
100 Jahre Carrera-Bahn und Co.: Formel 1 auf dem Fußboden
Carrera-Bahn und Co. Formel 1 auf dem Fußboden
Die Idee treibt den Tüftler seit einem Jahr um. Seit 1911 zum ersten Mal die "500 Meilen von Indianapolis" gestartet wurden und der Autorennsport in Amerika unfassbar populär geworden ist, will Joshua Lionel Cohen die spektakulären Rennen auch in die Kinderzimmer von Chicago, Boston oder Los Angeles bringen. Cohen ist mit Modelleisenbahnen reich geworden - und genau das gibt dem amerikanischen Einwanderer den entscheidenden Vorsprung vor der Konkurrenz.
Schon ein Jahr später ist Cohen am Ziel: Er bringt in New York die allererste Spielzeug-Autorennbahn der Welt in den Handel. Seine Miniaturfahrer tragen Sturmhauben und Brillen, sie ducken sich anscheinend in den Fahrtwind und sitzen in einem nachgebauten Stutz "Bearcat". Der elegante Roadster ist im Jahr zuvor bei den "Indy500" mitgefahren und hat Cohen so imponiert, dass er ihn für seine Autorennbahn auswählt - statt eines Rolls Royce, den der Geschäftsmann privat benutzt.
Nur 12.000 Stück produziert
Die Bahn kostet damals zwischen 7,50 und 18 Dollar, was heute mindestens 600 Dollar entspricht - und sie ist der Beginn einer Revolution. Cohen hat mit seiner Erfindung den Nerv von Millionen Kindern und Männern getroffen und ein Spielzeug für Generationen erschaffen.
Zum 100. Geburtstag dieses rasend faszinierenden Hobbys hat Hans Schimpf-Reinhardt, Leiter des Stadtarchivs im schwäbischen Balingen, eine Ausstellung zusammengetragen. Mit rund zwei Dutzend Bahnen zeichnet sie detailliert die Entwicklung des Spielzeugs von seinen Kindertagen bis heute nach. Doch ausgerechnet der Erstling des US-Erfinders Cohen fehlt.
"In Europa gibt es nur ganz wenige Exemplare, und aus Amerika habe ich keines bekommen", sagt der Archivar. Kein Wunder: Schließlich wurden nur etwa 12.000 Sätze von der elektrisch betriebenen Bahn gefertigt, bevor Lionel die Produktion mangels Erfolg 1915 einstellen muss. Selbst die aufwendige Werbung des Marketing-Genies kann nichts daran ändern, dass Steckdosen in amerikanischen Haushalten zu dieser Zeit längst noch nicht Standard sind - und der Erfolg der Elektrobahnen deshalb eine Illusion ist.
Als Modellbahnhersteller hat Lionel aber bis heute überlebt. Davon profitiert auch die kleine, aber eingeschworene Gemeinde der Rennbahn-Sammler. Denn zu einem Firmenjubiläum in den Neunzigern legte das Unternehmen noch einmal 200 Exemplare einer detailgetreuen Replik auf, von denen Schimpf-Reinhardt für seine Ausstellung eines aufgetrieben hat. Deshalb stehen in Balingen jetzt noch einmal zwei Blech-Boliden auf der historischen Bahn und glänzen so, als wäre es Winter 1912 und das Rennen um den Christbaum würde gleich beginnen.
Der Geruch von heißen Kupferspulen
Dem Reiz solcher Duelle auf dem Fußboden des Kinderzimmers konnten sich seither die wenigsten entziehen. Wie auch? Computerspiele mögen realistischer sein, schneller und vielseitiger, aber die Autorennbahn ist ein Erlebnis für alle Sinne. Sie riecht nach heißen Kupferspulen und dem warmen Kautschuk auf den kleinen Reifen. Es surrt einem schon nach wenigen Minuten in den Ohren, die Handregler werden heiß vom Druck und die Hände feucht von der Spannung.
"Diese Liebe zu den rennenden Wagen wurde dem Menschen bereits in die Wiege gelegt." Das sagt der Psychologe Rainer Buland, der als Spielforscher am Mozarteum in Salzburg arbeitet. "Das Spiel mit dem Auto haben wir in den Genen, der Mensch liebt alles, was sich bewegt", erklärt Buland. Deshalb, so der Forscher, würden die Menschen auch lieber Fernsehen schauen statt Bücher zu lesen. "Da ist Action, da ist Bewegung, da passiert was vor dem Auge und nicht nur im Kopf." Steigern lasse sich das Erlebnis, wenn der Mensch auch noch die Kontrolle übernehmen könne, aktiv ins Geschehen eingreife, so Buland. Wie mit dem Drücker der Autorennbahn.
Auf den müssen die Spieler bei der ersten Bahn der Welt allerdings noch verzichten. Denn die Geschwindigkeit wird bei den kleinen Flitzern anfangs genau wie bei den Modelleisenbahnen geregelt: mit einem Trafo. Erst Ende der fünfziger Jahre kommen die ersten Handregler, die heute zur Rennbahn gehören wie der Joystick zum Computerspiel.
In Deutschland setzt sich die Autorennbahn mit Verzögerung durch. Aber als das erste Autobahnnetz durch Hitlerdeutschland führt, reagieren die Spielzeughersteller. Märklin bringt 1934 ein Set namens "Autobahn" in den Handel, und der Konkurrent Tipp & Co verkauft die "Reichsautobahn" im Miniaturformat. Mit Rennsport hat das allerdings noch nicht viel zu tun. Zwar tragen die aus Blech gepressten Autos durchaus sportliche Züge. Doch hierzulande sind die Rundkurse vor allem "Verkehrsergänzungen" für die viel populäreren Modelleisenbahnen. Deshalb kurvt bei Tipp & Co zum Beispiel auch ein Lastwagen im Kreis.
Formel 1 im Osten
Den wichtigsten Schritt hin zum richtigen Rennbetrieb macht 1939 der Amerikaner Edward Cullen. Er versenkt die Führungsschiene in einem Schlitz in der Strecke und nabelt die Rennbahn so endgültig von der Eisenbahn ab. Der "Slotracer" verdrängt den "Railracer". 1957 kommt unter dem Markennamen "Scalextric" eine "Electric Model Car Racing"-Bahn mit kunterbunt kombinierbaren Schlitzschienen aus Kunststoff auf den Markt. Es ist der weltweite Durchbruch für die Mini-Rennbahnen.
Vor allem in Amerika erreichen sie ungeheure Popularität. Familienväter treffen sich sonntags in den Hinterzimmern verrauchter Kneipen und duellieren sich an den Platten. Wie heute Bowling-Hallen und Fitnessstudios werden die Rennbahnen zu Bühnen des Breitensports. Mitunter seien mehr als ein Dutzend Spuren und Bahnen von über 70 Metern Länge aufgebaut worden, sagt Historiker Schimpf-Reinhardt. Regelrechte "Volksfeste" seien diese Flitzer-Veranstaltungen gewesen.
Auf einem solchen Rennen muss auch Hermann Neuhierl gewesen sein, als der Nürnberger Spielzeugfabrikant in den späten Fünfzigern auf einer Geschäftsreise in Amerika unterwegs war. Fasziniert von der kindlichen Begeisterung der Amerikaner und getrieben von der Sehnsucht nach schnellem Umsatz holt er die Idee nach Deutschland. Binnen weniger Jahre konstruiert Neuhierl seine eigene Rennbahn, kauft bei Porsche die Lizenz für den Markennamen Carrera und bringt 1963 die "Avus" in den Handel.
Die jetzt schon aus Kunststoff gegossenen Autos sind stabiler und die Streckendetails liebevoller gestaltet als bei der Konkurrenz. Die hat den Trend verschlafen und kann Neuhierl nicht mehr einholen: Carrera wird schnell zum unumstrittenen Marktführer und Synonym für Autorennbahnen wie Tempo fürs Taschentuch.
Leuchtende Augen im Kinderzimmer
Auch in der DDR sind die E-Flitzer bekannt. Weil dort die Begehrlichkeiten immer mehr wachsen, bringt schließlich das VEB Pressformwerk Dresden im Jahr 1970 eine Ost-Rennbahn auf den Markt. Das Funktionsprinzip unterscheidet sich nicht von den westdeutschen Bahnen, die Fahrzeuge schon: Während im Westen Ferrari, Porsche, Mercedes oder Jaguar über die Strecken flitzen, stehen auf der Prefo-Bahn Melkus und Wartburg am Start.
1970 wird auch das Jahr, in dem Carrera-Boss Neuhierl sein letzter genialer Schachzug gelingt. Mit der "Transpo" kehrt er zu den Anfängen zurück. Statt Rennwagen kreisen jetzt wieder Lastwagen durchs Kinderzimmer, es gibt Verladestationen und Rangierstrecken, und rund um die Anlage fährt ein Zug. Doch auch das kluge "Transpo"-Experiment zögert den Niedergang Carreras nur hinaus - 1985 geht der legendäre Pionier in Konkurs. Marken wie Märklin hatten ihr Rennsortiment bereits Anfang der Achtziger wieder eingestellt: Genau wie die Modelleisenbahn hatte die Mini-Formel 1 für Kinder immer mehr an Faszination verloren. Die ersten Elektronik- und Computerspiele waren einfach cooler.
Erst zwei Jahrzehnte später haben die Autorennbahnen ihr Comeback gefeiert. Die Fahrzeuge sind detailliert gestaltet wie nie zuvor, die Steuerungen längst digital. Doch ähnlich wie bei der Eisenbahn sitzen auf den Böden der Kinderzimmer heute weniger die kleinen Jungs mit leuchtenden Augen an den Mini-Pisten. Sondern die Väter.