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Prager Frühling: Auf der Suche nach Freiheit

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Prager Frühling Rock'n'Roll und Redefreiheit

Der Ostblock staunte, als die Tschechen im Frühjahr 1968 den Sozialismus neu erfanden. Auch Sachsens späterer Innenminister Heinz Eggert suchte im swingenden Prag den Hauch der Freiheit. Doch als am 21. August die Russen einmarschierten, schloss er mit Marx und Lenin ab.

Hätte ich Prag im Frühjahr 1968 nicht kennengelernt, wäre ich wahrscheinlich genauso unkritisch geworden wie meine Mutter und mein Stiefvater. Wir lebten in Rostock. Bei allen staatlich verordneten Aufmärschen waren sie dabei. Die Arbeitskollegen gingen ja auch alle. Die einzige politische Auseinandersetzung, die ich in meiner Jugend mitbekommen habe, war 1953. Meine Mutter schloss meinen Stiefvater ein, damit er nicht zur Neptun-Werft demonstrieren gehen konnte. Dort schossen nämlich die Russen auf die Werftarbeiter. Ihre Begründung: Du bist nicht gesund aus dem Krieg gekommen, damit sie dich jetzt erschießen.

Ich war selbstverständlich bei den Jungen Pionieren, folgerichtig in der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Gesellschaft für Sport und Technik, im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund und in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Überall wurde ich unkritisch hineingeboren. Es war wie bei den Meisten - sobald man das Alter hatte, unterschrieb man und war Mitglied. Man stellte das nicht in Frage. Und wer nur ansatzweise kritisch nachhakte, wurde mit dem globalen, alles erschlagenden Argument konfrontiert: "Bist du für den Frieden oder bist du für den Krieg?" Natürlich für den Frieden und der Garant für den Frieden, das wussten wir alle, war nur das kommunistische System. Schön, wenn die Welt so einfach begreifbar gemacht wird.

Aus der 8. Klasse war ich wegen Schulschwänzens geflogen. Mit 15 arbeitete ich ein Jahr auf dem Bau und begann dann eine Lehre bei der Deutschen Reichsbahn. Dank des Jugendförderungsplans der FDJ wurde ich mit 18 Jahren der jüngste Stellwerksmeister der DDR auf dem Bahnhof Warnemünde. Dann wurde ich Fahrdienstleiter und nutzte meine Freifahrscheine auch, um nach Prag zu fahren. Damals war ich 21 Jahre alt. In Prag und in Marta habe ich mich damals verliebt.

Ein Hauch von Freiheit

Die Liebe öffnete mir die Augen. Anfangs verstand ich die hitzigen politischen Auseinandersetzungen über einen reformierten, demokratischen Sozialismus nicht. Das ging auch vielen meiner damaligen tschechischen Freunde so. Liberalisierung, Pressefreiheit, Pluralismus, Freiheit der Gewerkschaften, Streikrecht, Versammlungsrecht, Aufhebung der Zensur, Reisefreiheit - diese Themen bewegten mich nicht besonders. Erstens hatte ich nichts dergleichen bis dato vermisst, und zweitens war ich erstaunt, dass es im Sozialismus so viel Probleme geben sollte. Mir gefiel aber die Idee, dem Sozialismus ein menschlicheres Antlitz zu verpassen.

In Prag herrschte damals eine heitere, offene Atmosphäre. Das Leben war bunter und verbannte die Langeweile aus dem Alltag. Ich konnte Musik hören, die in der DDR noch die Musik des Klassenfeinds war, Beatles-Filme sehen, Bücher kaufen, die es in der DDR nicht gab. Es war insgesamt eine lockere, leichte und lebenslustige Atmosphäre, wie ich sie aus der DDR nicht kannte.

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Prager Frühling: Auf der Suche nach Freiheit

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Abends saßen wir in der Schwarzbierkneipe "U Fleku" mit jungen Österreichern, Westdeutschen, Italienern, Engländern und Amerikanern zusammen, die so lebenslustig feierten, dass man ihnen die Probleme des Kapitalismus nicht wirklich ansah. Wir waren jung, und die Welt schien offen, obwohl mir klar war, dass ich ihre vielen Einladungen nicht annehmen konnte. Der Gedanke an Reisefreiheit wurde langsam verführerisch. Es sind wohl die selbst empfundenen Defizite, die sich in unserer politischen Überzeugung langsam aber sicher niederschlugen.

Die eiserne Hand aus Moskau

Langsam begann ich in der DDR die reglementierte Strenge des von Moskau diktierten Sozialismus zu hinterfragen. Wann immer ich konnte, war ich in Prag. Wegen der Stadt, wegen Marta und der freien Atmosphäre. An der Grenze gut kontrolliert, besonders nach Zeitschriften und Tonbändern untersucht, kam ich dann wieder in meiner sozialistischen Heimat an.

Dann kam der 21.8.1968. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 hatte ich in Warnemünde auf dem Stellwerk Dienst. Es war eine laue Sommernacht bei ruhiger See. Gegen 23:00 Uhr, als ich den Rangierbetrieb mit dem dänischen Fährschiff "Kong Frederik" beaufsichtigte, sendeten drei sowjetische Militärtransporter einen Notruf an den zivilen Flughafen in Prag. Sie baten um Landeerlaubnis, die abgelehnt wurde, da sich ganz in der Nähe ein militärischer Flughafen befand. Die Flieger landeten trotzdem. An Bord waren sowjetische Fallschirmjäger, die sofort den Flughafen sperrten. Im Minutentakt landeten daraufhin russische Truppentransporter und luden Panzer und Geschütze aus.

In dieser Nacht sind die Russen und ihre Verbündeten aus Polen, Bulgarien und Ungarn in die Tschechoslowakei einmarschiert. Nur die Truppen der DDR durften trotz der Bitten des damaligen Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht an Breschnew nicht am Einmarsch teilnehmen. Der Einsatz deutscher Soldaten 30 Jahre nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Wehrmacht wurde als gefährliche Provokation empfunden. Nicht schon wieder deutsches Militär in Prag.

Jung, aber gefangen

Fassungslos hörte ich die Nachtnachrichten des verbotenen NDR auf dem im Dienst verbotenen Radio, die auch die Hilferufe der tschechischen Opposition weiterverbreiteten. Von Toten und Verletzten und Widerstand war die Rede. Es war Krieg im Sozialismus. Sozialisten gegen Sozialisten. Meine sozialistischen Überzeugungen zerbröckelten in dieser Nacht. Ich begriff, dass ich zwar noch jung war, die Welt aber nicht mehr offen.

Um 6 Uhr morgens war meine Schicht zu Ende. Beinahe zeitgleich war die Staatskanzlei von Alexandr Dub¿ek, der politischen Leitfigur des Prager Frühlings, von russischen Fallschirmjägern besetzt worden. Sie hatten den Auftrag, ihn nach Moskau zu bringen. Dort wurde er ins Gefängnis gesteckt. Wie menschlich der Sozialismus geworden war, kann man an der Tatsache ablesen, dass Dub?ek nicht erschossen wurde, sondern seinen Lebensunterhalt als Waldarbeiter verdienen durfte. Das wurde im politischen Westen schon als Zeichen der Entspannung gesehen.

Nach der Schicht wurde eine Versammlung vom SED-Parteisekretär einberufen. Alle mussten daran teilnehmen. Dann sollten wir - wie es in der DDR üblich war - gleich unterschreiben, dass wir den Einmarsch für richtig hielten, da er der Rettung des Friedens diente. Mir fiel ein Satz ein, dem ich im tschechischen Auslandsjournal "Im Herzen Europas" gelesen hatte. "Der Mensch hat nicht solange sprechen gelernt, um sich dann das Sprechen verbieten zu lassen."

Im Visier der Stasi

Ich habe mich damals als Einziger geweigert zu unterschreiben. Zwei Tage später fand bei mir eine Hausdurchsuchung statt. Meine über die Jahre dann sehr stark angeschwollene Stasi-Akte bekam ihr erstes Blatt. Ich trat als Protest aus allen Organisationen aus, was sich allerdings etwas schwierig gestaltete. Es gab nämlich keine Austrittsformulare. Man sagte mir: "Du stellst halt die Zahlung ein." Also habe ich nicht mehr gezahlt und war kein Mitglied mehr.

Auf dem Grenzbahnhof durfte ich aus ideologischen Gründen nicht mehr arbeiten. Der Staat trieb mich in eine nicht gewollte aber überfällige politische Nachdenklichkeit. Darüber hinaus erlebte ich zutiefst persönliche Enttäuschungen. Auf einmal rückten Freunde ab. Auch im eigenen Elternhaus verstand keiner meine Entscheidung. Meine Mutter war der Meinung, ich hätte meine berufliche Karriere ruiniert. Womit sie ja Recht hatte.

Krise ist immer eine Wende

Ich hatte dann großes Glück. Nachdem Marta mit ihren Eltern nach Kanada emigriert war, lernte ich meine spätere Frau kennen, die aus einem christlichen Elternhaus kommt. Sie hat mich mit Studenten der evangelischen Studentengemeinde zusammengebracht. Ich habe dann über eine Sonderreifeprüfung - in der ich verschwiegen habe, dass ich keinen Abschluss der 10. Klasse hatte - die Zulassung zum Theologiestudium bekommen.

In der Bundesrepublik Deutschland wäre ich niemals Theologe geworden. Der existentielle Anlass hätte gefehlt. Den gab es in der DDR in einer ganz brisanten Weise. Weniger durch die Erleuchtung der Bibel - ich bin auch sehr spät, mit 23 Jahren, konfirmiert worden -, sondern eher durch Dietrich Bonhoeffer, und durch Menschen, die aus christlichem Bewusstsein Diktaturen widerstanden haben. Damit konnte ich wieder leben.

Und so habe ich mich langsam von der DDR-Ideologie entfernt, ohne ein Staatsfeind zu sein, den man gerne aus mir machen wollte. Ich setzte noch große Hoffnung in die DDR und glaubte an ihr verbesserungsfähiges, menschliches Antlitz. Denn die Forderungen des Prager Frühlings hatte ich mittlerweile verstanden.

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