Fotostrecke

Frauenwahlrecht: Raus aus dem Schatten, ran an die Urne

Foto: ullstein bild

Frauenwahlrecht "Mädchen und Frauen, heraus aus der Finsternis!"

Lange wurden Feministinnen verhöhnt, schikaniert, diffamiert - dann durften Frauen in Deutschland am 19. Januar 1919 erstmals wählen. Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann waren das wohl mutigste Paar der Frauenbewegung.

Demokratie ist mitunter eine schweißtreibende Plackerei. Viele Kilometer weit stapfen drei Frauen im Winter 1918/19 durch den bayerischen Schnee, von Dorfgasthaus zu Dorfgasthaus. In ihren Rucksäcken schleppen sie Flugblätter und Infomaterial, dazu eine große Glocke, um die weibliche Landbevölkerung zur Versammlung zu bimmeln.

Wo das Trio auch auftaucht, eilt gleich der Dorfgeistliche herbei und warnt: Diese Mannweiber zerstören eure Ehen! Was Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und Gertrud Baer nicht im Geringsten beeindruckt. Die Zeit drängt, rastlos klären sie die Frauen über ein Novum auf: das Recht zu wählen - und gewählt zu werden. Denn am 12. November 1918 hatte der Rat der Volksbeauftragten verkündet:

"Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen."

Gut zwei Monate später fanden am 19. Januar 1919 die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung statt. Eine Revolution: Nach Finnland (1906), Norwegen (1913), Dänemark und Island (1915) durften endlich auch die deutschen Frauen an die Urne.

Sie wurden lauter und lauter

"Das ist zweifellos der durchschlagendste Erfolg, der jemals für unsere Sache errungen wurde", jubelte "Ius Suffragii", die internationale Zeitschrift für das Frauenwahlrecht. Ein Traum wurde wahr. Dafür hatten viele Feministinnen jahrzehntelang gekämpft und wurden bespuckt, verlacht, diffamiert.

Die Heldinnen von einst sind längst vergessen. Weil sie keinen Krawall schlugen wie die britischen Suffragetten, keine Bomben zündeten, nicht in den Hungerstreik traten. Die deutschen Feministinnen setzten auf das, was Clara Zetkin, Ikone der proletarischen Frauenbewegung, spöttisch als "Petitionsheldentum" bezeichnete.

Fotostrecke

100 Jahre Frauenwahlrecht: Raus aus dem Schatten, ran an die Urne

Foto: ullstein bild

Sie gründeten Vereine und Zeitschriften, organisierten Kongresse und demonstrierten - immer wieder, immer lauter. Eine der hartnäckigsten unter ihnen: Anita Theodora Johanna Sophie Augspurg, erste promovierte Juristin Deutschlands, Pazifistin und Vorkämpferin der bürgerlich-radikalen Frauenbewegung.

Als Augspurg 1857 in Verden an der Aller zur Welt kam, durften Frauen in Deutschland weder wählen noch studieren, gut bezahlte Berufe blieben ihnen verwehrt. In den meisten deutschen Staaten durften sie sich politisch nicht organisieren und waren als Ehefrauen sozial wie ökonomisch ganz von ihren Männern abhängig. Augspurgs Konsequenz: gar nicht erst heiraten, im Ausland studieren, das bürgerliche Korsett sprengen.

Aufruf zum Eheboykott

"Für eine Frau von Selbstachtung (...) ist es nach meiner Überzeugung unmöglich, eine legitime Heirat einzugehen", schrieb sie. Augspurg schnitt sich die Haare ab, trug wallende Reformkleider, lebte mit Frauen zusammen. Ein Erbe ermöglichte ihr die Ausbildung zur Lehrerin, Schauspielerin und Fotografin.

"Wo sind die Rechte der Frau?" - Anita Augspurg um 1903

"Wo sind die Rechte der Frau?" - Anita Augspurg um 1903

Foto: Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte

1893 ging sie nach Zürich, um Jura zu studieren - zurück in Deutschland stritt sie erbittert für eine Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches. "Wo sind die Rechte der Frau?", rief die Anwaltstochter mit der Adlernase 1896 auf dem ersten Internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin. Und eroberte mit ihrem Auftritt das Herz der zehn Jahre jüngeren Hamburger Kaufmannstochter Lida Gustava Heymann.

Fast ein halbes Jahrhundert blieb das "schillerndste Paar der Frauenbewegung" (so die Buchautorinnen Anna Dünnebier und Ursula Scheu) zusammen. Die beiden provozierten durch ihren Lebensstil ebenso wie durch den Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit und Frieden. Augspurg gründete Deutschlands erstes Mädchengymnasium und rief zum Eheboykott auf. Heymann eröffnete in Hamburg das reichsweit erste Frauenzentrum, aus Protest gegen staatlich geförderte Bordelle verklagte sie den Senat der Hansestadt wegen Zuhälterei.

Frauenwahlrecht? Nationaler Selbstmord!

1902 gründeten "Anilid" (so ihr gemeinsames journalistisches Kürzel) den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht: die erste Organisation in Deutschland, die sich exklusiv dem Kampf ums Frauenwahlrecht verschrieb. "Wir sind nicht von minderer Art", schrieb Augspurg - und veröffentlichte eine "Nationalhymne für Frauen":

"Deutschland, Deutschland über alles
Wenn es auch die Frau befreit
Ihr die Bürgerkrone bietet
Folgend einer neuen Zeit."

Um diese neue Zeit zu verhindern, organisierten sich 1912 die Antifeministen im Deutschen Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation; der Frauenanteil in diesem Verein lag bei erstaunlichen 25 Prozent. Übermäßige Gehirntätigkeit mache das "Weib nicht nur verkehrt, sondern auch krank", schrieb der Neurologe Paul Julius Möbius in seinem Traktat "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" - ein Bestseller der Vorkriegszeit.

Das Frauenwahlrecht käme einem "nationalen Selbstmord" gleich, unkte Ober-Antifeminist Werner Heinemann 1913. Als im Jahr darauf der Erste Weltkrieg ausbrach, kam die (in Deutschland heillos zerstrittene) Stimmrechtsbewegung zum Erliegen.

Die meisten Feministinnen stellten sich nun in den Dienst der nationalen Sache. Wer, wie Augspurg und Heymann, offen gegen den Krieg eintrat, wurde bespitzelt, mit Redeverbot belegt oder ausgewiesen. Die beiden machten trotzdem weiter - und tarnten ihre pazifistischen Zirkel als private Teestunden.

Erst 1917 gewann der Kampf fürs Frauenwahlrecht wieder an Schwung - ausgerechnet dank Kaiser Wilhelm II.: In seiner "Osterbotschaft" versprach er eine Wahlrechtsreform, ohne auf die Frauenforderungen einzugehen. Erzürnt veröffentlichten Feministinnen aller Couleur eine gemeinsame Erklärung zur Wahlrechtsfrage, organisierten Demonstrationen, sprachen im Oktober 1918 bei Reichskanzler Max von Baden vor.

Neun Prozent weibliche Abgeordnete

Als mit dem Novemberumsturz endlich das Frauenwahlrecht verkündet wurde, jubelten die Aktivistinnen. "Nun begann ein neues Leben!", schrieben Augspurg und Heymann in ihren gemeinsamen Memoiren.

"Zurückdenkend erschienen die folgenden Monate wie ein schöner Traum, so unwahrscheinlich herrlich waren sie. Das schwer Lastende der Kriegsjahre war gewichen; beschwingt schritt man dahin, zukunftsfroh! (...) Man brauchte keinen Schlaf; nur eine lebendige Flamme brannte: sich helfend am Aufbau einer besseren Gemeinschaft beteiligen."

Fortan steckten die Feministinnen all ihre Energie in die Mobilisierung der Neu-Wählerinnen. Mit Erfolg: Gut 82 Prozent der Frauen strömten am 19. Januar 1919 an die Urnen. Knapp neun Prozent der Abgeordneten im ersten demokratischen Parlament waren weiblich - dieser Anteil sollte erst 1983 signifikant überschritten werden, als die Grünen in den Bundestag einzogen. Am 19. Februar 1919 war die Sozialdemokratin Marie Juchacz die erste Frau am Rednerpult der Deutschen Nationalversammlung in Weimar und sorgte mit der Anrede "Meine Herren und Damen" für Heiterkeit.

Bundestag: Susanne-Marie Wrage rezitiert aus historischer Rede von Marie Juchacz

SPIEGEL ONLINE

Anders als Juchacz schafften die Kandidatinnen Augspurg und Heymann nicht den Sprung in die aktive Politik. Der "alte Reichstag und die neue Nationalversammlung haben ein verflucht ähnliches Aussehen", urteilten sie ernüchtert.

Bei öffentlichen Auftritten für Frieden und Gleichberechtigung sah sich das Paar immer brutaleren Anfeindungen ausgesetzt. "In Deutschland regiert mehr und mehr der Terror", schrieben "Anilid" in ihrer Zeitschrift "Frau im Staat".

"Polonäse von Wählern und Wählerinnen": Frauen 1919 vor einem Wahllokal in Berlin

"Polonäse von Wählern und Wählerinnen": Frauen 1919 vor einem Wahllokal in Berlin

Foto: DPA

"Erstarrtes Leichengefühl"

Als Nazi-Störtrupps im Januar 1923 ihre Veranstaltung sprengten und einem Pazifisten per Schlagring das Auge zerschlugen, sprachen Augspurg und Heymann bei Bayerns Innenminister vor - und verlangten Adolf Hitlers Ausweisung nach Österreich. Was die beiden ganz oben auf die Todesliste der Nationalsozialisten katapultierte.

Nach der "Machtergreifung" entzogen die Braunhemden Frauen faktisch das passive Wahlrecht und drängten Richterinnen aus ihren Ämtern. Im "ABC des Nationalsozialismus" hieß es: "Die deutschen Frauen wollen (...) in der Hauptsache Gattin und Mutter, sie wollen nicht Genossin sein."

Augspurg und Heymann emigrierten in die Schweiz und verfolgten ohnmächtig den Ausbau der menschenverachtenden NS-Diktatur, die alles zertrat, wofür sie so lange gekämpft hatten. Einer der letzten Einträge ihrer Memoiren lautet:

"Sinn und Ziel unseres Lebens war: für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit in voller Öffentlichkeit zu wirken. Die Basis war verloren! Häufig überkam uns die Empfindung, als hätten wir uns selbst überlebt, als wären wir lebend bereits gestorben, scheintot: schauerlicher Zustand! Geistig: erstarrtes Leichengefühl!"

1943 starb das wohl mutigste Paar der deutschen Frauenbewegung im Abstand von wenigen Monaten in Zürich.

Zum Weiterlesen: Anna Dünnebier / Ursula Scheu: Die Rebellion ist eine Frau. Anita Augspurg und Lida G. Heymann, München 2002.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten