
Afghanistan 1968: Als in Kabul Hippies tanzten
Afghanistan 1968 Als in Kabul Hippies tanzten
Sicher, die Sache mit dem Christbaum war eine Schnapsidee. Ob die Tanne aus dem bayerischen Coburg überhaupt jemals Afghanistan erreichen würde? Sie tat es. Doch dem Beschenkten bescherte die gutgemeinte Überraschung nur Probleme. Eine Ewigkeit musste Paul Günther auf afghanische Zollbeamte einreden und seinen Argumenten mit Geld Nachdruck verleihen.
Endlich ging der Baum dann doch durch den Zoll - völlig nackt, die Nadeln hatte er auf der langen Reise verloren. Trotzdem stellte Paul Günther ihn in seinem Wohnzimmer in Kabul auf, auch wenn es draußen wenig weihnachtlich war: Fünfmal am Tag rief der Muezzin zum Gebet, Kamele liefen durch verstaubte Straßen - und drinnen schmückte eine christliche Familie aus dem bayerischen Oberfranken ein trauriges Baum-Skelett.
Die Geschichte mit dem Tannenbaum steht für vieles, was Paul Günther zwischen 1968 und 1972 in vier Jahren in Afghanistan erlebte. In Deutschland war er zum Polizisten ausgebildet worden, in Afghanistan sollte der Kriminalrat nun selbst Polizeikräfte ausbilden. Und musste schnell lernen, dass die Korruption allgegenwärtig war, "dass alles seinen Preis hat, dass es fast keinen Lebensvorgang gibt, für den man nicht bezahlen muss". Diese Regel galt auch für einen korrekten deutschen Beamten.
Nachts kamen die Wölfe
Viele Erfahrungen, die der deutsche Beamte vor über vierzig Jahren als Aufbauhelfer machte, klingen heute wieder seltsam vertraut. Wie viele deutsche Soldaten und Polizeiausbilder heute flog auch Paul Günther 1968 mit viel Enthusiasmus und Idealismus zu seinem neuen Posten nach Kabul. Dort regierte seit 1933 Mohammed Sahir Schah, in Frankreich ausgebildeter Spross einer alten Paschtunen-Dynastie, als konstitutioneller Monarch. Günther, der einzige Kriminalist im deutschen Team von fünf Beamten, sollte helfen, die königlich-afghanischen Polizeikräfte auszubilden. Eine Kriminalpolizei sollte mit Hilfe der Deutschen aufgebaut, sieben neue Polizeistationen im ganzen Land eingerichtet werden, in Orten, deren Namen heute wieder jeder aus den Nachrichten kennt: Kandahar, Kunduz oder Mazar-i-Sharif.
Mehr als 50 Beamte hatten sich in Deutschland auf diese Stelle beworben - die Zusage sollte Günthers Leben, das seiner Frau Edith und seines 20-jährigen Sohnes Dieter verändern. Eine Vorbereitung auf die unterschiedliche Kultur gab es für das Ehepaar nicht. "Wir wurden im Herbst 1968 einfach runtergeschickt, ohne irgendwie Ahnung zu haben", erinnert sich Günther. Also informierte er sich selbst, las Klassiker wie "Wenn es zwölf schlägt in Kabul", kaufte einen Koran, auf Deutsch, Taschenbuchausgabe.
Gegen den Kulturschock half das nicht, "der kam schon beim ersten Besuch auf dem Basar", erzählt er Jahrzehnte später lachend. Der Basar, für die Deutschen "eine fremde Welt": Exotische Gerüche. Laute Marktschreier. Die mangelnde Hygiene, der Kot, der Urin: "Meine Frau war entsetzt, als sie sah, wie drei Polizisten ihre Geschlechtsteile in aller Öffentlichkeit wuschen." Überall streunten hinkende Hunde herum - die Tiere "wurden ständig mit Steinen vertrieben, weil sie im Islam als unrein gelten", erfuhr der Bayer. Auch das eigene Zuhause bot alles andere als deutsche Gemütlichkeit: Zur völligen Überraschung aller war die Wohnung völlig unmöbliert. Abends warfen die Nachbarn ihren Müll auf die Straße, nachts kamen dann die Hunde und Wölfe, und "morgens war alles blitzblankgefressen."
Schaurige Fälle
Günther stürzte sich in die Arbeit - und wurde als Ausländer gerne mit besonders heiklen Fällen beauftragt. Ende der Sechziger war Afghanistan noch Traumziel für Aussteiger, Abenteurer, Kiffer und Junkies. Kabul galt als "Hippie-Highway", der Kilopreis für Haschisch der Sorte "Schwarzer Afghane" lag 1972 bei gerade mal 123 Mark. Auch harte Drogen wie Heroin waren überall zu haben. Und so kehrten manche der jährlich rund 70.000 Ausländer nie zurück. Sie gerieten an falsche Freunde, verschwanden spurlos, wurden ausgeraubt und ermordet oder starben an einer Überdosis. Für solche Fälle wurde auch Paul Günther zuständig.
Die afghanischen Behörden nämlich hatten wenig Lust, sich mit ausländischen Botschaften herumzuschlagen. Und auch nicht unbedingt Interesse, den Drogentourismus zu bekämpfen oder Täter wirklich zu finden - manchmal auch aus kulturellen Gründen: "Wir setzten doch keine Belohnung aus, um einen Muslim zu schnappen, der Christinnen vergewaltigt hat", sagte ihm einmal ein hoher afghanischer Beamter ins Gesicht, nachdem in Kandahar drei US-Amerikanerinnen überfallen worden waren.
Einige schaurige Fälle konnte der Deutsche trotz solcher Hindernisse lösen - darunter einen Ritualmord an vier französischen Hippies, die "regelrecht abgeschlachtet worden" waren, erstochen von zwei religiösen Fanatikern unter Drogeneinfluss. Auch den Mord an einer Krankenschwester aus den USA konnte er aufklären. "Eintritt der Kugel linke Schulter. Austritt rechte Hüfte." Noch heute hat der 82-Jährige wie auf Knopfdruck solche Details parat.
"Du bescheißt nicht, du bist Deutscher"
Sein spektakulärster Erfolg war die Überführung eines Massenmörders, der mindestens 65, womöglich sogar mehr als 300 Männer beim Sex stranguliert hatte - mit den Turbanen der vergewaltigten Opfer. Der Fall war für die afghanischen Behörden äußerst peinlich: Zwei Unschuldige waren bereits gehenkt worden, als Günther den wahren Täter auf frischer Tat überführte. Der geständige Massenmörder sollte ebenfalls hingerichtet werden - ein beliebtes Volksspektakel. "Ich wollte mir das aber nicht ansehen", erinnert sich Günther. "Später habe ich erfahren, dass sie zunächst einen zu langen Strick genommen hatten. Als der Mann vom Stuhl gestoßen wurde, landete er mit den Füßen auf dem Tisch, der als Podest diente. Erst als sie den Tisch auch umkippten, hing er."
All diese Erlebnisse notierte der Deutsche in zwei dicke, grüne Tagebuch-Kladden - akribisch, nüchtern, in Schönschrift: Die Verhöre, die sengende Hitze, die beängstigend engen Gassen, die nervenden Hunde, die ständigen Flohstiche, die ersten Erfolge beim Feilschen auf dem Basar. Am ehesten brachten ihn die Drogen-Hippies aus der Contenance: "Die Crème de la Crème der europäischen und amerikanischen Jugend", schrieb er 1971 ironisch neben Polizeifotos von vier festgenommenen Hippies. "Unsere Crew bringt wieder ein Dutzend dieser Dreckspatzen mit Haschisch, Opium und Kokain, darunter einen 16-jährigen Knaben aus Deutschland."
Neben der "Ursprünglichkeit und Wildheit des Landes" beeindruckten Günther besonders die Gastfreundschaft der Afghanen und ihre "exzessive Deutschfreundlichkeit", die eine lange Tradition hat. Als Afghanistan sich 1919 von der britischen Kolonialmacht befreite, erkannte die Weimarer Republik das Land sofort völkerrechtlich an. Deutsche gingen an den Hindukusch, bauten ein Parlamentsgebäude, errichteten Schulen, machten Deutsch zur Sprache der Elite. Als der damalige afghanische König Amanullah Khan 1928 Berlin besuchte, wurde er begeistert empfangen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg investierte kaum ein Land mehr Entwicklungshilfe in Afghanistan als Deutschland. Unternehmen wie der Elektronikriese Siemens oder der Baukonzern Hochtief ließen sich nieder, die ersten Polizeiausbilder kamen schon Ende der Fünfziger - und wurden freundlich empfangen. Den Satz "Du bescheißt nicht, du bist Deutscher", hat Günther nach seiner Ankunft 1968 oft gehört.
"Wir sollten da rausgehen"
Doch vierzig Jahre später ist die deutschsprachige Elite größtenteils ins Exil geflohen - und der Kriminalist befürchtet, dass "das Reservoir an Deutschfreundlichkeit mittlerweile aufgebraucht ist." Über die aktuelle Situation in Afghanistan ist er bestürzt, das Schicksal des Landes geht ihm nah, denn "der letzte Anschlag fand ja praktisch vor meiner damaligen Haustür statt." Ablehnung jeder Fremdherrschaft habe es nach all den Kriegen gegen die Briten und Russen schon immer gegeben. Aber seit 2001 "hat der Hass noch einmal deutlich zugenommen", beobachtet Günther, "und die Bundeswehr ist außerstande, die Probleme zu lösen", wie die anderen ausländischen Truppen auch: Die Drogenbekämpfung - gescheitert. Der Kampf gegen den Terror - gescheitert. Die Polizeiausbildung - zu wenig ausgerichtet auf Kultur und Sitten des Landes.
Doch was dann? "Wir sollten da rausgehen", sagt Günther ohne zu zögern - der Mann, der vor 40 Jahren selbst voller Ideale nach Kabul ging, um diesem Schicksal gebeutelten Land zu helfen.