
25 Jahre Tschernobyl: "Jeder Soldat strahlte wie ein kleiner Reaktor"
25 Jahre Tschernobyl "Jeder Soldat strahlte wie ein kleiner Reaktor"
Nikolai Kanzawenka wollte Kartoffeln pflanzen, als er plötzlich eine riesige dunkle Regenwolke bemerkte. Er versteckte sich in einer Scheune, dann regnete es. Nach dem Regen ging er zu einem See, um zu Angeln. Der See war grün. Grün war auch die Milch, die Kantsavenkas Kuh gab. Und sie zog Fäden. Kantsavenka, Förster im Kreis Tschetschersk in der weißrussischen Region Gomel, war ratlos in diesen Tagen Ende April 1986. Was war passiert? "Von dem Vorfall in Tschernobyl", sagt er, "erfuhren wir erst Tage später."
Auch Klaudsija Waranez aus Ostrogliady war ahnungslos. Am 28. April ging die junge Frau zu einem Sportturnier für Kinder, an dem Sechst- und Siebtklässler aus dem ganzen Landkreis teilnahmen. Viele der Kinder hätten Nasenbluten bekommen und seien in Ohnmacht gefallen, sagt Waranez. "Wir dachten, es sei wegen der Hitze." Über die Abkühlung durch den folgenden Regen hätten sich alle gefreut, "unsere Kinder spielten in gelben Pfützen im Hof". Von der Katastrophe erfuhr Waranez im Bus nach Hause: "Die Behörden schwiegen."
Am 26. April 1986 schockierte die Katastrophe von Tschernobyl die Welt. In Block 4 des Kernkraftwerks war der Reaktor explodiert. Doch im Gebiet drumherum wussten viele Menschen auch Tage nach dem GAU, also dem größten anzunehmenden Unfal,l noch nicht, welche Gefahr ihnen drohte. Kinder spielten weiter im Kindergarten, Schüler gingen in die Schulen. "Eine kurze Meldung kam erst vier Tage nach der Explosion", sagt Klaudsija Waranez' Mann Adam. "Dabei wurde betont, dass die Situation unter Kontrolle sei und die Menschen nichts zu befürchten hätten."
Helfer in der Todeszone
Tschernobyl ist eine Geschichte von technischem Versagen und vom Ende der Illusion, dass die Kernkraft beherrschbar sei. Ganze Landstriche wurden für immer unbewohnbar. Da, wo früher das Leben blühte, stehen seit der Katastrophe Geisterstädte wie der Ort Pripjat: Staubige Häuserskelette, verlassene Spielplätze, verwahrloste Kindergärten.
Aber Tschernobyl ist auch die Geschichte vom Leugnen, Vertuschen und Verharmlosen und darüber, wie ein Staat das Leid seiner Bürger in Kauf nahm. Tausende wurden zu spät evakuiert, Hunderttausende zum Helfen in die Todeszone geschickt. Sie sollten Schutt abtragen, Hubschrauber fliegen oder verlassene Häuser reinigen - die meisten ohne ausreichenden Schutz. Für die Helfer wurde ein Begriff geschaffen: Liquidatoren.
Nikolai Kanzawenka ist heute 70 Jahre alt. Der Förster aus Bobrowski musste die Strahlung in seinem Wald messen und neue Bäume pflanzen - damit diese später die Strahlung absorbierten. "Jetzt wachsen dort schöne Wälder", sagt der alte Mann. Zur Beerdigung seines Sohnes sei er daran vorbeigefahren. Der Sohn war an Krebs gestorben, mit 28 Jahren.
Verwüstete Leben
Es gab unzählige Liquidatoren wie Kanzawenka, und die allermeisten zahlten einen hohen Preis. Viele sind heute Invaliden, brachten missgebildete Kinder zur Welt, erkrankten an Krebs. Mit der Katastrophe verbindet man vor allem verwüstete Landschaften, nicht aber die verwüsteten Leben der Liquidatoren.
Das Buch "Verlorene Orte - gebrochene Biografien", herausgegeben vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund, zeigt anlässlich des 25. Jahrestages der Tschernobyl-Katastrophe beide Seiten. Auf den beeindruckenden Bildern des Fotografen Rüdiger Lubricht sind Orte wie Pripjat, Uschaki oder Kul'schytschy zu sehen, die das atomare Grauen greifbar machen. Aber auch Liquidatoren erzählen ihre Geschichte - und Lubricht gibt ihnen mit seinen Porträts ein Gesicht.
Da ist Ewgenij Samsow, ein rundlicher Mann in Uniform, behängt mit Orden. Er wurde in seinem Wohnzimmer fotografiert, im Hintergrund sitzt eine Puppe. Samsow, Mitte 50, Feuerwehrhauptmann, ist der einzige Überlebende seiner Löschbrigade. Er leidet an Herz-, Blut- und Kreislauferkrankungen.
"Jeder Soldat strahlte wie ein kleiner Reaktor"
Da ist Mykola Bosji. Der heute fast 70-Jährige Oberst leitete die militärische Einheit 731, die den Reaktor löschen sollte. Die Einheit 731, das waren 353 Zivilisten, die die Kiewer Militärverwaltung in Uniformen gesteckt und dann das Kriegsrecht über sie verhängt hatte. Das sollte Desertationen verhindern. Die Arbeitstage dauerten 16 Stunden, "jeder Soldat strahlte wie ein kleiner Reaktor", sagt Bosji. Seine Truppe sollte den Reaktor zuschütten. Menschen ersetzten Roboter, die wegen der extremen Strahlenwerte nicht mehr funktionierten. "Bioroboter" nannte man die Männer deshalb. Ein Höllenjob.
Wie viele der Liquidatoren infolge ihrer gefährlichen Tätigkeit starben, ist unbekannt. Von bis zu 100.000 Toten sprachen Experten vor fünf Jahren, die Internationale Atomenergiebehörde erkannte nur 31 Fälle als unmittelbare Folge des Unglücks an.
Insgesamt sollen seit 1986 bis zu 800.000 Menschen in und um Tschernobyl zum Einsatz gekommen sein. Sie fanden sich 1991 nach dem Zerfall der UdSSR in verschiedenen Staaten wieder - und mussten in der Ukraine, Weißrussland oder Russland oft jahrelang die nächsten Kämpfe kämpfen: Es ging um Hinterbliebenenrenten, zugesagte Wohnungen, Respekt. Und oft auch um die offizielle Anerkennung als Liquidator: Die notwendige medizinische Versorgung ist nur für den gesichert, der einen sogenannten Liquidatorenausweis besitzt.
Nikolai Kanzawenka, der Förster aus Tschetschersk, wartete vergeblich auf die versprochene Wohnung in Minsk. Seine Söhne blieben in Gomel, einer starb an Krebs und hinterließ zwei Töchter und eine Frau - alle ebenfalls krank. Die Kinder kamen nach Deutschland zur Kur, Kanzawenkas Schwiegertochter reiste hinterher und verliebte sich in den Gastvater. "Sie haben geheiratet, sie leben jetzt in Hannover und sind sehr glücklich", sagt Nikolai Kanzawenka. Er kämpft seit 1987 gegen den Krebs.
Zum Weiterlesen:
Rüdiger Lubricht, Peter Junge-Wentrup (Hrsg., IBB Dortmund): "Verlorene Orte - Gebrochene Biografien". März 2011, 120 Seiten.