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Verschollene Autorin: Agatha Christies geheimnisvollster Fall

Foto: imago/United Archives International

Rätsel um Krimi-Autorin Wie Agatha Christie spurlos verschwand

Entführung oder Ehedrama, Mord oder Suizid? Die verschollene Agatha Christie hielt 1926 England in Atem. 16.000 Menschen suchten sie, sogar mit übersinnlichen Mitteln. Dabei tanzte die Schriftstellerin munter Charleston.

Eineinhalb Meter Abstand, mehr nicht. Stoisch stapfte eine lange Reihe von Menschen an diesem Dezembermorgen 1926 durch das feuchte Gras, durch Gräben und Büsche. Alle hielten den Blick auf dem Boden und schritten langsam voran. Stur geradeaus, wie seit Tagen schon. Nur manchmal erstarrte die Gruppe. Ein Polizist kam heran, schaute, winkte ab. Und die sonderbare Karawane zog weiter durchs Hinterland von Surrey. Irgendwo musste sie doch sein - die Leiche von Agatha Christie.

Früh am Samstagmorgen, dem 4. Dezember 1926, hatte man ihren grünen Morris Cowley verlassen am Rand einer Kalkgrube gefunden, nahe Silent Pool - einem See, in dem Christie eine ihrer Krimi-Heldinnen ertrinken ließ. Im Auto lagen ihr Führerschein, ihr Pelzmantel und ein Koffer. War die Autorin Opfer einer Entführung geworden? Oder eines schlimmeren Verbrechens?

Auch wenn Agatha Christie, die später mit ihren Krimis um Hercule Poirot oder Miss Marple riesige Erfolge feierte, 1926 noch keine Starautorin war: Ihr Verschwinden sorgte für Aufsehen. Es folgte eine der größten Suchaktionen, die England je gesehen hatte. 53 Gruppen aus mehr als tausend Polizisten und 15.000 Zivilisten durchkämmten Surrey, erstmals durch Flugzeuge unterstützt. Und doch blieb die Vermisstensuche elf Tage lang erfolglos - bis sich zeigte, dass kaum etwas an dem Fall war, wie es zu sein schien.

Nur als Suizid inszeniert?

Die Suche leitete Chief Constable William Kenward, 55. Unter "ungewöhnlichen Umständen", so zitierte ihn 1999 der "Guardian", habe Christie am Vorabend ihr Haus in Sunningdale verlassen, Bediensteten zufolge "sehr deprimiert".

12. Dezember 1926: 16.000 Menschen suchten die Krimi-Autorin

12. Dezember 1926: 16.000 Menschen suchten die Krimi-Autorin

Foto: imago/United Archives International

Ihr Gatte Archie Christie erfuhr bei einem Wochenendausflug zu Freunden vom Verschwinden und reiste sofort heim, merklich erschüttert. Sehr überarbeitet sei seine Frau zuvor gewesen, sagte er und schien besorgt, sie könnte sich etwas angetan haben. Wenn auch nicht besorgt genug, um der Polizei vom Brief zu erzählen, den Agatha ihm hinterlassen hatte. Und den er verbrannte.

Polizeiveteran Kenward stutzte: Warum hätte die erfolgreiche Autorin, glücklich verheiratet, mit reizender Tochter und Landhaus, sich umbringen sollen? Wieso hatte sie in einer 2 Grad kalten Nacht ihren Mantel zurückgelassen? Und dann das Auto - es war kein Gang eingelegt. "Der Wagen sah für mich aus, als sei er von der Hügelspitze angestoßen worden und den Hang hinabgerollt", sagte der Finder Frederick Dore laut Jared Cades Buch "Agatha Christie and the Eleven Missing Days" von 1998.

Kenward war entschlossen, Ordnung ins Chaos zu bringen. Später sollte er den Moment, als es ihm gelang, seine "düsterste Stunde" nennen.

Die Polizei verteilte Steckbriefe, Schwimmbagger durchwühlten den Schlamm von Seen. Auf Drängen Archie Christies half sogar Scotland Yard, wo eine Flut von Hinweisen einging. Selbst Innenminister William Joynson-Hicks machte sich für die Suche stark.

Conan Doyle befragte ein Medium

Die ungewöhnlichste Unterstützung kam von "Sherlock Holmes"-Autor Arthur Conan Doyle. Der begeisterte Spiritist schaltete ein Medium namens Horace Leaf ein. Der habe sofort erkannt, dass der ihm übergebene Handschuh einer Agatha gehöre: "Mit diesem Gegenstand ist Ärger verbunden. Die Person, der er gehört, ist halb benommen und halb entschlossen", orakelte Leaf. Tot sei sie jedoch nicht - "Sie werden von ihr hören".

Jedenfalls zu lesen war in den nächsten Tagen ständig von Christie: Die "Westminster Gazette" bezeichnete die Auto-Fundstelle als "letzten Ort, an den eine normale Frau unbegleitet fahren würde". Der "Daily Sketch" legte einen Suizid nahe und unkte, der nahe See habe "eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die, die ihm nahekommen". Die "Daily News" setzte eine Belohnung von 100 Pfund aus für jeden Hinweis, der zum Auffinden Christies führe. Selbst die "New York Times" meldete auf der Titelseite: "Romanautorin verschwindet unter seltsamen Bedingungen".

Dann jedoch berichtete Christies Sekretärin Charlotte Fisher der Polizei von einem heftigen Ehestreit am Morgen des 3. Dezember. Am Abend habe Agatha ihr einen Brief hinterlassen und große Schwierigkeiten angedeutet: "Ich kann nicht länger in diesem Haus bleiben." Die Polizei zu rufen, wagte Fisher nicht, um ihre Arbeitgeber nicht zu brüskieren.

Das Paar führte keine harmonische Ehe, sondern hatte sich auseinandergelebt. Von Archies Affäre mit Golfpartnerin Nancy Neele wussten bald auch viele ihrer Bekannten. Nur seine Gattin nicht. Im August 1926 hatte er Agatha schließlich offenbart, schon seit 18 Monaten fremdzugehen. Sie versuchte, die Ehe zu retten - vergebens. Am Morgen des 3. Dezember erfuhr Agatha, er werde das Wochenende nicht wie geplant mit ihr verbringen, sondern sich bei Freunden mit seiner Geliebten treffen. Die Versöhnungsversuche sei er leid und wolle Neele heiraten.

Sie sang und feierte ausgelassen

Seine Bemühungen, die Polizei zu unterstützen, erschienen in neuem Licht: Wollte er nur vom Verdacht des Mordes an seiner scheidungsunwilligen Gattin ablenken? Immerhin war der Wagen nur knapp zehn Kilometer vom Treffpunkt der Ehebrecher gefunden worden.

Den Verdacht zerstreute erst ein weiterer Brief, den die Verschollene von London aus verschickt hatte, am Vormittag des 4. Dezember - also noch nach dem Fund des Autos. Sie wolle Kurzurlaub in einem Kurbad in Yorkshire machen, schrieb Agatha ihrem Schwager. Polizisten und Reporter prüften die Gästelisten dortiger Hotels. Doch nirgendwo hatte sie eingecheckt.

Den entscheidenden Hinweis brachte am 14. Dezember ein Banjospieler: Er spielte in Harrogate und hatte im Swan Hydro Hotel die Frau von den Vermisstenplakaten entdeckt. Sie schien keineswegs in Lebensgefahr, sondern feierte, sang ausgelassen und tanzte Charleston. Allerdings behauptete sie, statt Britin eine Südafrikanerin zu sein, die erstmals das Königreich bereise. Auch sei ihr Name Neele, nicht Christie. Teresa Neele. Selbst als ihr Gatte ins Hotel kam, brach sie ihre Scharade nicht ab. Sie sagte nur: "Schick, mein Bruder ist eingetroffen." Und zog sich weiter fürs abendliche Dinner um.

An der Nase herumgeführt

Spott ergoss sich über die Ermittler, die trotz Großfahndung eineinhalb Wochen im Dunkeln getappt hatten - während Christie es sich gut gehen ließ. Ermittler Kenward musste sich persönlich vor dem Innenminister verantworten.

Was genau vom 3. bis 14. Dezember passierte, blieb unklar. Archie Christie erklärte, seine Frau leide an Amnesie, wohl infolge ihres Autounfalls. Sie selbst äußerte sich nur ein Mal: 24 Stunden sei sie "durch einen Traum gewandelt" und habe sich in Harrogate wiedergefunden - "als völlig glückliche Frau aus Südafrika". Ansonsten schwieg sie dazu, selbst in ihren Memoiren.

Die "Daily News" vermutete, Christie sei verkleidet untergetaucht

Die "Daily News" vermutete, Christie sei verkleidet untergetaucht

Foto: Hulton Archive/ Getty Images

Viel spricht gegen eine Flucht in Trance und Amnesie. Dann hätten ihr im Hotel die Steckbriefe in den Zeitungen auffallen müssen - "Agatha Christie" stand unter jedem Foto. Zudem hatte sie gezielt aus London einen Brief verschickt und bei einem Juwelier sogar einen Diamantring zur Reparatur abgegeben, mit der Bitte, ihn an ihre - korrekt hinterlegte - Heimadresse zu senden. Und in Harrogate checkte Christie mit dem Nachnamen ihrer Nebenbuhlerin ein: Ein Hinweis, dass sie dem Gatten gezielt das Wochenende mit der Geliebten vermasseln wollte.

Wahrscheinlich wollten die Christies mit der Amnesiethese nur ihr Ansehen retten. Die genasführte britische Presse sezierte nun genüsslich das Privatleben des Paares. Trotz aller Bemühungen um eine heile Fassade: Ihre Ehe war hinüber. 1928 folgte die Scheidung.

Für Christies Krimikarriere erwies sich ihr mysteriöses Verschwinden jedoch als Glücksfall. War die Autorin zuvor schon gut im Geschäft gewesen, machte der Medienrummel sie nun zur Berühmtheit.

Erst am 12. Januar 1976 sollte Agatha Christie im Alter von 85 Jahren in ihrem Haus in Winterbrook versterben - ohne jede Fremdeinwirkung.


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