
75 Jahre "Machtergreifung": Der parlamentarische Selbstmord
75 Jahre "Machtergreifung" Der parlamentarische Selbstmord
Am 5. März 1933 fanden die letzten freien Reichstagswahlen statt. Die Nationalsozialisten, die nun über staatliche Machtmittel verfügten, tat alles zur Mobilisierung der Wählerschaft und tatsächlich wurde eine Rekordbeteiligung von 88,8 Prozent erreicht. Die NSDAP konnte, vor allem aus dem Reservoir der Nichtwähler, einen Zuwachs von 5,5 Millionen Stimmen verbuchen und kam auf 43,9 Prozent. Das beste Ergebnis, das sie je erzielten, zugleich aber deutlich unter der absoluten Mehrheit.
Zu der brauchten sie ihren Koalitionspartner, die deutschnationale "Kampffront Schwarz-Weiß-Rot", die auf acht Prozent kam. Die Regierung Hitler war damit nach Jahren der Präsidialkabinette die erste, die eine parlamentarische Mehrheit hinter sich hatte. Doch Adolf Hitler war damit keineswegs zufrieden. Er war als Reichskanzler in einer komfortableren Lage als viele seiner Vorgänger, aber er wollte auch etwas ganz anderes. Nach den Reichstagswahlen vom 5. März begann die eigentliche nationalsozialistische "Machtergreifung".
Die Mitte blieb stabil
Die Wahlen waren von einem erheblichen Terror der inzwischen nazistisch infiltrierten Obrigkeit überschattet. Doch die politische Mitte blieb erstaunlich stabil. Das katholische Zentrum hatte allen Diffamierungskampagnen zum Trotz seinen Stimmenanteil in etwa halten können und war bei den Wahlen auf 14 Prozent gekommen. Ähnlich war es bei der SPD, die trotz der Behinderung ihres Wahlkampfes und wiederholten Verboten ihrer Zeitungen 18,3 Prozent der Stimmen erreichte.
Lediglich die KPD verlor angesichts der massiven Einschüchterungen einen Teil ihrer Wähler und kam nur noch auf 12,3 Prozent. Drei Tage nach den Wahlen, am 8. März, wurden die 81 Mandate der KPD auf der Grundlage der Notverordnungen des Reichspräsidenten für ungültig erklärt, wodurch die NSDAP knapp die Mehrheit der Sitze erreichte.
Noch am Abend des 5. März begann die Gleichschaltung der nicht nationalsozialistisch regierten Länder. Reichsinnenminister Frick, einer der wenigen Nationalsozialisten im Kabinett, setzte überall Parteifreunde als Polizeikommissare ein. Die Landesregierungen wurden zum Rücktritt gezwungen, an ihre Stelle traten Reichskommissare.
Gleichschaltung von Polizei und Ländern
Am längsten wehrte sich die Staatsregierung in München unter Ministerpräsident Heinrich Held von der Bayrischen Volkspartei. Doch am 9. März musste auch er weichen und Reichskommissar Ritter von Epp trat an seine Stelle. Epp ernannte kommissarisch Gauleiter Adolf Wagner zum Innenminister und Heinrich Himmler zum Münchner Polizeipräsidenten. Himmler brachte gemeinsam mit Reinhard Heydrich, der Leiter des Politischen Referats wurde, die Politische Polizei der Länder nach und nach unter seine Kontrolle.
Am 13. März erfolgte der nächste Schritt: Die Reichsregierung wurde umgestaltet. Gegen den erfolglosen Widerstand seitens von Papen und Hugenberg setzte Hitler die Berufung des Reichspropagandaleiters der NSDAP Joseph Goebbels ins Kabinett durch. Goebbels trat an die Spitze eines neu geschaffenen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.
Mit 35 Jahren war er mit Abstand der jüngste Minister: genau war halb so alt wie Hugenberg und 50 Jahre jünger als Reichspräsident Hindenburg, der die Ernennung mit den Worten kommentierte: "Na ja, der Trompeter will halt auch etwas werden."
Maßlose Hetze mit amtlichen Weihen
Der frischgebackene Propaganda-Chef verkörperte das "neue Deutschland", von dem die Nazis so gerne sprachen. Seine maßlose Hetze gegen Juden, Marxisten und Demokraten konnte er nun mit amtlichen Weihen versehen fortsetzen. Nicht zuletzt gebot er als Minister über den Rundfunk, ein neues Medium, das ihn ebenso faszinierte wie der Film.
Der Meister der Massensuggestion beschränkte sich nicht auf seinen offiziellen Auftrag, die Bevölkerung über den "nationalen Wiederaufbau des deutschen Vaterlands" zu informieren. Goebbels wurde zur treibenden Kraft bei der politischen Gleichschaltung des Kulturlebens.
Am 21. März erließ der Reichspräsident eine "Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe", nach der künftig selbst mündliche Kritik an der Regierung oder der NSDAP strafbar war. Zur Aburteilung dieser Vergehen wurden Sondergerichte geschaffen, gegen deren Entscheidung es keine Rechtsmittel gab. Am selben Tag wurde vor den Toren Münchens, in Dachau, das erste Konzentrationslager errichtet.
Der Tag von Potsdam
Der "Völkische Beobachter" meldete dazu: "Hier werden die gesamten kommunistischen und sozialdemokratische Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen, da es auf die Dauer den Staatsapparat zu sehr belastet, diese in den Gerichtsgefängnissen unterzubringen." 5000 politische Häftlinge wurden zunächst in das Konzentrationslager Dachau überführt, das unter Aufsicht der Bayerischen Landpolizei stand, aber schon nach wenigen Wochen von der SS übernommen wurde.
Noch etwas geschah am 21. März. Der neu gewählte Reichstag konstituierte sich in der Potsdamer Garnisonskirche, da das ausgebrannte Reichstagsgebäude in Berlin unbenutzbar war. Dieser "Tag von Potsdam" wurde zu einer letzten Demonstration des wilhelminisch geprägten, nationalkonservativen Deutschland. Im Mittelpunkt stand der greise Reichspräsident, der die 1916 durch den Stahlhelm abgelöste Pickelhaube trug, in vollem Ornat eine endlose Militärparade abnahm und anschließend noch im Triumphzug durch die Stadt fuhr.
Die Kirche war mir 2000 Ehrengästen gefüllt: hohen Beamten, Offizieren, dem diplomatischen Korps, Reichstagsabgeordneten. Die Parlamentarier der KPD waren bereits in Haft oder auf der Flucht, diejenigen der SPD blieben demonstrativ fern. Reichskanzler Adolf Hitler erschien im Cut und mit Zylinder und verbeugte sich tief vor dem Staatsoberhaupt. In der Kirche hielt er eine bemüht staatsmännische Rede, in der er von der "Vermählung zwischen den Symbolen der alten Größe und neuen Kraft" predigte.
Machtpolitische Realitäten unter dem Hakenkreuz
Nach diesem feierlichen Zeremoniell wurden die Abgeordneten in Bussen nach Berlin gebracht. Der Reichstag kam am Nachmittag in der Kroll-Oper am Königsplatz zu seiner ersten eigentlichen Sitzung zusammen. Dort zeigten sich auch die machtpolitischen Realitäten in der Symbolik der neuen Zeit. Die Szenerie war völlig verwandelt. Hitler trug nun wieder die gewohnte Parteiuniform. Nicht mehr die deutschnationalen Farben Schwarz-Weiß-Rot herrschten vor, sondern das nationalsozialistische Braun. Die Stirnseite des Saales wurde von einer gewaltigen Hakenkreuzfahne dominiert.
Der 21. März wurde somit zum Wendepunkt, zur Prelude für die eigentliche Machtergreifung auf der Reichstagssitzung am 23. März. Der SPD-Abgeordnete Josef Felder hat die dramatischen Stunden dieser Reichstagssitzung in seinen Lebenserinnerungen geschildert: "Wir gingen in den Reichstagssaal. Hitler ließ wie ein Star auf sich warten. Schließlich kamen er und sein Gefolge in Parteiuniform im Sturmschritt und mit erhobener Hand."
Botschafter, Gesandte und Prominenz erwarteten Hitler in voll gepferchten Logen, während die gestiefelten Nazis die Hacken zusammenschlugen wie eine preußische Gardekompanie, erinnerte sich Felder. Daraufhin nahm die bürgerliche Mitte und die SPD sichtlich betroffen und schweigend Platz. Der Diktator war eingerahmt von Papen und Hugenberg.
Zuckerbrot und Peitsche
"In diesem Augenblick geschah etwas Ungewöhnliches", so Felder. "SA- und SS-Leute betraten in völlig unzulässiger Weise den Saal der Abgeordneten und bildeten einen dichten Kordon um die Sitze der SPD." Gezischte Drohungen und billige Witze verstummten erst, als Hitler mit seiner programmatischen Rede begann. Bei jedem der sarkastischen Hiebe gegen die SPD, so schien es Felder, als könnten die "braunen Gäste um uns den Zeitpunkt einer 'persönlichen Abrechnung' nicht erwarten". Aber Göring hielt die Meute mit Handbewegungen und ironischem Lächeln immer wieder im Schach.
Ganz anders gingen die Nazis mit dem noch schwankenden Zentrum um, dessen Stimmen sie für das Ermächtigungsgesetz brauchten. Gezielt gab Hitler in gemäßigter Tonart innen- und außenpolitische Zusagen, verbunden mit dem Hinweis auf das Weiterbestehen von Reichstag und Reichsrat und die Rechte des Reichspräsidenten.
Nach der Debatte wurde die Sitzung für drei Stunden unterbrochen, in denen die Fraktionen tagten. Auf Hitlers vage Zusicherung hin, die nationale Regierung sehe in den christlichen Religionsgemeinschaften wichtige Faktoren zum Erhalt des Volkstums, ließ sich das katholische Zentrum schließlich zur Zustimmung bewegen.
Aufbegehren "mit bebendem Herzen"
Kurz nach 18 Uhr kam es zum letzten parlamentarischen Aufbegehren gegen die nationalsozialistische Machtergreifung. Obwohl die Sozialdemokraten von Wohlmeinenden ernstzunehmende Warnungen bekamen, dass ihr Leben in Gefahr sei, würden sie nicht abreisen, kehrten sie alle in den Sitzungssaal zurück. "Viele mit bebendem Herzen", so Felder.
Das Ermächtigungsgesetz, das euphemistisch "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" hieß, wurde schließlich mit 441 Stimmen gegen die 94 Stimmen der SPD angenommen; bereits am nächsten Tag trat es in Kraft. Von jetzt an konnte die Reichsregierung selbst Gesetze erlassen. Die Gewaltenteilung, Grundlage jeder Demokratie, war aufgehoben. Der Reichstag hatte sich selbst entmachtet. Das Ermächtigungsgesetz war der Totenschein für die Weimarer Republik.
Die Abgeordneten aller bürgerlichen Parteien haben diesem demokratischen Suizid am Ende zugestimmt, unter ihnen auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der intern zunächst opponiert hatte. Nur die Sozialdemokraten blieben den demokratischen Idealen bis zuletzt treu. Ihr Fraktionsvorsitzender Otto Wels rief den neuen Machthabern noch trotzig zu: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht."
Ernst Piper schreibt auf einestages über das erste Jahr, in dem die Nazis in Deutschland an der Macht waren - 75 Jahre danach, Monat für Monat.
Im April lesen Sie:
In den ersten Wochen hatte der Naziterror bereits viele Opfer gefordert, doch am 1. April kam es erstmals zu einer zentral gesteuerten Aktion, dem planmäßigen Boykott jüdischer Geschäfte, Waren, Ärzte und Rechtsanwälte.
Vom selben Autor:
Ernst Piper: Kurze Geschichte des Nationalsozialismus von 1919 bis heute. Verlag Hoffmann und Campe. Hamburg 2007