
"Arbre du Ténéré": Der Baum im sandigen Nichts
Im Herzen der Sahara Der einsamste Baum der Welt
Gegen ein paar Tonnen Stahl hatte sie keine Chance. Das Ungetüm, das an jenem Tag im Jahr 1973 aus der gleißenden Leere auf sie zugerollt kam, musste kilometerweit zu sehen gewesen sein. Nur nützte das der Akazie nichts. Der Fahrer soll nicht aus der Gegend gewesen sein. Ein betrunkener Libyer, heißt es. Wer auch immer den Lastwagen lenkte - er fuhr direkt in den Baum hinein. Den einzigen im Umkreis von 400 Kilometern.
So jedenfalls überliefert man in der Republik Niger das Ende des berühmtesten Baums der Sahara.
Doch es gibt eine zweite Version, wie Reiseschriftsteller René Gardi 1978 im Buch "Tenere" festhielt: Demnach warf ein Sturm in der Wüste, berüchtigt für ihre beißenden Harmattan-Winde, im November 1973 die Akazie um, die Tuareg-Nomaden über Jahrzehnte wie ein Heiligtum verehrt hatten.
Welches der beiden Enden des "Arbre du Ténéré" plausibler ist, hängt davon ab, was zerstörerischer sein mag - Mensch oder Natur. Auf den ersten Blick scheint die Antwort naheliegend in diesem schattenlosen Höllenkessel aus 400.000 Quadratkilometern Sand und Stein im Herzen der Sahara. Die Ténéré-Wüste heizt sich oft auf über 50 Grad Celsius auf und kann nachts bis unter null abkühlen.
"Wüste der Wüsten" wird sie auch genannt, tatsächlich fällt kaum irgendwo auf der Welt so wenig Niederschlag. Die Sonne über der Ténéré, schrieb Michael Stührenberg 2001 im "GEO"-Magazin, sei nicht einfach "unangenehm": "Nein, sie trägt sich mit Mordabsichten". Das bezeugen die vielen sonnengebleichten Kamelknochen. Kaum etwas kann hier überleben. Und genau das machte den Baum von Ténéré so besonders.
Blutiges Manna in der Wüste
"Man muss den Baum gesehen haben, um seine Existenz zu glauben", notierte der in Französisch-Westafrika stationierte Kommandant Michel Lesourd am 21. Mai 1939. Mitten in der Einöde, 300 Kilometer nordöstlich von Agades, war er auf eine einsame, Y-förmige Schirmakazie getroffen, weithin zu sehen in der platten Landschaft.
Einheimische kannten die Akazie seit Jahrzehnten. Tuareg-Karawanen rasteten hier auf dem Weg nach Bilma, bevor sie im glühenden Sandmeer verschwanden. Lesourd wunderte sich: "Wie kommt es, dass kein Kamel seine Blätter frisst? Warum schneiden die Salzkarawanen nicht seine Äste ab und verwenden sie als Feuerholz?" Er nahm an, der Baum gelte als unantastbar.
Tatsächlich, das erfuhr Schriftsteller René Gardi 1978 von einem Mitreisenden, hatten viele Karawanenführer regelrecht Angst vor dem Baum und weigerten sich, dort zu übernachten. Denn schon mancher habe nachts "Stimmen gehört, Gejammer, Wehklagen, brüllende Kamele", so Gardis Begleiter. Einige hätten im Dunkeln einen rotglühenden Baumstamm gesehen, der den Platz ringsum erleuchtete. Gepflanzt worden sei der Baum nämlich einst "auf dem Grab eines großen Marabut", eines islamischen Heiligen. Deshalb sei "jeder, der die Akazie schändete, Äste herunterschlug oder mit dem Beil den Stamm verletzte, krank geworden und bald gestorben".

Bei Nacht, so erzählte man sich in Niger, soll der Stamm des Baumes oft rot geglüht haben
Foto: mauritius images1939 ging das französische Militär dem Geheimnis auf den Grund - buchstäblich: Ein Arbeitertrupp begann, neben dem Baum einen Brunnen auszuheben. Lesourd hielt das für "eine utopische Idee". Tatsächlich vergingen Monate, ohne dass sie auf Wasser stießen.
Der einzige Trost für die Arbeiter, so Lesourd: "Vögel rasten unter dem Baum. Von weitem durch seinen Anblick angelockt, kommen sie, um Schutz zu suchen, im Glauben, dass sie hier Wasser und Laub finden. Unglücklicherweise ist es der Tod, der hier wartet." Denn die erschöpften Tiere seien "Manna für die Quellenbauarbeiter". Sie feierten diese Tage mit Taubenbraten.
Nach neun Monaten und 35 Metern: endlich Grundwasser. Und Baumwurzeln. Sie reichten offenbar so tief, wie das Kirchenschiff von Notre-Dame hoch ist. Die nur drei Meter hohe Akazie musste die letzte Überlebende einer Oase gewesen sein, die vor langer Zeit von der Wüste verschluckt worden war. Viele Jahre waren ihre Wurzeln langsam dem versickernden Wasser gefolgt - und wurden dann bei der Grabung teilweise abgetrennt.
"Farblos, dornig, nackt"
Dass sich mehr Menschen für den Baum interessierten, tat ihm gar nicht gut. Die Franzosen nutzten ihn als Bezugspunkt für Landvermessungen und brachten eine Plakette des geographischen Dienstes an. Selbst auf Sahara-Landkarten kleinen Maßstabs war er nun eingezeichnet.
Es kam zu Verstümmelungen. 1961 hielt der Ethnologe Henri Lhote im Buch "L'épopée du Ténéré" fest: "Früher war der Baum grün und voller Blüten, jetzt ist er farblos, dornig und nackt." Von den ehemals zwei Stämmen sei "nur noch einer da, mit einem Stumpf an seiner Seite, [...] mehr abgerissen als abgeschnitten".
Auch Historiker Raymond Mauny bezeugte, der Baum habe "außerordentlich an Umfang verloren", Namen seien eingeritzt, und "ein Lastwagen des Militärs, der rückwärts rangierte, brach einen der Hauptäste ab". So ging seine Y-Form verloren. "Der Baum lebt noch", so Mauny, "aber er ist ernsthaft bedroht. Wie lang wird er noch überleben können?"
Nicht mehr lange: Im November 1973 fanden Fahrer der Citroen-Wüstenrallye "Raid Afrique 73" den "Arbre du Ténéré" tot vor. Ob nun durch einen beduselten Lkw-Fahrer oder einen Sturm - der Stamm des Baumes, der jahrzehntelang Sonne und Dürre an einem der lebensfeindlichsten Orte der Welt getrotzt hatte, war abgebrochen.
Die Republik Niger trauerte: Lieutenant Ali Saibou, späterer Staatspräsident, chauffierte den "Arbre du Ténéré" persönlich per Militärlaster zum Nationalmuseum in der Hauptstadt Niamey. Im Hof errichtete man ein Mausoleum, die Überreste der Akazie sind seither dort ausgestellt - durch Maschendraht, Metallzaun und einen massiven Betonsockel vor Menschen geschützt.
Der heulende Stahlbaum
Die Präfektur Agadez schickte 30 Jungbäume als Nachfolger des alten Wahrzeichens. Zum Schutz baute man eine Lehmmauer. Die Regierung heuerte sogar einen Gärtner namens Kader an. Der alte Mann vom Volk der Tubu wohnte in einer Hütte neben den Bäumen und sollte sie morgens wie abends gießen, überließ sie aber nach drei Jahren dem Tod, als der staatliche Lohn ausblieb.
Ein mehr als sechs Meter hoher stilisierter Baum entstand, die verschweißten Stahlrohre sollen an Äste erinnern. Ein Fuß aus alten Ölfässern, die Krone ohne Laub, dafür mit glänzenden Radkappen. Damit Lkw-Fahrer den Metallbaum schon von Weitem sehen. Reinhold Messner beschrieb ihn später in der "Welt am Sonntag" als "geschmacklos und deplatziert. Als müssten die Menschen aus der Zivilisation ihr Unverständnis auch dort zum Ausdruck bringen, wo es nur zu staunen gilt."
Wenige Meter weiter errichtete der Künstler Katsuyuki Shinohara 1998 eine zweite Metallstangen-Skulptur, die aussieht wie eine Mischung aus Klettergerüst und Raketenabschussrampe. "Tree of Wind" heißt sie, denn durchs Gestänge fährt der Harmattan mit einem jammernden Wehklagen, das vielleicht ganz entfernt an brüllende Kamele erinnert.
Allerdings schien den Metallbäumen kein glücklicheres Schicksal beschieden als ihrem Vorgänger. Immer wieder verschwanden Skulpturteile, etwas Blech hier, ein Stahlrohr dort. 2005 fand eine Touristengruppe die ältere Skulptur ganz umgeschlagen vor und richtete sie mühsam wieder auf. Ob da Vandalen am Werk waren oder der beißende Wind der Sahara? Kommt darauf an, was zerstörerischer sein mag - Natur oder Mensch.