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Weimarer Republik: Politik zwischen Ballett und Chor

Weimarer Republik Warum Weimar?

Am 6. Februar 1919 tagte erstmals die deutsche Nationalversammlung - im beschaulichen Weimar statt in der Hauptstadt. Es war keine Flucht aus Berlin: Die Entscheidung für die thüringische Provinz hatte andere, gute Gründe.
Von Heiko Holste

Für die Politik war es ein ungewohntes Umfeld: Im Ankleideraum des Balletts tagte die Regierung, die Abgeordneten saßen im Parkett, im Probenraum des Chors liefen die Fraktionssitzungen, und der Parlamentspräsident thronte auf einer Bühne. Am 6. Februar 1919 kamen die Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Aber nicht im Berliner Reichstagsgebäude, sondern im Nationaltheater in Weimar.

Nach Revolution und Kriegsende sollten die Abgeordneten - darunter erstmals 37 Frauen - die Weichen für die Zukunft stellen, vor allem aber sollten sie Deutschlands staatliche Einheit retten. Was heute weitgehend vergessen ist: Zur Jahreswende 1918/19 stand Deutschland vor dem Zerfall; nur deshalb tagte die Nationalversammlung an einem so ungewöhnlichen Ort.

Schon während des Krieges hatten die Spannungen zugenommen. Je länger das Sterben an der Front dauerte und je schlechter die Ernährungslage in der Heimat wurde, desto stärker wuchs vor allem in Süd- und Westdeutschland die Kritik an Preußen und der politischen Dominanz Berlins. Bei einer Hunger-Demonstration in München beschimpften aufgebrachte Hausfrauen bayerische Soldaten als "Preußenknechte". Der Wittelsbacher Kronprinz Rupprecht dachte im kleinen Kreis darüber nach, ob Bayerns Zukunft nicht in der Abkehr von Deutschland und einer Wiedervereinigung mit Österreich liege.

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Weimarer Republik: Politik zwischen Ballett und Chor

Der in München lebende Schriftsteller Erich Mühsam machte sich wegen des wachsenden Preußenhasses so große Sorgen um den Bestand des Deutschen Reiches, dass er sicherheitshalber die bayerische Staatsbürgerschaft beantragte. "Fliegt eines Tages das glorreiche Gebilde auf, dann bin ich Lübecker in Bayern Ausländer, und zwar zweifellos ein äußerst lästiger", notierte er in seinem Tagebuch, "dann bin ich jenseits der blauweißen Grenzpfähle, ehe ich mich umgesehen habe - und dem möchte ich vorbeugen."

"In Berlin Zerfahrenheit, Ratlosigkeit, Katzenjammer"

Der Frust über Preußen und Berlin steigerte sich Anfang November 1918, als US-Präsident Wilson die Abdankung des Kaisers zur Vorbedingung für einen Waffenstillstand machte. Ganz Deutschland wartete darauf, dass Wilhelm II. den Weg für den Frieden endlich freimacht, aber in Berlin herrschte Zögern und Zaudern.

Es war auch die Tatenlosigkeit in der Hauptstadt, die in der Provinz zur Revolution führte: In Kiel und in Wilhelmshaven meuterten die Matrosen, in Bayern proklamierte der Sozialist Kurt Eisner den "Freistaat Bayern". Eisner nahm Kontakt zu den Amerikanern auf, um auf eigene Faust einen Waffenstillstand abzuschließen, und ordnete an, dass die bayerischen Soldaten die Kokarde mit den Reichsfarben von ihren Uniformmützen abtrennen. Deutlicher konnte Bayern seine Distanz zum übrigen Deutschland nicht ausdrücken.

Am 9. November hatte die Revolution Berlin erreicht, aber Kurt Eisner war enttäuscht von der Lage dort: "In Berlin regiert die Konter-Revolution. Keine Revolutionsstimmung, Zerfahrenheit, Ratlosigkeit, Katzenjammer." Dagegen zeichnete die katholische "Kölnische Volkszeitung" ein geradezu apokalyptisches Bild: Der Spartakus-Führer Karl Liebknecht sei der wahre Herr von Berlin, dort regiere der "heimatlose, großstädtische Pöbel". Hungersnot, Bürgerkrieg und Deutschlands völliger Untergang stünden unmittelbar bevor.

Dieses Bild war völlig falsch. Die Revolution verlief in Berlin weitgehend friedlich, die U-Bahnen fuhren, die Gehälter wurden weiter bezahlt. Und an der Spitze der neuen Regierung stand kein Kommunist, sondern der besonnene Sozialdemokrat Friedrich Ebert.

Die Stadt Goethes und Schillers war ein gutes Symbol

Berlin war für viele Konservative als glanzvolles Symbol der Monarchie in Ordnung gewesen, aber für den ostelbischen Junker, den bayerischen Priester und viele Kleinbürger in der Provinz war die moderne Großstadt immer auch ein Ort für angeblichen Sittenfall und zweifelhafte Fortschrittlichkeit. Dass im November 1918 in vielen Teilen Deutschlands eine "Los von Berlin"-Stimmung um sich griff, lag auch an der übersteigerten Furcht vor einer bolschewistischen Diktatur in Berlin. Manche Regionalpolitiker versuchten auch, sich der Mithaftung für den Militarismus und dessen Folgen zu entziehen. Im Rheinland schimpften jetzt katholische Zentrumspolitiker auf die "preußische Fremdherrschaft" und kokettierten offen mit der Ausrufung einer Westdeutschen Republik.

In dieser Situation wollte Friedrich Ebert durch rasche Wahl einer Nationalversammlung die auseinanderstrebenden Teile des Reiches zusammenhalten, auch der Tagungsort des Parlaments sollte integrierend wirken. In Frankfurt am Main hatte sich sofort die Erinnerung an 1848 geregt, liberale Kräfte boten die Paulskirche an. Ebenso stellten sich Erfurt, Kassel, Eisenach, Bamberg und Nürnberg als Tagungsort zur Verfügung. Kurt Eisner hingegen drängte zusammen mit den Regierungen von Baden und Württemberg auf eine Tagung in Würzburg.

Weimar dagegen hatte sich nicht gemeldet. Die Stadt ins Spiel brachte Curt Baake, neuer Chef der Reichskanzlei und rechte Hand von Friedrich Ebert. Zuvor war Baake Parlamentskorrespondent, Kulturredakteur und Mitbegründer der Berliner Volksbühne; seine Leidenschaft galt gleichermaßen Politik und Kultur, Parlament und Theater. Es war seine Idee, die Nationalversammlung nach Weimar einzuberufen.

Frankfurt war wegen der Nähe der französischen Besatzungstruppen schnell aus dem Rennen. Weimar verfügte mit dem Theater über einen geeigneten Tagungsort und war schnell Eberts Favorit. Widerstand kam vor allem von Militärchef Wilhelm Groener und von Hugo Preuß, neuer Innenminister und Vater der künftigen "Weimarer Verfassung". Ihnen galt eine Tagung außerhalb Berlins als Zeichen der Schwäche der Reichsregierung.

Friedrich Ebert aber beharrte auf Weimar. Man müsse mit der Antipathie gegen Preußen und Berlin besonders in Süddeutschland rechnen, erklärte er dem Berliner Oberbürgermeister: "Die Verlegung der Nationalversammlung nach dem Herzen Deutschlands wird den Einheitsgedanken, die Zusammengehörigkeit des Reiches mächtig stärken." Dass die Stadt Goethes und Schillers ein gutes Symbol für die junge deutsche Republik war: ein willkommener Nebeneffekt - nicht zuletzt außenpolitisch.

Flammender Appell für ein einiges Deutschland

Dagegen spielte die Sicherheit keine große Rolle mehr, denn mit der blutigen Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes Anfang Januar 1919 war die Gefahr gebannt, dass in Berlin Linksradikale den Parlamentsbetrieb stören könnten. Die junge KPD verbreitete zwar die These, die Nationalversammlung sei nach Weimar geflohen, weil sie nach dem Tod von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Rache der Berliner Arbeiterschaft gefürchtet habe. Doch das war eine Mär: Die Regierung um Ebert hatte sich schon am 14. Januar 1919 für Weimar entschieden, Liebknecht und Luxemburg wurden erst am Tag darauf ermordet. Die Kommunisten mögen es in ihrer Hybris so wahrgenommen haben, die Konservativen in ihrer Bolschewisten-Furcht auch - aber eine Flucht aus Berlin war die Berufung der Nationalversammlung ins beschauliche Weimar nicht.

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Heiko Holste

Warum Weimar?: Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam

Verlag: Böhlau Köln
Seitenzahl: 224
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Mit einer Nationalversammlung weder in Preußen noch in Bayern, sondern auf halber Strecke zwischen Berlin und München kam die Reichspolitik ihren Kritikern entgegen. Die einen konnten diesen Schritt als Abkehr von Militarismus und preußischer Dominanz deuten, die anderen als Absage an Revolution und Barrikadenkämpfe. Weimar war einst, lange vor der staatlichen Einheit, eine Hauptstadt der deutschen Kulturnation und nun ein idealer Identifikationsort für alle Deutschen unabhängig von ihrer regionalen und politischen Herkunft.

Als sich die Abgeordneten am 6. Februar in Weimar trafen, zeigte sich die junge Republik auch in anderem Glanz als die vergangene Monarchie. "Statt der Generäle und Exzellenzen von einst blühten Maiglöckchen, bunte Tulpen und anderes Gewächs", notierte das "Berliner Tageblatt", denn Thüringer Floristen hatten den Innenraum des Theaters reich dekoriert.

Mit einem flammenden Appell für ein einiges Deutschland eröffnete Ebert die Nationalversammlung - und sein Plan ging auf: Die Vertreter aller Landesteile arbeiteten friedlich an einer neuen Verfassung. "Von allem, was man bisher in Weimar sieht, ist dieses das Beste: dass es keinen besonders gefährlichen Partikularismus gibt", schrieb Theodor Wolff im "Berliner Tageblatt".

Auch wenn das Reich-Länder-Verhältnis spannungsvoll blieb, kam es weder zu Abspaltungen noch zu Sezessionskriegen. Die Wahl Weimars war eine kluge Entscheidung für die Einheit Deutschlands. Friedrich Ebert und Curt Baake haben damit mehr Staatskunst bewiesen, als bis heute vielen bewusst ist.

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