
50 Jahre Lothar Matthäus: Ein Mann, ein Tor
Lothar Matthäus Ein Mann, ein Tor
Das Trikot war weiß, die Hose schwarz. Er hatte die Nummer acht, ich weiß es immer noch. In der 87. Minute winkte er mit der Hand, Ball her, das zeigte diese Geste. Selbstsicher, selbstbewusst. Er nahm Anlauf zum Freistoß, fünf schnelle, kraftvolle Schritte, den Körper nach vorn gelegt, das Tor 30 Meter entfernt, vielleicht mehr. Der Ball flog flach, ein Strich, rechts um die Mauer herum. Ins Netz. 1:0 für Deutschland. Der Torschütze hieß Lothar Matthäus, er war 25 Jahre alt.
Die WM in Mexiko ist das erste große Fußballturnier, an das ich mich gut erinnere. Rummenigge vorn, Schumacher hinten. Aber ich erinnere mich vor allem an ihn, den Mann mit den wehenden, dunklen Haaren und der Nummer acht auf dem Rücken - und sein Tor an diesem 17. Juni 1986, im Achtelfinale gegen Marokko. Drei Minuten waren noch zu spielen, 0:0 stand es, ein blamables Ergebnis. Dann kam er und entschied dieses wichtige Spiel aus unendlicher Entfernung. Mit einem Schuss wie ein Achselzucken.
Erst im WM-Finale gegen Argentinien endete die Erfolgsgeschichte. Ein knappes 2:3, aber wäre nicht jedes Team gegen diesen Maradona chancenlos gewesen? Matthäus war trotzdem zu meinem Helden geworden, und Bayern München wurde mein Verein. Ich kam in die Pubertät und Lothar Matthäus groß raus. Er wechselte zu Inter Mailand, Inter Mailand war nun auch mein Verein. Matthäus wurde Weltmeister 1990, und ich, der Ost-Berliner, wurde Deutscher.
Der Vergleich mit Beckenbauer - irgendwie unpassend
Ich war damals sicher, dass mein Held Matthäus den gleichen Weg gehen würde wie Franz Beckenbauer. Denn wer sollte es Beckenbauer gleichtun, wenn nicht Matthäus? Auch ihm flogen die Erfolge zu und die Frauen, er trug sein Herz auf der Zunge und die Bayern im Herzen, zu denen er 1992 zurückkehrte. Er würde den Landesmeistercup gewinnen wie der Franz, er war ja erst 29. Er würde noch zigmal Meister werden mit den Münchnern, irgendwann ihr Trainer. Und dann als Nationaltrainer Weltmeister.
"Überall in dieser Welt genieße ich großes Ansehen. Vielleicht als Fußballer das größte Ansehen nach Franz Beckenbauer", hat Matthäus später mal in seiner Kolumne für die "Sportbild" geschrieben. Das war lange nach dem Ende seiner Fußballerkarriere, in der er den Landesmeistercup dann doch nicht gewonnen hatte. Matthäus war Trainer geworden, aber er coachte nicht die Bayern, sondern Maccabi Netanya in Israel. Der Vergleich mit Franz Beckenbauer wirkte jetzt irgendwie unpassend.
Beide sind Ehrenspielführer des DFB, Säulenheilige des deutschen Fußballs. Matthäus' 150 Länderspiele sind ebenso Rekord wie auch seine fünf WM-Teilnahmen. Aber Franz Beckenbauer baute auch als Trainer weiter an seiner Legende, er wurde Deutscher Meister, Weltmeister. Ihn nennt man immer noch respektvoll den "Kaiser". Lothar Matthäus nennt man "Loddar". Das sagt eigentlich schon alles.
Aber was ist schief gelaufen? Warum wurde aus Matthäus keine Lichtgestalt, sondern eine Witzfigur?
Vom Mitleid zum Fremdschämen
Ich weiß noch, dass er mir schon 1990 ein bisschen Leid tat. Da war ein Anflug von Bedauern, als er Andreas Brehme den Elfmeter im Finale gegen Argentinien überlassen musste, weil doch die Sohle seiner Fußballschuhe gebrochen war und er sich in den neuen Tretern noch nicht so gut fühlte. Es war seine Erklärung für etwas, das damals Kollegen als Flucht vor der Verantwortung interpretierten. Mir leuchtete die Erklärung ein. Ich hielt zu ihm. Zum Glück hatte Brehme verwandelt.
Doch in den nächsten Jahren entfernte ich mich innerlich von meinem Helden. Sympathie wich immer öfter Kopfschütteln, statt Bedauern gab es Fremdschämen. Ob er seinen Bayern-Mitspieler Adolfo "El Tren" Valencia 1994 bei den deutschen Basketball-Nationalspielerinnen mit den Worten "Ey Mädels, unser Schwarzer hat den Längsten" anpries oder 1996 sein "geheimes Tagebuch" mit allerhand peinlichen Indiskretionen in der "Bild"-Zeitung veröffentlichte - das war nicht mehr der große Fußballer, sondern einfach nur ein Kleingeist.
Als er sich 1999 im Champions-League-Finale des FC Bayern gegen Manchester United kurz vor Schluss auswechseln ließ und die Münchner in den letzten Minuten noch verloren, war er für mich das, was Stefan Effenberg später aussprach: "ein Verpisser".
Gescheitert in der Schlangengrube
Als Matthäus 2001 Trainer wurde, wurde ich Journalist. Sportjournalist. Ich beschloss, nie über meinen alten Helden zu schreiben. Es war besser für uns beide.
Er begann bei Rapid Wien, eigentlich war das kein schlechter Ort, um als Trainer anzufangen. Die österreichische Meisterschaft war der Bauernhof unter den europäischen Ligen. Weit draußen, ein bisschen baufällig - aber man hatte ein Dach über dem Kopf. Es ließ sich dort ganz gut aushalten. Leider wurde Matthäus bald wieder vom Hof gejagt. Wegen Erfolglosigkeit und "vereinsschädigender Aussagen". Der Deutsche hatte den Club unter anderem als "Schlangengrube" bezeichnet.
Im Januar 2002 veräppelte ihn das Spaßtelefon von Bayern 1. Ihm wurde ein Platz im Schattenkabinett des Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber angeboten - Stoiber wolle einen Fachmann für bayerisch-fränkische Sportarten. Matthäus war sofort dabei. Steinweitwurf? Kein Problem! Eisstockschießen? "Hab ich erst vor drei Tagen gemacht." Fingerhakeln? "Hab ich auch schon gemacht, genau wie Bierkrugstemmen." Eine Ehre sei es für ihn, er sei ein großer Fan des Ministerpräsidenten. Selbst mit einem möglichen Schatten-Staatssekretär Klinsmann wollte er sich abfinden.
Es war alles so peinlich.
Trotzdem gab ich ihm noch eine Chance. Und tatsächlich: Mein Respekt kehrte langsam zurück. Matthäus ging zu Partizan Belgrad, wurde Meister und führte die Mannschaft in die Champions League. Er ging als Nationaltrainer nach Ungarn und besiegte Deutschland in Kaiserslautern. Was für ein Triumph! Er war plötzlich auch in seiner Heimat wieder im Gespräch, 2004 hätte vielleicht alles einen neuen Anfang nehmen können. Hätte.
Der Tiefpunkt - Trainer im TV
Wenig später wollte Lothar den Ostfußball retten, gab ein Ein-Spiele-Comeback für den Elftligisten Lok Leipzig. Ich konnte nicht anders, als mich drüber lustig zu machen. 2005 coachte Matthäus dann für den Boulevardsender RTL 2 eine Mannschaft namens Borussia Banana. Studenten, Grafiker, Kartografen - Reality TV mit einer Trümmertruppe, die der Weltmeister aus dem Fränkischen für ein Spiel gegen ein Profiteam fit machen sollte. Ein Himmelfahrtskommando, das - natürlich - schiefging.
DAS war der Tiefpunkt. Mein Held, der sich auf dem Boulevard so wohl fühlte wie sonst nur im Entmüdungsbecken, hatte den letzten Funken Ehre an einen "Tittensender" (Stefan Raab) verkauft. Er war zum Fernsehtrainer geworden.
Heute wird Lothar Matthäus 50 Jahre alt. 40 Jahre davon hat er im Fußball verbracht und fast so lange auch in den Aufmacherartikeln des Springer-Verlages. Er hatte über sieben Jahre eine Kolumne in der "Sportbild", die er als Verlautbarungsorgan in eigener Sache nutzte, aber sich dabei vor allem selbst schadete. Auf die Frage, ob es wichtig sei, ein gutes Verhältnis zur "Bild"-Zeitung zu haben, sagte Matthäus vor fast zehn Jahren im "Playboy": "Ja, denn 'Bild' macht Meinung."
Nichts als die Wahrheit
Er hätte das so nicht sagen müssen. Er hätte auf die Bedeutung der Medien verweisen können oder auf die vielen Interviews, die er zum Beispiel dem "Stern" regelmäßig gegeben hatte. Aber Matthäus sagte, was er dachte. Er sagte die Wahrheit. Selbst als ihn der "Playboy" nach seinem Sexleben fragte, wich der Mann nicht aus. Er entblößte sich. Man müsse immer wieder neue Dinge ausprobieren, "um zu sehen, wie weit man miteinander gehen kann. Das intensiviert die Beziehung." Punkt.
Unvergessen wird sein Ausraster nach einem Spiel mit den Bayern in Karlsruhe bleiben, als er dem Schiedsrichter Parteilichkeit vorwarf. Ich saß mit offenem Mund vor dem Fernseher und konnte nicht fassen, dass sich Matthäus dort um Kopf und Kragen brüllte. "Das ist doch eine Frechheit, was der pfeift. Gelbe Karten für uns, Rote Karten für uns, der Freistoß, der keiner war. Der pfeift doch alles gegen uns." Er wusste schon, was ihm drohte, doch sein Zorn musste raus: "Vielleicht kriege ich eine Sperre, aber das muss mal gesagt werden."
Es ist wohl ausgerechnet seine Ehrlichkeit, die ihm immer wieder im Weg stand. "Lothar ist ein Gerechtigkeitsfanatiker. Fühlt er sich ungerecht behandelt, reagiert er impulsiv. Er trägt sein Herz auf der Zunge", sagte Matthäus' erste Ehefrau Silvia der "Bunten". Manchmal ertappe ich mich sogar dabei, dass ich ihn mir als Spieler zurückwünsche. Einen Medienberater oder Rhetorikschulungen für weichgespülte Mixed-Zone-Interviews hätte es mit einem Lothar Matthäus nie gegeben.
Jetzt ist er 50. Bei Bayern wird er nicht mehr landen und auch nicht auf dem Bundestrainerstuhl. Er wird kein zweiter Beckenbauer, aber wer sagt schon, dass Matthäus das jemals wollte? Er hat dem Kaiser die vielen Frauen und die Liebe zur "Bild" und den Wechsel nach New York nachgemacht - aber was kann Matthäus dafür, dass man mit Beckenbauer Pelé und Cosmos verbindet und mit Lothar "I hope we have a little bit lucky"?
Der eine ist eben der "Kaiser" und der andere nur der "Loddar", die ehrliche Haut. Aber eigentlich ist das eine ganze Menge.