
Oktoberrevolution "Wo ist jetzt die Freiheit?"



Alexander Kerenski, 1917
Foto: Getty Images/Keystone- • Sturz des russischen Zaren: "Und mir hat keiner gesagt, dass es eine Revolution gibt!"
- • Zarenmord 1918: Die Blutnacht von Jekaterinburg
Alexander Kerenski war bereit, sich zu erschießen, gleich hier, in den prunkvollen Gemächern des Schlosses von Gattschina südlich von Petrograd. Ausgerechnet eine einstige Zaren-Residenz war für den Sozialisten Kerenski, der in der Februarevolution so für den Sturz des Zaren gekämpft hatte, zur Falle geworden.
Der Lärm im Erdgeschoss nahm zu. Bald würden seine Verfolger kommen, um ihn, den flüchtigen Premier Russlands, an Lenins Bolschewisten auszuliefern.
Die Tür flog auf. Jetzt war es vorbei.
Doch auf der Schwelle standen nur zwei unbewaffnete Männer. Ein Zivilist, den Kerenski flüchtig kannte, und ein fremder Matrose. "Es ist keine Zeit zu verlieren", sagte der Matrose. "Innerhalb der nächsten halben Stunde wird ein wütender Mob Ihr Zimmer stürmen. Ziehen Sie die Uniformjacke aus - schnell!"
Groteske Verkleidung
Es war der Beginn einer abenteuerlichen Flucht, die Kerenski später in seinen Memoiren beschrieb. Aus dem wichtigsten Politiker Russlands, der in der kurzen demokratischen Zeit nach der Februarrevolution Justizminister, Kriegsminister und schließlich Premier war, wurde am Morgen des 14. Novembers 1917 ein erbärmlich verkleideter Matrose: Die Jackenärmel waren zu kurz. Die viel zu kleine Matrosenmütze rutschte vom Kopf. Und die feinen, braunen Schuhe und Wickelgamaschen passten nicht zu einem einfachen Seemann.
Die Palastanlage war von Wassergräben umgeben. Es gab nur einen Ausgang über eine Zugbrücke. Im Vorhof des Palasts sollte ein Fluchtwagen warten. "Wir gingen wie die Roboter, ohne Gedanken, ohne Bewusstsein der Gefahr", erinnerte sich Kerenski später. Unbemerkt gelangten sie in den Vorhof.
Kein Wagen zu sehen. "Verzweifelt kehrten wir zurück, ohne ein Wort miteinander zu wechseln."
Ein Fremder raunte ihnen zu, das Auto stehe weiter weg, am Chinesischen Tor des Schlosses. Als sie misstrauische Blicke trafen, mimte ein weiterer Verbündeter einen Ohnmachtsanfall. In der Verwirrung erreichten sie mit Glück den Fluchtwagen. Auf der Rückbank saßen Soldaten, bereit, Handgranaten auf die Verfolger zu werfen.
40 Tage im Wald
An einem Waldrand hielt das Auto. Der Matrose, der sich inzwischen als Wanja vorgestellt hatte, führte Kerenski nun stundenlang hinein in den Wald, in dem sein Onkel eine Hütte besaß.
40 Tage würde sich der letzte Premier Russlands in dieser Waldhütte verstecken, herzlich bewirtet von Wanjas Onkel und Tante. Es waren 40 Tage, in denen er hilflos miterleben musste, wie die Bolschewisten sein Land zielstrebig in ein immer totalitäreres Regime verwandeln würden.
"Tagsüber war alles friedlich und sonnig", schrieb Kerenski. "Aber nachts verfolgte mich, was geschehen war. Der volle Schrecken des Danse macabre, der nun im Land vollführt wurde, brach über mich herein."
Der Totentanz der russischen Demokratie hatte weltpolitische Folgen: Schon bald versank Russland in einem Bürgerkrieg zwischen der bolschewistischen Roten Armee und ihren politischen Gegnern, die sich in der Weißen Armee sammelten. Millionen starben. Am Ende etablierte sich der erste sozialistische Staat, der die Welt für Jahrzehnte in zwei waffenstarrende Lager aufspalten würde.
Das war nicht abzusehen, als Kerenski darüber nachdachte, woran dieser unglückliche "Sommer der Freiheit" gescheitert war, in dem die Russen erstmals Erfahrungen mit der Demokratie sammeln durften.
Eine neue Epoche
Die Februarrevolution 1917 hatte viel Euphorie freigesetzt. Die jahrhundertelange "Selbstherrschaft" der Zaren wurde weggefegt, die Dynastie der Romanows gestürzt: Russland schien vor einer besseren Ära zu stehen.
Doch die litt unter etlichen Geburtsfehlern. Da gab es etwa in der Hauptstadt Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, parallele Machtzentren: Die Regierung, die sich bis zur Wahl einer neuen Verfassung "provisorisch" nannte, war bürgerlich. Ohne den linken "Sowjet", den Rat der Arbeiter und Soldaten, konnte sie aber wenig durchsetzen. Damit war sie erpressbar.
Kerenski traute man als einem der wenigen die Rolle des politischen Dompteurs zu: In der Zarenzeit war er mutiger Anwalt politischer Revolutionäre, jetzt sollte er versöhnen, vermitteln, die revolutionäre Wucht bändigen.
Nicht immer bewies er ein glückliches Händchen. Um Putschversuche der Bolschewisten niederschlagen zu können, stattete er General Lawr Kornilow mit diktatorischen Vollmachten aus. Kornilow aber putschte im September 1917 seinerseits, wenn auch erfolglos.
Die größte Belastung für die junge Demokratie aber war der Weltkrieg, der das Land auslaugte, hungern ließ. Mit einer Militäroffensive im Juli versuchte Kerenski, einen Waffenstillstand zu erzwingen. Doch die Offensive scheiterte und demoralisierte das Militär weiter. Lenin konnte Kerenski nun leicht als "Werkzeug der Imperialisten" verunglimpfen, weil der Premier am unbeliebten Bündnis mit den Alliierten festhielt.
Lenin hingegen bot radikale, einfache Lösungen an: Nein zum Krieg! Nein zum Ausgleich mit den alten Eliten. Dafür alle Macht den Arbeiter- und Bauernräten! Die Bolschewisten wussten, dass der verhasste Krieg ihnen in die Karten spielte. Lenin geriet daher in Panik, als Österreich die Bereitschaft signalisierte, Frieden mit Russland zu schließen. Am 6. November schrieb er:
"Genossen: Die Lage ist äußerst kritisch. Jetzt ist so klar, wie es nur sein kann, dass die Verzögerung des Aufstands wirklich Tod bedeutet. (...) Wir dürfen nicht warten! Wir können alles verlieren!"
Schon einen Tag zuvor hatte Leo Trotzki, Leiter des "militär-revolutionären Komitees" im Petrograder Sowjet, in dem die Bolschewisten inzwischen die Mehrheit stellten, Befehle für die Besetzung strategisch wichtiger Stellen in der Hauptstadt erlassen.
Apathie und Terror
Die Umsturzpläne waren kein Geheimnis - und doch schauten alle nur interessiert zu. Die Hauptstadt mit ihren 200.000 Deserteuren war zu apathisch, um aufzubegehren. Viele dachten: Es wird schon nicht so schlimm kommen!
Kerenski aber wehrte sich. Am 6. November hielt er eine letzte Rede:
"Wir stehen einem Versuch gegenüber, den Mob gegen die herrschende Ordnung aufzuhetzen. (...) Ich bin hergekommen, um an Ihre Wachsamkeit zu appellieren, die Freiheit des russischen Volkes zu verteidigen, die durch viele Generationen und durch viele Blut- und Menschenopfer errungen worden ist."
In dieser Schlacht sah Kerenski die "gesamte Nation" hinter sich. Die Realität war ernüchternder: Als die Bolschewisten am 7. November, dem 25. Oktober nach der damaligen russischen Zeitrechnung, die Revolution entfachten, standen kaum Soldaten in der Hauptstadt. "Wir warteten auf Truppen von der Front", erinnerte der Premier sich. "Aber an Stelle der Truppen bekamen wir nur Telefondurchsagen, dass die Eisenbahnlinien durch Sabotage lahmgelegt worden waren."
So konnten die Bolschewisten auch den Winterpalast, den Sitz der Regierung, spielend leicht besetzen. So leicht sogar, dass die Sieger die Wahrheit später verbogen: Die Eroberung wurde in einem bildgewaltigen Propagandafilm zu einem heroischen Sturm stilisiert, vergleichbar mit dem auf die Bastille 1789. Tatsächlich verteidigten den Palast nur ein paar Kosaken, Offiziersschüler und Frauen.
War die Februarrevolution ein Aufstand der Massen, entpuppte sich die Oktoberrevolution als Staatsstreich von Wenigen. "Was ist das für eine Revolution, wenn alle ins Theater gehen als wäre nichts gewesen!" empörte sich ein Bolschewist.
Derweil hatte Kerenski schon am 7. November erkannt, dass in Petrograd nichts zu gewinnen war. Er schlug sich nach Pskow durch, dem Hauptquartier des Oberkommandos der Nordfront. Mit seinen "erbärmlich schwachen Menschen- und Artilleriekräften" wollte er "sofort einen Durchbruchversuch nach Petrograd unternehmen".
Doch die Armee zersetzte sich bereits. Mehr als eine Funkstation konnten die Männer nicht erobern. Nach einer Niederlage am 12. November floh der Premier ins Schloss Gattschina - und danach in die Waldhütte.
"Nagende Furcht"
Dort litt er unter "Verzweiflungsanfällen" und einer "nagenden Furcht", auch um seine selbstlosen Gastgeber. "Immer wenn sich der Nachtwind erhob und die Hunde im Nachbardorf bellten, sprangen wir aus unseren Betten und hielten Wache auf der Veranda, die Handgranaten griffbereit." Fassungslos wandte sich Kerenski ans Volk. Den Artikel ließ seine Partei, die Sozialrevolutionäre, drucken:
"Kommt zur Vernunft! Merkt ihr nicht, dass ihr belogen und betrogen worden seid? Euch wurde Frieden mit Deutschland versprochen. Jetzt aber wird jeder, der für den Frieden eintritt, als Verräter gebrandmarkt. (...) Man hat euch Brot versprochen, aber über das Land bereitet sich eine grauenhafte Hungersnot aus. Man hat euch Freiheit versprochen. Wo ist denn diese Freiheit? Eine Bande von Verrückten, Schuften und Verrätern hat die Freiheit erstickt, die Revolution verraten und ruiniert jetzt unser Land."
Im Dezember hielt den meistgesuchten Mann Russlands nichts mehr in seinem Versteck. Er sei "besessen" gewesen von der Idee, nach Petrograd zu fahren, schrieb er später. Dort sollte die Verfassungsgebende Versammlung tagen, vielleicht Russlands letzte Chance auf Freiheit. Und er wollte heimlich teilnehmen.
Gefährliche Rückkehr
Mit verändertem Aussehen - wilden Haaren und langem Bart - tafelte Kerenski nun sogar unerkannt in einer Gaststube, in der ein großes Porträt von ihm selbst hing. Im Januar 1918 erreichte er, nachdem er lange auf einem einsamen Landgut untergekommen war, Petrograd.
Doch was konnte die im November noch frei gewählte Verfassungsgebende Versammlung daran ändern, dass sich Russland auf dem Weg zur Diktatur befand? War das Ganze nicht nur eine Farce? Lenin hatte die Versammlung nie etwas bedeutet.
Alexander Kerenski, 1917
Foto: Getty Images/KeystoneKerenski wollte unter falschem Namen trotzdem reden, aufrütteln, zum Widerstand anstacheln. Seine Parteifreude aber verboten ihm eine Teilnahme an der Versammlung: Das sei selbstmörderisch.
Am 18. und 19. Januar tagten 703 Abgeordneten insgesamt 13 Stunden im Taurischen Palais. Die Bolschewisten waren hier in der Minderheit. Draußen ließen sie auf demonstrierende Anhänger der Versammlung schießen. Drinnen berieten die Delegierten über eine demokratisch-föderale Republik. Als sie den Palast am 19. Januar frühmorgens für eine halbtägige Pause verließen, beendete Lenin alle Diskussionen auf seine Art: Er ließ alle Türen des Palastes verriegeln.
Desillusioniert floh Kerenski nach Finnland, wo Lenin noch ein paar Monate zuvor im Exil gewesen war. Er überlebte seinen Widersacher um Jahrzehnte und starb erst 1970 hochbetagt in New York. Das einzige Andenken, das er in den Westen retten konnte, war eine kleine Ikone, die ihm seine Gastfamilie in der Waldhütte geschenkt hatte.
Symbol des alten Russlands, das es nicht mehr gab.
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Ketten zerschlagen: So stellten die Bolschewisten die Revolution gerne auf Propagandaplakaten dar - entschlossene Arbeiter zerschlagen die Fesseln des alten, vermeintlich repressiven Systems. Doch anders als die Februarevolution war die Oktoberrevolution 1917 kein Aufstand der wütenden Massen - sondern eher ein Staatsstreich von wenigen Revolutionären. Sie beseitigten die noch junge Demokratie und trieben den gestürzten Premier Alexander Kerenski in eine abenteuerliche Flucht.
Falsche Versprechen: Diese Aufnahme aus den ersten Tagen der Revolution zeigt Lenin, der sich in der Hauptstadt Petrograd an die Menge wendet. Lenin lobte den neuen bolschewistischen Staat als "unermesslich höher und demokratischer als die besten der bürgerlich-parlamentarischen Republiken". Doch der erste sozialistische Staat mündete in eine Diktatur.
Geschafft: "Wozu gehört ihr, zur Regierung?" fragte der US-amerikanische Journalist John Reed, der bekannteste Chronist der Revolution im Herbst 1917, ein paar Uniformierte vor der geschlossenen Staatsbank. "Die Regierung ist futsch", sagten die Männer zu ihm. Und fügten hinzu: "Gott sei Dank."
Aufruf zum Umsturz: Der Kreuzer "Aurora" gab am Abend des 7. Novembers 1917 auf dem Fluss Newa in Petrograd erste Warnschüsse ab, um die Regierung einzuschüchtern. Es war der Auftakt zur Oktoberrevolution, die viele anfangs unterschätzten: Obwohl die Rebellion kein Geheimnis war, erlebten viele Bürger deren Beginn in der Hauptstadt noch recht entspannt in der Oper oder im Theater.
Die folgenreiche Revolution: "Keine drei Tage" werde sich die Revolution halten, so vermutete ein Offizier im Interview mit dem US-Reporter John Reed direkt nach dem Aufstand in Petrograd am 7. November 1917. Zu oft war Russland nach der Februarrevolution im selben Jahr von Unruhen und Aufständen erschüttert worden. Lenins Revolution aber hatte weltpolitische Folgen: Am Ende etablierte sich der erste sozialistische Staat, der die Welt für Jahrzehnte in zwei waffenstarrende Lager aufspalten würde.
Alexander Kerenski: In der Zarenzeit verteidigte er als Anwalt politische Revolutionäre, in der Februarrevolution kämpfte er für den Sturz des Zaren - und wurde danach selbst ein politisch Verfolgter. Russlands letzter Premier vor der Oktoberrevolution 1917 musste sich wochenlang in einer einsamen Waldhütte vor den Bolschewisten verstecken. Hier litt Kerenski unter "nagender Furcht" und "Verzweiflungsanfällen", wie er später schrieb. Fassungslos appellierte er an sein Volk: "Kommt endlich zur Vernunft!" Die Bolschewisten seien eine "Bande Verrückter", die die Freiheit "ersticken" würden.
Der erfundene Sturm auf den Winterpalast: Der Sitz der Regierung war nicht von Heerscharen regierungstreuer Soldaten geschützt, wie es die Bolschewisten später gerne darstellten. In Wahrheit verteidigten den berühmten Winterpalast nur ein paar Offiziersschüler (Bild), Kosaken und ein Trupp kahlrasierter Frauen. Spielend leicht...
... eroberten die Bolschewisten am 7. November - dem 25. Oktober nach dem damals in Russland verwendeten julianischen Kalender - den Winterpalast. Das war so unrevolutionär, dass die Bolschewisten diesen Erfolg später zu einem schwer umkämpften Sturm dramatisierten, etwa in Sergei Eisensteins berühmtem Film "Oktober" (1927). Auch diese Aufnahme ist nicht authentisch, sondern eine theatralische Nachstellung des Sturms, die 1920 - am 3. Jahrestages der Oktoberrevolution - in einer Ausstellung gezeigt wurde.
Von Revolution zu Revolution: "Lenin spricht vor den Arbeitern der Putilow-Werke in Petrograd" heißt dieses propagandistische Gemälde. Mit einem Streik in den Putilow-Werken hatte die Februarrevolution begonnen. Lenin war damals allerdings noch im Exil in der Schweiz. Erst im April 1917 war er mithilfe des deutschen Kaiserreichs nach Russland gebracht worden; die Deutschen hofften, damit ihren Kriegsgegner Russland zu schwächen. Das gelang - und Lenin stellte sich später auf solchen Gemälden in die Tradition der ersten Revolution im Frühjahr, die er in Wahrheit verpasst hatte.
Radikale Lösungen: Wladimir Lenin punktete bei der kriegsmüden russischen Bevölkerung mit einfachen Forderungen: Nein zur Fortführung des zermürbenden Kriegs! Nein zu einem Ausgleich mit den alten Eliten! Nein zur unbeliebten Regierung! Dafür: Alle Macht den Arbeiter- und Bauernräten! Diese "Sowjets" genannten Räte wurden später zum Namensgeber der Sowjetunion. Anfangs waren die Sowjets nur eine Art Streikorgan in Fabriken gewesen, im Revolutionsjahr 1917 wurden sie aber zu den entscheidenden politischen Institutionen im ganzen Land.
Vorbild: Russische Soldaten und Matrosen hören in Petrograd eine Rede von Michail Rodzianko, der eine entscheidende Rolle beim Sturz des Zaren und bei der Februarrevolution gespielt hatte. Nach der Oktoberrevolution stellte er sich aber auf die Seite der gemäßigten Menschewisten, die im Bürgerkrieg den radikalen Bolschewisten unterlagen. Lenin...
... ließ sich später auf diesem Propagandagemälde dennoch gerne in ähnlicher Pose darstellen.
Revolutionäre Reden: Am meisten Zulauf gewannen die Bolschewisten durch den anhaltenden Krieg, der das Land hungern ließ und die Regierung immer unpopulärer machte. Die Bolschewisten wandten sich gerne von Balkonen an die Menschen und versprachen einen Ausstieg aus dem Krieg. Ihr Hauptquartier hatten sie in der Petrograder Stadtvilla der Ballerina Matilda Kschessinskaja errichtet, die berühmt ist für ihre skandalöse Liebschaft mit den jungen Zaren Nikolaus. Auch hier wurde der Balkon der Diva, die aufs Land geflohen war, zur Bühne der Bolschewisten.
Auf verlorenem Posten: Nach Ausbruch der Oktoberrevolution versuchte der gestürzte Premier Alexander Kerenski (links), mit seinen verbliebenen Truppen in die Hauptstadt durchzubrechen. Doch mehr als eine Funkstation konnten die Männer nicht erobern. Am 12. November 1917 standen auf den Pulkovo-Höhen südlich von Petrograd Kerenskis Schilderung zufolge nur noch 700 regierungstreue Kosaken und ein Panzergrenadierzug etwa 12.000 bolschewistischen Matrosen gegenüber. Der Premier floh danach unter abenteuerlichen Umständen und ging 1918 schließlich über Finnland ins Exil. Er starb hochbetagt 1970 in New York.
Plötzlich Massenbewegung: Revolutionäre Rotgardisten auf einem gepanzerten Straßenbahnwagen. Die Bolschewiki - übersetzt "Mehrheitler" - waren nach der Februarrevolution 1917 lange politisch und in der Bevölkerung eine Minderheit gewesen. Zählte die Fraktion der Bolschewisten Anfang 1917 erst 20.000 Mitglieder, so wuchs sie bis Oktober 1917 auf 400.000 Anhänger an. Erstmals errangen sie bei den Wahlen der Moskauer Stadtbezirksräten im September 1917 die absolute Mehrheit.
Symbol des Untergangs: Der Winterpalast war einst die Residenz der Zaren. Nach deren Sturz zog die Provisorische Regierung in den Palast - was PR-technisch keine so gute Idee war. So wirkte die bürgerliche Provisorische Regierung als befände sie sich auf den Spuren des verhassten Zarentums. Das schlachteten auch die Bolschewisten propagandistisch aus. So wurde der eroberte Palast, hier eine Aufnahme vom 8. November 1917, zum Symbol der Revolution.
Die stille Revolution:Kosaken vor der Kathedrale des Heiligen Isaak, der größten Kirche in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg. Der Umsturz in der russischen Hauptstadt verlief am 7. November 1917 erstaunlich unspektakulär. Noch am Tag des Umsturzes, der ein offenes Geheimnis war, gingen die Menschen ins Theater oder in die Oper. Alles gehe "seinen gewohnten Trott", notierte der politisch links eingestellte US-Journalist John Reed erstaunt.
Schleppender Umsturz: Matrosen der "Aurora" patrouillieren durch Petrograd. Sie werden noch lange nicht von allen ernst genommen. Hatte es nicht im Juli und September bereist erfolglose Umsturzversuche von links wie von rechts gegeben? "Was ist das für eine Revolution, wenn alle ins Theater gehen als wäre nichts gewesen!" empörte sich ein Bolschewist.
Massenproteste: Vor allem in den industriellen Zentren Russlands und in der Hauptstadt Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, kam es im Februar 1917 zu Demonstrationen, an denen sich bald Hunderttausende beteiligten. Anlass waren zunächst die durch den Weltkrieg ausgelösten Hungersnöte - doch schnell änderten sich die Schlachtrufe: Aus "Brot für die Arbeiter" wurde: "Nieder mit dem Zaren!" "Die Revolution überraschte uns im tiefen Schlaf", gestand später ein führender Sozialrevolutionäre. So erging es allen Parteien, der Duma und dem Zaren, der im fernen Hauptquartier der Armee weilte. Wenige Tage genügten, um die jahrhundertelange Herrschaft der Zaren zu beenden.
Staatsgewalt: Geschützstände der russischen Armee während der Februarrevolution. Am 26. Februar 1917 hatte Zar Nikolai II. einen Schießbefehl gegen die Aufständischen gegeben.
Die Revolution begann nach dem damals in Russland verbreiteten julianischen Kalender am 23. Februar - der nach dem gregorianischen Kalender auf den 8. März fällt - und sich nun zum 100. Mal jährt. Alle Jahrestage in dieser Bildergalerie beziehen sich auf den julianischen Kalender.
Narben der Geschichte: Menschen versammeln sich nach Ausbruch der Februarrevolution vor den Ruinen des Nikitski-Tors in Petrograd. Bereits Ende Januar 1917 hatten die Spannungen im Volk anlässlich des Jahrestages des Blutsonntags von 1905 zugenommen. Damals war ein friedlicher Arbeiter-Sternmarsch blutig von den Truppen des Zaren Nikolais II. zerschlagen worden. Während der Februarrevolution kam es ...
... zu einem zweiten Blutsonntag, als regierungstreue Soldaten wild in die Menge feuerten. Sie erschossen am 26. Februrar allein auf einem Platz der Prachtallee Newski-Prospekt 50 Aufständische; insgesamt töteten Soldaten an diesem Tag etwa 150 Menschen. Für viele Soldaten war das ein Schlüsselerlebnis: Fortan widersetzen sie sich solchen Schießbefehlen, zielten absichtlich daneben - oder meuterten gleich. Nach dem Gewaltexzess ...
... gingen Hunderte Trauernde auf die Straße; diese Aufnahme zeigt einen Gedenkmarsch nach der Revolution im April 1917. Zunächst zeigte die Gewalt damals aber Wirkung. Ein britischer Journalist beschrieb, dass "die Straßen sich von besorgteren und ängstlicheren Bürgern leerten".
Zwischen den Umstürzen: Berittene Soldaten halten nach der Februarrevolution 1917 vor einem Tor des Moskauer Kreml Wache. Vor allem während der Oktoberrevolution des selben Jahres sollte der Gebäudekomplex erheblichen Schaden nehmen.
Verbarrikadiert: Rebellen haben 1917 eine Straßensperre auf dem Petrograder Litejnyj Prospekt errichtet. Wichtig war auch die Litejnyj-Brücke, die aus den aufständischen Außenbezirken im Norden der Stadt über den Fluss Newa ins Zentrum führte und am zweiten Tag der Revolution erobert werden konnte. Die revoltierenden Arbeiter forderten neben der Herausgabe von Lebensmitteln und der Beendigung des Krieges auch den Rücktritt des herrschenden Zaren Nikolai II.
Symbolische Verbrennung: Bei einer Demonstration im Februar 1917 verbrennen Rebellen einen Doppeladler, das Wappentier des Russischen Reiches. Mit der Oktoberrevolution des selben Jahres sollte das alte Wappen des Zarenreiches durch jenes der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik abgelöst werden.
Eine neue Armee: Rote Garden erstürmen 1917 den Winterpalast von Petrograd. Diese Arbeitermiliz spielte während der Oktoberrevolution von 1917 eine Schlüsselrolle. Die Roten Garden waren unmittelbar nach der Februarrevolution als bewaffnete Truppen der Bolschewiki gegründet worden, die sich nicht allein auf die Unterstützung einer (ehemals vom Zar befehligten) russischen Armee verlassen wollten.
Im Revolutionsfieber: Rote Fahnen und rote Banner dominierten schon bald das Stadtbild, die Menschen sangen in Erinnerung an die Französische Revolution die Marseillaise - und fürchteten sich vor einer möglichen Konterrevolution. "Es besteht bei den Massen eine Art instinktive Furcht", schrieb der liberale Politiker Pawel Miljukow, "dass die Revolution zu früh ende. Für einen besonnenen Reformer wie ihn war das ein Problem. "Die Massen haben das Gefühl, die Revolution würde fehlschlagen, wenn der Sieg von den gemäßigten Kräften allein davongetragen würde."
Proteste: Während der Februarrevolution versammeln sich 1917 auch Tausende Demonstranten auf dem Vorplatz des Moskauer Bolschoi-Theaters. Viele Offiziere des alten Moskauer Regimes wurden während der Revolte von Aufständischen getötet.
Der Revolutionsverweigerer: Reformieren ja, umstürzen nein - der liberale Politiker Pawel Miljukow misstraute der Massenbewegung auf der Straße. Der angesehene Geschichtsprofessor war Führer der Konstitutionell-Demokratischen Partei in der Staatsduma. Miljukow wollte eine konstitutionelle Monarchie, mehr Macht für die Duma und Regierungen, die vom Parlament und nicht vom Gutdünken des Zaren abhingen. Noch in den Wirren der Revolution hielt er sich an die parlamentarischen Spielregeln, verlor dadurch aber zunehmend an Einfluss. Nach der Revolution war er kurz Außenminister der neuen Provisorischen Regierung, trat im April 1917 aber zurück. So sehr, wie er die Autokratie der Zaren kritisiert hatte, so sehr wetterte er später aus dem Exil gegen die bolschewistische Oktoberrevolution.
Neue Machthaber: Revolutionäre Soldaten der Bolschewiki liegen während der Februarrevolution in Petrograd auf der Lauer, die Waffen im Anschlag. Die durch Beendigung der Zarenherrschaft erkämpfte Souveränität des Volkes sollte allerdings nur wenige Monate anhalten: Im November 1917 (nach gregorianischem Kalender) rissen die Bolschewiki unter Führung Lenins in der Oktoberrevolution die Macht an sich.
Wortführer: Nikolos Tschcheidse, Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates ("Sowjet") in Petrograd hält während der Februarrevolution 1917 eine Rede vor dem Taurischen Palais. Das prachtvolle klassizistische Gebäude war Sitz der Duma, diente während und nach der Februarrevolution aber auch als Tagungsort des Petrograder Sowjet. Hier wurde am 27. Februar im völlig verrauchten Saal 12 auch das erste Exekutivkomitee des Sowjet gewählt. Die Führung bestand aus sechs Menschewiki, zwei Bolschewiki und fünf parteilosen Intellektuellen.
Die ungeliebte Dynastie: Zar Nikolai II. und sein Sohn und Thronfolger Alexej auf einer Aufnahme von 1914. Rund 300 Jahre regierten die Romanows, bis die Februarrevolution die Zarenherrschaft abrupt beendete. Die Industrialisierung hatte ein Heer an Arbeitern hervorgebracht und die Proletarier waren oft gebildet, politikinteressiert und anders als die Bauern wenig autoritätsgläubig. Viele sahen in den Zaren nur "Vampire", die sie ausbeuteten. Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten träumten von einem Umsturz. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs ...
... wurde Nikolai noch unbeliebter, weil sein Land etliche demütigende Niederlagen kassierte; diese Aufnahme zeigt den Zaren mit seinem Sohn um 1915 bei der Armee, dessen Oberbefehlshaber er war. Der Krieg führte auch zu Brotknappheit und Preisexplosionen bei Salz, Zucker und Mehl, die Bevölkerung sehnte sich nach einem Friedensvertrag - Anlässe, die die Revolution im Februar 1917 auslösten.
Bitte abdanken! Lange zögerte die bürgerlich dominierte Duma und war unentschlossen, wie sie mit den Unruhen in der Hauptstadt des Zarenreichs umgehen sollte. Erfolglos bat sie den Zaren, der an der Front weilte, eine "Regierung des Vertrauens" bilden zu dürfen - mit Repräsentanten des Volkes und nicht Marionetten des Zaren. Nach und nach nahmen die Depeschen an den Zaren an Schärfe zu. Das Bild zeigt den Vorsitzenden der Staatsduma, Wladimirowitsch Rodzjanko, der schließlich die Verhandlungen über die Abdankung des Zaren führte.
Mit mutigen Frauen begann die Revolution, als Textilarbeiterinnen am Internationalen Tag der Frau in Petrograd streikten und auf die Straße gingen. Sie mobilisierten sie die Männer in den angrenzenden Metallfabriken, sich ihnen anzuschließen; schließlich legten nach einem Bericht der Geheimpolizei rund 85.000 Menschen die Arbeit nieder. Diese Aufnahme zeigt Frauen, die in Petrograd für das Frauenwahlrecht demonstrieren.
Arbeitskampf: Arbeiter der Petrograder Putilow-Fabrik halten 1917 eine Fahne zur Unterstützung der Februarrevolution. Der in der Rüstungsfabrik ausgebrochene Streik, der zur Aussperrung von 30.000 Arbeitern führte, war einer der Initialfunken der Revolution.
Wut und Verzweiflung: Eine Menschenmenge am Bahnhof von Petrograd während der Februarrevolution 1917. Der Revolte gingen Hungersnöte voran, die sich in Folge des Weltkrieges und des besonders strengen Winters von 1916 auf 1917 verschlimmert hatten. Aus der Hungerrevolte wurde eine Revolution gegen das Zarentum.
Kontrolle wahren: Eine Stadt in Aufruhr - russische Beamten überprüfen während der Februarrevolution in Petrograd die Papiere eines Fahrzeughalters.
Bildungsmaßnahme: Eröffnungssitzung einer Veranstaltungsreihe an der Universität von Petrograd, in der nach der Februarrevolution 1917 analphabetischen Seeleuten das Lesen beigebracht werden sollte.
Nach der Revolution ist vor der Revolution: Der Zar war gestürzt und im März eine Provisorische Regierung eingesetzt, die den Russen Bürgerrechte und neue Freiheiten sicherte. Und doch blieb es eine unruhige Zeit, der Konflikt zwischen gemäßigten Menschewiki und radikalen Bolschewiki verschärfte sich. Schon Monate vor der bolschewistischen Oktoberrevolution kam es zu heftigen Straßenschlachten, wie hier im Juli 1917 in Petrograd. Die Unruhen waren von den Bolschewiki angestiftet worden; etwa 400 Menschen starben.
Gedenken: Russische Soldaten marschieren zur Feier der Februarrevolution durch die Straßen Zarizyns, das 1925 in Stalingrad umbenannt werden sollte.
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