
Karlsruhe 1993: Frauen demonstrieren nach der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts für ein Recht auf Abtreibung
Foto: Sungu / dpaKampf gegen Paragraf 218 »Nieder mit den Abtreibungsparagraphen«
Frau Dreyer sah keinen anderen Ausweg. Sie führte mit ihrem Mann eine Bäckerei und bewirtschaftete mehrere kleine Weinberge, um die Familie durchzubringen, drei Kleinkinder mussten beaufsichtigt werden. Frau Dreyers Nierenleiden hatte sich verschlechtert – und nun war sie ein viertes Mal schwanger. Die Schwangerschaft drohte ihre Gesundheit zu gefährden; sie fürchtete, die Kinder nicht versorgen und ihre Pflichten in Backstube, Laden, auf dem Weinberg und im Haushalt nicht erfüllen zu können. »So beschloss sie, um der Lebenden Willen auf das Ungeborene zu verzichten«, schrieb Else Kienle 1932 in ihrem Buch »Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin« .
Kienle erzählt zahlreiche Fälle: Frauen, deren Schwangerschaft sie gesundheitlichen Risiken, prekären Lebenslagen oder der gesellschaftlichen Schmähung als Mutter eines unehelichen Kindes aussetzte. Die in ihrer Not in Kienles Praxis kamen. Bei einigen nahm die Ärztin eine Abtreibung vor. Andere musste sie wegschicken, weil es keine gesetzlich gültigen Gründe für einen Abbruch gab. Auch über diese Frauen schrieb Kienle: etwa über das Mädchen, das die Schwangerschaft vor ihren Eltern versteckte, ihr Kind heimlich gebar und es fortgab. Monate später suchte sie erneut Hilfe bei Kienle: Sie war von der Erfahrung physisch und psychisch traumatisiert.
Weil sie in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche vornahm, wurde Else Kienle im Februar 1931 zusammen mit dem Arzt und Autor Friedrich Wolf verhaftet. Kienles Patientenkartei wurde konfisziert und die Ärztin in wochenlanger Untersuchungshaft zu über 200 Fällen befragt.
Nach Massenprotesten kamen Kienle und Wolf Ende März 1931 frei. Ihre Verhaftung war mitten in eine der großen Debatten über den Abtreibungsparagrafen 218 gefallen, der zu dieser Zeit schon beinahe 60 Jahre Gesetz war: Zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 wurde das Abtreibungsverbot ins Strafgesetzbuch des Deutschen Kaiserreichs aufgenommen. »Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft«, heißt es dort.
Die Frauenbewegung sprach nicht mit einer Stimme
Zwar war der Schwangerschaftsabbruch auch schon vorher in Ländern wie Preußen mit Zuchthaus bestraft worden. Aber mit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches am 1. Januar 1872 galt das Abtreibungsverbot für alle deutschen Länder.
Eine Abtreibung war ab dem Zeitpunkt der Empfängnis illegal. Ärzte oder Helfer, die sie gegen Bezahlung vornahmen, mussten mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus rechnen. Strafbar machte sich auch, wer das Kind einer Schwangeren ohne ihr Wissen oder ihren Willen abtrieb. Starb die Frau dabei, drohte sogar lebenslängliche Haft.

Abtreibungsverbot: Der Paragraf, der die Frauen traf
Die Frauenbewegung äußerte zwar Widerstand gegen das Gesetz, sprach bei dem Thema aber nie mit einer Stimme. Gräfin Gertrud Bülow von Dennewitz kritisierte in einer 1904 unter Pseudonym veröffentlichten Streitschrift den staatlichen Geburtenzwang: »Die im § 218 unter Strafandrohung an die Frau gestellte Forderung eine keimende Leibesfrucht in ihrem Schoße unter allen Umständen auszutragen und auf die Welt zu bringen, ist ein unwürdiger Eingriff in die allerintimste Privatangelegenheit eines Weibes.«
Die Juristin Marie Raschke widersprach und hielt einen Schwangerschaftsabbruch für bestrafungswürdig. Ihre Kollegin Camilla Jellinek plädierte in einem Gutachten für die Rechtskommission des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF) für eine Streichung des Paragrafen, wurde auf der Generalversammlung des Vereins 1908 aber überstimmt, weil man eine Sittenverrohung fürchtete, sollte Abtreibung lediglich nach einer Vergewaltigung straffrei bleiben. Sexualreformerinnen wie Helene Stöcker, die 1905 den Bund für Mutterschutz gründete, unterstützten dagegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Neben der Selbstbestimmung wurden dabei auch Argumente der Rassenhygiene zitiert.
»Klassenparagraf« 218
Bald nach seiner Einführung galt Paragraf 218 als »Klassenparagraf«. »Gemeint war damit, dass vor allem arme Frauen und Proletarierinnen vom Verbot der Abtreibung betroffen waren. Bürgerliche Frauen hatten ... (sowohl) einen besseren Zugang zu Verhütungsmitteln als auch zu Abtreibungen«, schreibt Historikerin Kerstin Wolff vom Archiv der Deutschen Frauenbewegung. Als Alfred Bernstein und Julius Moses, Ärzte der Arbeiterbewegung, deshalb 1913 einen Gebärstreik forderten, diskutierten auch die Sozialdemokraten darüber, lehnten aber die Unterstützung der Forderung letztlich ab – gegen den Widerstand der meisten Frauen in ihren Reihen, mit Ausnahme von Clara Zetkin.
In der Not nach dem Ersten Weltkrieg und während der großen Inflation lebten viele Familien in Angst davor, zusätzlichen Nachwuchs durchzubringen. Doch nach Einführung des Frauenwahlrechts 1918 und mit Beginn der Zwanzigerjahre etablierte sich ein Frauenbild, zu dem auch eine neue sexuelle Freiheit gehörte. Forderungen nach Streichung des Paragrafen oder einer straffreien Phase während der ersten drei Schwangerschaftsmonate wurden laut.
»Nieder mit den Abtreibungsparagrafen«, proklamierte ein Plakat der Grafikerin Käthe Kollwitz 1924. In seinem Schauspiel »Cyankali« führte Arzt und Autor Friedrich Wolf dem Publikum 1929 die Klassenunterschiede und das Elend mittelloser Schwangerer drastisch vor Augen.
Schon 1930: »Ich habe abgetrieben«
Sechsmal befasste sich der Reichstag der Weimarer Republik zwischen 1920 und 1926 mit Paragraf 218. Und fand 1926 nur einen »Minimalkonsens, der eine uneingeschränkte Beibehaltung des Abtreibungsverbots und lediglich eine Strafmilderung und eine Herabstufung vom Verbrechen zum Vergehen vorsah«, schreibt Jurist Dirk von Gehren . Aus Protest legten Frauen und Ärzte in einer vom Berliner Gynäkologen Heinrich Dehmel organisierten Selbstbezichtigungskampagne 1930 offen: »Ich habe abgetrieben« und »Ich habe einer Frau geholfen«.
Doch mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten schwanden alle Hoffnungen auf eine Lockerung des Abtreibungsverbots. Die Nazis erhoben Kinderreichtum zur patriotischen Pflicht und ahndeten Schwangerschaftsabbrüche ab 1943 mit der Todesstrafe – wegen »Beeinträchtigung der Lebenskraft des Volkes«. Andererseits legalisierte das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« ab 1933 die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten wie Schizophrenie, gefolgt von Abtreibungen und »Euthanasie«-Morden. Auch Zwangsarbeiterinnen aus dem Osten wurden zu Abtreibungen gezwungen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs und Massenvergewaltigungen führten in der sowjetischen Besatzungszone zur zeitweisen Aufhebung des Abtreibungsparagrafen. Kurz nach ihrer Gründung vollzog die DDR 1950 mit dem »Gesetz über den Mutter- und Kindschutz und die Rechte der Frau« eine radikale Umkehr: Abtreibungen waren nur noch erlaubt, wenn die Schwangerschaft Leben oder Gesundheit der Frau gefährdete oder ein Elternteil eine schwere Erbkrankheit hatte. Die Erlaubnis für einen Abbruch mussten Schwangere vor einer Kommission einholen.
Legale Abtreibung in der DDR
Weil der Unmut über diese Regelung stieg und andere Ostblockstaaten sie liberaler handhabten, konnte Inge Lange als Vorsitzende der Frauenkommission im DDR-Politbüro die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs durchsetzen. Ab 1972 galt laut Paragraf 1 des »Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft«: »Zur Bestimmung der Anzahl, des Zeitpunktes und der zeitlichen Aufeinanderfolge von Geburten wird der Frau zusätzlich zu den bestehenden Möglichkeiten der Empfängnisverhütung das Recht übertragen, über die Unterbrechung einer Schwangerschaft in eigener Verantwortung zu entscheiden.« Frauen konnten in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft ohne Angabe von Gründen kostenlos abtreiben.
Die Bundesrepublik schrieb derweil das Ideal der Hausfrau und Mutter fort. Erst 1953 wurde die von den Nationalsozialisten eingeführte Todesstrafe beim Schwangerschaftsabbruch gestrichen, ab 1969 galt der Abbruch wie einst in der Weimarer Republik nur noch als Vergehen, geahndet mit geringen Freiheitsstrafen oder Geldbußen.
Die von Alice Schwarzer im »Stern« organisierte Kampagne »Wir haben abgetrieben« sorgte 1971 für eine neue gesellschaftliche Debatte. Gruppen der »Aktion 218« forderten von Justizminister Gerhard Jahn die Streichung des Paragrafen. Unterdessen stellten sich die deutschen Bischöfe hinter die päpstliche Enzyklika »Humanae vitae«, der zufolge der Staat ungeborenes Leben unbedingt schützen müsse.
Geldstrafe wegen »Werbung für Abtreibung«
Im Bundestag einigte man sich erst 1974 auf eine Fristenlösung: Abtreibungen mit Einwilligung des Arztes sollten bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei bleiben. Die in einer Stichabstimmung knapp errungene Lösung wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig gekippt , weil sie gegen das im Grundgesetz verankerte Recht auf Leben verstoße. Zwei Jahre später galt als Kompromiss die Indikationsregelung, die Abtreibung im Falle von Gefahr oder Schädigung der Frau, Vergewaltigung und sozialer Notlage zuließ.
Nach der Wiedervereinigung wurde die liberale Regelung der DDR verworfen. Heute ist der Abbruch aufgrund medizinischer Risiken oder nach einer Vergewaltigung erlaubt und straffrei. Eine Abtreibung als selbstbestimmte Entscheidung der Frau kann in den ersten zwölf Wochen und nach Beratung durch einen Arzt durchgeführt werden. Sie gilt aber weiterhin als rechtswidrig, auch wenn sie straffrei bleibt.
Ärztinnen und Ärzte geraten weiter ins Visier der Justiz. Weil sie auf ihrer Homepage über Abtreibungen informiert hatte, wurde die Gießener Ärztin Kristina Hänel 2017 wegen Verstoßes gegen Paragraf 219a, dem sogenannten Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, zu einer Geldstrafe verurteilt. Nach einer Revision, einer zweiten Verurteilung und der Abweisung einer erneuten Revision reichte Hänel im Januar 2021 Verfassungsbeschwerde gegen Paragraf 219a ein. Die neue Bundesregierung hat angekündigt, Paragraf 219a in diesem Jahr aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
Paragraf 218 aber – der ist immer noch da.