden war. So wohnte Blixa Bargeld von den stilbildenden Einstürzenden Neubauten in einem besetzten Haus in Schöneberg. Die Musik war düster, die Texte waren deutsch, die Klamotten schwarz. Die Frauenband Malaria! mit Sängerin Bettina Köster brachte es nicht nur auf die Bühne des SO36, sondern bis ins Studio 54 in New York.
Abriss: Seit Ende der Vierzigerjahre kannten die Westberliner Wohnungspolitiker nur eine Devise - Altbauten abreißen und neu bauen. Der konservative Verleger Wolf Jobst Siedler versuchte die Vergangenheitsbewältigung per Abrissbirne 1964 mit dem Buch "Die Gemordete Stadt" zu stoppen. Erst die Hausbesetzer konnten 1981 die Wende zur "behutsamen Stadterneuerung" mit Gewalt durchsetzen.
Die große Überraschung: Am frühen Abend des 9. November 1989 verkündete der Ostberliner Politiker Günter Schabowski, dass ab sofort Bürger der DDR ausreisen dürften. Wenige Stunden später warteten schon Hunderte am Checkpoint-Charlie in der Friedrichstraße darauf, dass die Grenzpolizisten die Mauer für die Ostberliner öffneten.
Der Mauerfall: Die kurzen Achtzigerjahre endeten für Westberlin mit dem Fall der Mauer und damit mit dem Ende der surrealen Mauerstadt. So gut wie alle Berliner wurden von dem epochalen Ereignis kalt erwischt. Und nach der Party kam schnell der Kater.
Westberlin-Willy: Am Tag nach dem Fall der Mauer trafen sich vor dem Schöneberger Rathaus, dem Domizil des Westberliner Abgeordnetenhauses, die Spitzenpolitiker der Bundesrepublik, darunter auch Willy Brandt. Von 1957 bis 1966 war Brandt ein überaus beliebter Regierender Bürgermeister der Mauerstadt gewesen - von ihm stammt der berühmte Satz: "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört."
Graue Stadt, prima Stimmung: West-Berlin war in den Achtzigerjahren ein surreales Soziotop mit Spießern und Spinnern, Punks und Hausbesetzern. Fotograf Christian Schulz war immer mittendrin. Sein Bildband "Die wilden Achtziger - Fotografien aus West-Berlin" ist kürzlich erschienen im Lehmstedt-Verlag.
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