
Funktionspuppen: Born to be alive – lauter kleine Androiden
30 Jahre »Baby Born« Püppi macht Pipi
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Der »Plaste-Säugling«, der mit »atemberaubendem Erfolg« die Herzen von Puppen-Muttis höherschlagen lasse, habe »ganz besondere Qualitäten«, berichtete das »Hamburger Abendblatt« am 30. November 1991 – »die Puppe macht Pippi«. Und genau damit wurde eine brandneue Innovation des traditionsreichen Spielzeugherstellers Zapf zum Verkaufsschlager im Weihnachtsgeschäft.
Denn was Zapf sich da so niedlich gestaltet ausgedacht habe, ging über das lang schon übliche Fläschchennuckeln und Tränenweinen hinaus: »Das Püppchen hat – ganz neu und ohne Batterien – eine eigenständige Verdauung. Wenn man es hinlegt, macht es seine Windeln naß und wenn es sitzt, macht es ins Töpfchen.« Und zwar zuverlässig und nur dadurch ausgelöst, dass man am Ärmchen zog.
Das war 1991 wirklich neu, weil überraschend unaufwendig. Seit Jahrzehnten schon liefen, brabbelten und bewegten sich sogenannte Funktionspuppen durch die Kinderzimmer und konsumierten dabei massenhaft Batterien. Die Funktion des künstlichen Kindes wieder an einen mechanischen Hebel- und Pumpmechanismus zu koppeln, war dagegen geradezu retro – und äußerst geschickt: Es versprach geringere Kosten und weniger Aufwand.
Darum, Puppen in Aussehen und Verhalten echten Babys immer mehr ähneln zu lassen, bemühte man sich schon seit mehr als 150 Jahren. Auch Funktionspuppen, die den Flüssigkeitshaushalt und Stoffwechsel von Babys imitierten, waren nicht wirklich neu.
Füttern nur mit der Firmenpampe
So verfügte schon »Baby Alive«, 1973 vom US-Hersteller Kenner »geboren«, über alle Körperfunktionen der 18 Jahre später vorgestellten deutschen Erfolgspuppe. Der große Unterschied: Auch »Baby Alive« konnte man zwar mit Flüssigkeit und Brei füttern. Nur wusste man nie so recht, ob das Ganze oben oder unten wieder ausgeschieden werden würde – eine Form von Realismus, die am Markt nicht nur Beifall fand. Erst spätere, batteriebetriebene Modelle nutzten den Verdauungstrakt zuverlässig nur in eine Richtung.
Baby Born hingegen erledigte seine Geschäfte rein mechanisch und mit fränkischer Perfektion: Was man oben hineinfüllte, landete unten in der Windel. Und in der Zapf-Kasse klingelte deshalb bald ein bis dahin ungekannter Geldsegen. Jetzt konnte man nicht nur Kleidchen und Spielzeug für den kleinen Androiden anbieten; er verlangte ganz wie im richtigen Leben auch nach frischen Windeln und passendem Futter, um die zu füllen.
Denn an der firmeneigenen Pampe kam man kaum vorbei: Hunderttausende Puppenmütter fanden bald heraus, dass man besser auf Haferflocken, Mehl und andere, so naheliegende wie preiswerte Alternativen verzichten sollte – da drohte akute Verstopfung bis hin zu Schimmelbildung.
Jährlich bis zu fünf Millionen Puppen verkaufte Zapf Mitte der Neunzigerjahre, Baby Born allein sorgte für bis zu 80 Prozent des Firmenumsatzes. Zum Ende des Jahrzehnts wagte der Mittelständler sogar den Börsengang, was sich aber schnell als Fehler erwies – 2018 zog er sich wieder zurück. Trotzdem blieb Baby Born wichtigster Kassenhit des Unternehmens aus dem oberfränkischen Rödental bei Coburg.
Augen aus Glas: Wie Spielzeug »echt« wurde
Dass die Erfolgspuppe aus dieser Region stammt, ist kein Zufall. Bereits im 16. Jahrhundert hatte sich der notorisch arme Landstrich zwischen Harz, Erzgebirge und bayerischem Wald zum Mittelpunkt einer wachsenden europäischen Spielzeugindustrie entwickelt. Die dortigen Manufakturen wurden vor allem durch Holzspielzeug mit pfiffigen Funktionen bekannt – darunter natürlich auch Puppen mit beweglichen Gliedern, wie man sie bereits im antiken Rom gekannt hatte.
Die einsetzende industrielle Revolution mit ihren neuen Materialien und Fertigungsmöglichkeiten sorgte nun dafür, dass Spielzeug immer raffinierter und lebensechter gestaltet werden konnte. Bereits 1832 fiel dem jungen, frisch promovierten Mediziner Heinrich Adelmann aus Würzburg eine Puppe auf, mit der seine Tochter gerade spielte. Das lebensechteste Element des Puppenkopfes waren die Augen: Sie glänzten fast menschlich. Ein geschickter Puppenmacher hatte dem künstlichen Kopf Augen aus Glas eingesetzt.

Funktionspuppen: Born to be alive – lauter kleine Androiden
Adelmann forschte nach, wo solches Spielzeug wohl gefertigt werde. Man wies ihm den Weg nach Thüringen. In Lauscha fand er den Glasbläser Ludwig Müller-Uri, einen der geschicktesten seiner Zunft. Thüringische Spielzeugmacher hatten Puppen und Stofftiere schon ab Mitte des 18. Jahrhunderts mit einfachen Glasaugen versehen. Müller-Uri aber bemühte sich, die auch lebensecht zu gestalten.
Als Adelmann ihn fragte, ob man so etwas auch für Menschen produzieren könnte, stieß er damit zwei Entwicklungen an. Müller-Uri entwickelte in Milchglas gegossene Augenprothesen für Menschen, denen er Pupillen mit Schmelzfarben gab. Seine »Glasaugen« begannen ab 1835, Augenklappen aus Metall und Leder zu verdrängen.
Natürlich wirkten die neuen Augen auch auf die Spielzeugfertigung zurück: Immer realistischere Puppen entstanden. Damit wurden in Holz- oder Pappmaschee gefertigte Püppchen zu Spiel- und Sammelobjekten, die wie echte Babys aussahen. Und zwar weltweit.
Kinder besser nicht anbrüllen
Das erste Patent für eine sprechende Puppe, die Mama und Papa sagen sollte, wurde schon 1832 in Frankreich eingereicht – ob die Vision je umgesetzt wurde, ist fraglich. Gut 30 Jahre später gab es in den USA zahlreiche Puppen zu kaufen, die vermeintliche Sprechgeräusche von sich gaben: mechanische Nachempfindungen minderer Qualität. Das inspirierte Thomas Alva Edison dazu, dem von ihm 1877 entwickelten Phonographen eine erste praktische Nutzanwendung zu geben: Im selben Jahr ließ er eine Sprechpuppe mit eingebautem Phonographen patentieren, die ab Mai 1888 tatsächlich gebaut und kurz darauf auch verkauft wurde.
Edison erlebte jedoch ungewohnten Misserfolg: Schon nach sechs Wochen war Schluss mit den Verkaufsversuchen. Wer wissen will, warum, braucht sich nur die rekonstruierte Aufnahme der ersten Edison-Puppe anhören – sie verbreitete bei Kindern vor allem Angst und Entsetzen.
Grund war der primitive Aufnahmeapparat. Jede einzelne Puppe musste von einer Arbeiterin einzeln bespielt werden, weil man phonographische Aufnahmen noch nicht kopieren konnte. Das primitive Mikrofon war dabei so unempfindlich, dass die Frauen ihre Texte in die Puppe »hineinbrüllen« mussten. Was das Kind so zu hören bekam: durch statisches Knistern hindurch eine verzerrte Frauenstimme, die »Twinkle, twinkle little Star« und andere Kinderreime zur guten Nacht schrie. Stoff für Albträume.
Immerhin, auf Edisons Patent beruhende »Schallplattenpuppen« werden noch immer verkauft, heute aber mit kindgerechten Inhalten.
Nicht zu viel: Interaktion ist nur in Maßen gut
Ende des 19. Jahrhunderts sollte es im Puppenbau Innovationen hageln. Ab 1889 begann die thüringische Spielzeugmanufaktur Franz Schmidt und Co., ihre Puppen mit lebensecht gestalteten Porzellanköpfen der Firma Simon & Halbig zu versehen. Die besten davon kamen wiederum von Kämmer & Reinhardt, die den Ehrgeiz hatten, mit ihren Puppenköpfen kleine, idealisierte Menschen nachzubilden.
1903 patentierten Kämmer & Reinhardt dafür das gläserne Schlafauge, das zuerst von Franz Schmidt verbaut wurde und sich schnell durchsetzte: Wenn man sein künstliches Baby zur Ruhe legte, schloss es die Lider. Aus dieser Zusammenarbeit dreier Unternehmen entstand ab 1908 die »Charakterpuppe«, ein kostspieliges Sammel- und Dekorobjekt, das sich einer neuen Perfektion näherte – in vielen kleinen Schritten. So kam man erst 1912 auf die so naheliegende wie überzeugende Idee, Kinderpuppen offene Nasenlöcher zu geben, um sie »echter« erscheinen zu lassen.
Spielzeug-Quiz: Skandal-Spielwaren und ihre Geschichte
1934 brachte das US-Unternehmen Ideal Toy Company mit »Betsy Wetsy« die erste Puppe auf den Markt, die man per Flasche fütterte, damit sie sich direkt im Anschluss die Windel einnässen konnte. Darüber weinen konnte sie noch nicht: Das fiel erst 1950 der American Charakter Doll Company ein.
»Tiny Tears« weinte, wenn man ihr auf den Bauch drückte. Das Wasser trat aus zwei kleinen Öffnungen am Nasensattel aus, also zwischen den Augen. Anders ging das nicht, ansonsten hätte Wasser den Wippmechanismus der Schlafaugen verkleben können.
Laufpuppen blieben in der Nische
Was für kostspielige und empfindliche Porzellanpuppen entwickelt worden war, adaptierte man natürlich auch für die ab 1942 aufkommenden Kunststoffpuppen. Tatsächlich ermöglichten erst solche neuen Materialien auch kompliziertere Interaktionen.
Mit »Pre-Teen Tressy« erschien 1963 eine Art kindliches Modepüppchen, dessen Haare wachsen konnten. Man zog ihr nach Belieben Haar aus dem Schädel oder wieder zurück, so gab es unterschiedliche Frisuren. Die Idee wird seitdem immer wieder einmal aufgegriffen, schaffte es aber nie aus der Nische heraus.
Das galt auch für laufende Puppen. Um 1950 brachte eine ganze Reihe Firmen selbstständig laufende Babypuppen auf den Markt. Sie basierten im Grunde auf »Automaten« des frühen 19. Jahrhunderts, Meisterwerken der Uhrmacherkunst, die man mithilfe von Schlüsseln aufziehen konnte. Sie bewegten Mund, Augen, Arme und Hände, manche liefen auch. Spielzeug im eigentlichen Sinne aber waren sie nie gewesen, sondern stets eine aufwendige, extrem teure Attraktion.
Ein Patent von 1934 reduzierte die komplizierten Mechanismen auf einen leicht zu verbauenden, einfachen Federantrieb für moderne Babypuppen. 1964 stellte Mattel mit »Baby First Step« eine erste Laufpuppe mit Batterieantrieb vor, doch zum echten Verkaufsschlager wurden solche Puppen nie: Kinder wollen Puppen, mit denen man spielen kann – keine Roboter, die ihnen etwas vorspielen.
So scheint es bei Spielzeug eine Grenze der gewünschten Interaktion zu geben. Auch die Erfinder des auf Schall reagierenden, den Bewegungen des spielenden Kindes folgenden Puppenauges warten bisher vergeblich darauf, dass sich aus ihrer vermeintlich genialen Idee von 1994 noch ein Geschäft entwickelt. Sie wandeln da womöglich auf Edisons Spuren.