
Seenotruf: Morsen bis zum Untergang
Erfindung des Seenotrufs Morsen bis zum Untergang
New York, der 22. Januar 1909. Am Hafen herrscht rege Betriebsamkeit. An Pier Nummer 48 der White-Star-Line liegt die "Republic" zum Auslaufen bereit. Die Gangway des Luxusliners passieren exakt 742 Personen: 250 Passagiere der Ersten und 211 der Dritten Klasse sowie 281 Crewmitglieder. Zur Besatzung zählt auch John Robinson Binns, dessen Leben an diesem Tag eine dramatische Wendung nehmen soll.
Als das imposante Schiff mit einem kräftigen Signal aus dem Typhon ablegt, hat der 24-jährige Engländer, den alle nur "Jack" nennen, längst seinen Platz in der Telegrafenkabine eingenommen. Wichtige Mitteilungen senden und empfangen, das ist seine Aufgabe an Bord. Ein verantwortungs- und reizvoller Job, denn die "Republic" bereist die Weltmeere. Nächster geplanter Stopp: die Azoren.
Wenige Monate zuvor hatte der deutsche Ingenieur Hans Bredow in Hamburg einen Vortrag vor deutschen Reedern gehalten. Es ging um den Einsatz der Funktelegrafie, und Bredow vertrat die Ansicht, dass diese künftig vor allem für die Sicherheit und Navigation auf See verwendet werden sollte. Doch die konservativen Reeder waren den teuren Neuerungen wenig aufgeschlossen. Als von mehreren Seiten Zweifel geäußert wurden, entgegnete Bredow ungeduldig: "Meine Herren, ob Sie wollen oder nicht, die Entwicklung wird über Sie hinweggehen, und eines Tages wird kein Schiff seinen Hafen ohne Funkstation verlassen. Der Funk wird an Bord ebenso wichtig werden wie der Kompass!"
"Eines Tages" kam schneller als gedacht, und Jack Binns sollte - ohne es zu ahnen - als Erster den Beweis antreten.
"Volle Kraft zurück"
Bevor der Dampfer "Republic" die Azoren ansteuern kann, muss er zunächst die stark befahrenen Wasserstraßen vor New York passieren. Für die Mannschaft bedeutet das höchste Aufmerksamkeit, vor allem nachts. Doch auch die frühen Morgenstunden des 23. Januar bringen keine Entspannung, denn die Sicht bleibt schlecht. Die Republic dampft etwa 50 Meilen südwestlich der Insel Nantucket vor der Küste des US-Bundesstaates Massachusetts durch dichte Nebelbänke. Kapitän Inman Sealby setzt den Maschinenraum in Alarmbereitschaft und lässt zusätzlich in regelmäßigen Abständen das Nebelhorn ertönen, um anderen Schiffen seine Position anzuzeigen. Die Geschwindigkeit aber reduziert er nur minimal.
Trotz des morgendlichen Spuks fühlen sich sowohl die Passagiere als auch Crew sicher an Bord. Der Glaube an die moderne Technik ist unerschütterlich. Doch um 5.47 Uhr ertönt plötzlich backbord voraus in unmittelbarer Nähe ein fremdes Nebelhorn. Sealby gibt noch die Befehle "Maschinen volle Kraft zurück" und "Ruder hart backbord" - zu spät. Aus dem Dunst taucht der italienische Passagierdampfer SS "Florida" auf und rammt die größere "Republic" mittschiffs fast im rechten Winkel.
Rettung auf Knopfdruck
Binns, der auf seinem Bett ruht, wird durch die Kabine geschleudert. Die Decke bricht ein, ein Großteil des Funkraumes wird einfach weggerissen. Maschinen- und Kesselräume laufen in Minutenschnelle voll Wasser, das Schiff bekommt erhebliche Schlagseite. Während an Bord wildes Geschrei herrscht, behält der junge Binns einen kühlen Kopf. Er überprüft die Funkausrüstung und macht sich, als schließlich auch noch die Stromversorgung zusammenbricht, auf die Suche nach Batterien. In einem überfluteten Lagerraum schwimmt und taucht er umher, bis er die lebensrettenden Blöcke schließlich findet. Binns eilt zurück in das, was einmal seine Funkkabine war. In völliger Dunkelheit und eisiger Kälte schließt er den Notstrom an. Es ist seine große Stunde. Binns setzt sich an die Taste und morst einen Notruf: "CQD! CQD! Shipwrecked!"
"CQ" (ausgesprochen als "Seek you") steht für "an alle", D für "Distress". Da die Buchstabenkombination jedoch schwer zu morsen und zu entschlüsseln ist, hatte man bereits 1906 auf der Berliner Telegrafenkonferenz das einfachere SOS als Notrufsignal vereinbart. Durchgesetzt hatte es sich bis dahin noch nicht. Überhaupt hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ein havariertes Schiff ein Notsignal abgesetzt. Nur wenige Schiffe, meist nur moderne Luxusliner, verfügten über die dafür nötige Anlage.
Auf der "Florida" hat die Kollision drei Opfer gefordert: Besatzungsmitglieder, die im Bug untergebracht waren. Auf der "Republic" verlieren drei Passagiere der Ersten Klasse ihr Leben. Dass es nicht noch mehr Opfer gibt, ist dem besonnenen Auftreten von Jack Binns zu verdanken.
Fataler Glaube an die Unsinkbarkeit
Der sitzt, von mehreren Mänteln und Decken umhüllt, noch immer an der Taste. Er kämpft gegen Kälte und Müdigkeit, hält aber die ganze Zeit Kontakt mit der Küstenstation Siasconsett und mehreren Passagierschiffen. Diverse Boote machen sich in Richtung der Unglücksstelle auf. Doch die genaue Ortung der Havaristen ist schwierig, da noch immer dichter Nebel die See bedeckt. Kapitän Sealby lässt Decken und Getränke verteilen - er geht nicht davon aus, dass seine stolze "Republic" sinken könnte. Als sich das Schiff jedoch immer mehr mit Wasser füllt, lässt er einen Großteil der Passagiere auf die "Florida" übersetzen, die die Kollision besser überstanden hat.
In den Kabinen und an Deck drängen sich die Menschenmassen. Es ist eine ungleiche Schicksalsgemeinschaft: Knapp 900 italienische Auswanderer, die mit knapper Not das Erdbeben von Messina überstanden haben, und der US-amerikanische Geldadel. Sie müssen 13 Stunden auf ihre endgültige Rettung warten. Erst dann erreicht, ständig dirigiert und korrigiert durch Binns Morsesignale, endlich der große White-Star-Liner RMS "Baltic" die Unglücksstelle. Er kann alle Passagiere aufnehmen und bringt sie zurück nach New York. Der Versuch, die "Republic" zu vertäuen und in seichtere Gewässer zu schleppen, misslingt jedoch. Gegen Mittag des 24. Januar versinkt die "Republic" etwa 36 Stunden nach der Kollision im eisigen Wasser.
Die Besatzung der "Republic" wird zuvor auf den Kutter "Gresham" und den altersschwachen Zerstörer "Seneca" verteilt. Dort trifft Jack Binns auf einen alten Freund, den Funker Mathew Tierney. Aus Binns bricht nun alles heraus: Er fängt an zu weinen und beichtet seinem Freund, er habe Angst, nach den traumatischen Erlebnissen nie wieder zur See fahren zu können. Binns ist in jenen Stunden ein nervliches Wrack. Wenn er in der Funkkabine der "Seneca" Morsesignale hört, flüchtet er panikartig aus dem Raum. "Nicht ein Mann unter Tausend hätte das geschafft, was Binns geleistet hat", sagt Tierney später einem Reporter der "New York Times". Das Blatt vermeldet daraufhin "The triumph of wireless telegraphy" und widmet dem Funker einen eigenen Artikel: "How Binns flashed his calls for help". Der Beitrag zeichnet - ungewöhnlich für die damalige Zeit - nicht das überlebensgroße Bild eines Helden, sondern das Psychogramm eines Menschen in einer Ausnahmesituation.
Drahtloser Held
Binns hat in den nächsten Wochen kaum Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Der "Wireless Hero" ist in aller Munde und wird herumgereicht. Empfang beim New Yorker Bürgermeister, Gala-Diner seines Arbeitgebers, der im Seefunk führenden Marconi-Company, in London. Die Filmgesellschaft Vitagraph dreht eilig einen Streifen über Binns ab und will damit die amerikanischen Lichtspielhäuser füllen. Der bescheidene Engländer fühlt sich in seiner Privatsphäre verletzt und klagt erfolgreich gegen die Aufführung. Nicht verhindern kann er den "Jack Binns Song", in dem die Komponistin W.B. Bull und der Texter Prof. Berry Smith dem Funker ein musikalisches Denkmal setzen:
"The Captain was brave, but braver was he
Who sat in his room with his hand on the key
And steadily sounded his CQD
To people somewhere outside."
Der mutige Mann an der Morsetaste stirbt 1959, 50 Jahre nach dem "Republic"-Unglück, in New York an einem Schlaganfall. Bis heute, weitere 50 Jahre später, ist er unvergessen. Erst das "Republic"-Unglück 1909 und sein mutiger Einsatz sowie die "Titanic"-Katastrophe 1912 sorgen für den endgültigen Durchbruch des Schiffsfunks. Diverse Internet-Seiten widmen sich Binns noch heute. Dem Helden, der nur "seine Pflicht getan" hat, wie er stets bescheiden bemerkte.