
Alltag in der DDR: Sauforgie nach Bulettenschlacht
Alltag in der DDR Sauforgie nach Bulettenschlacht
Es gibt ein Foto von mir und meinem Vater, der stolz auf mich herabschaut, während ich aus einem Halbliterglas genüsslich Bier trinke. Auf dem Bild bin ich drei Jahre alt. Meine Mutter, die in dem Moment nicht anwesend war, hätte das wohl nicht besonders witzig gefunden. Doch bereits einige Jahre später ließ sie uns zu jeder größeren Feier und am Silvesterabend "mal" am Eierlikör nippen. Ich erlebte eine typische DDR-Kindheit und kam sehr früh mit Alkohol in Berührung, auch wenn er mir lange Zeit überhaupt nicht schmeckte.
Als Didi im Herbst 1985 plötzlich mit einem riesigen West-Doppelkassettenrekorder erschien, avancierte er zum neuen Helden unserer Clique. Um diese Stellung noch zu untermauern, kaufte er tags darauf im Intershop 60 Dosen DAB - Westbier! Erstens gab es bei uns nur Flaschen und zweitens hatte noch keiner von uns jemals echtes Bier von "drüben" getrunken. Didi baute die Dosen auf unserer Tischtennisplatte geschickt zu einer riesigen Pyramide auf. So stellten wir uns den Westen vor. Sagenhafte Bierpyramiden, coole Typen und laute Musik aus monströsen Ghettoblastern.
An diesem Abend trank ich, nur weil es Westbier war, fünf Dosen DAB und reiherte die halbe Nacht aus meinem Kinderzimmerfenster im neunten Stock. Didi übergab sich wohl noch etwas länger, denn als seine Eltern bemerkten, dass er ihr heiliges Westgeld geklaut hatte, prügelten sie ihm nicht nur die Dosen und den Rekorder aus dem Leib.
Das halbe Land nüchterte montags aus
Mein Vater, der schon lange gar keinen Alkohol mehr anrührt, erzählte mir mal, wie das zum Schluss mit seiner Sucht war. Jeder Arbeitsmontag war für ihn eine kleine Entziehungskur. Denn obwohl er jeden Tag maßlos soff, wurden die Rationen am Wochenende nochmals erhöht. Montags früh um sieben Uhr fühlte er sich dann extrem elend und schwach. Auffällig war, dass dies vielen seiner Kollegen so zu gehen schien. Das halbe Land nüchterte am Wochenbeginn zitternd aus.
Am 29. März 1986 stand endlich die heiß ersehnte Jugendweihefeier an. Das erste Problem, das sich ergab, waren die Klamotten. Wieder einmal konnten nur Leute mit Westgeld richtig fetzige, moderne Sachen bekommen. Wer dagegen Eltern hatte, denen 1.000 DDR-Mark nichts ausmachten, konnte im "Exquisit" seine Jugendweihegarderobe kaufen. Dort gab es oftmals Sachen fast auf Westniveau. Die ärmsten Schweine waren die, welche sich ihre Festtagsklamotten im Centrum Warenhaus am Ostbahnhof, Alex oder in der Jugendmode am Spittelmarkt kaufen mussten. Ich war wie immer "Kategorie C" beim Durchstöbern von Mode dritter Wahl und musste mir wiederholt anhören: "Hamm wa nüsch."
Es gab wirklich nur Dreck, denn zur Jugendweihe trug man keine Anzüge, sondern schicke, aber dennoch coole Klamotten. Nach drei Besuchen zusammen mit Mutter war ich völlig verzweifelt. Ich sah nur Sachen, die so abgrundtief hässlich in Farbe, Muster, Material und Schnitt waren, dass man sich ernsthaft fragte, wer das auftragen sollte. Es gab dort keine Schuhe, die ich gleich anbehalten wollte.
Ostdeutsches Mannequin für Arme
Da mir die Jugendweihe aber zu wichtig war, ging ich mit Mutter in eine kleine Boutique in der Sophienstraße, die ihr eine Arbeitskollegin empfohlen hatte. Zwar sah ich mit den Sachen, die wir nach langer Diskussion kauften, immer noch wie ein ostdeutsches Mannequin für Arme aus. Doch ich musste wenigstens keine fiesen Kommentare mehr befürchten. Omas Liebling 1986 trug: eine graue, eng anliegende Stoffhose, eine grau-blaue Stoffjacke, einen hellblauen, dünnen Pullover, ein Paar weiße Socken und einen weißen Schlüpfer.
Als wir an unserem großen Tag, begleitet von einem Fagott-Quintett, in den festlich geschmückten Saal des Metropoltheaters einliefen, stellte ich sofort fest, dass ich alles richtig gemacht hatte. Einige meiner Kumpel hatten zwar echt geile Westklamotten an, andere sahen jedoch so richtig scheiße aus. So richtig!
Die Feierstunde mit Eltern und Verwandten verlief nach dem gewohnten Muster. Zunächst wurde das Lied "Der kleine Trompeter" gesungen, dann rezitierte unser FDJ-Sekretär die Gedichte "Für den Frieden der Welt" und "Frieden wie das eigene Leben. Nach der salbungsvollen Festrede eines Obersts der Volkspolizei bekamen wir endlich die Urkunden, das Geschenkbuch "Vom Sinn unseres Lebens" und unseren Blumenstrauß. Dabei legten wir auch das Gelöbnis ab. Man konnte förmlich sehen, wie eilig es alle hatten, nach draußen zu kommen. Zu Hause stand nämlich das Wichtigste der ganzen Veranstaltung bevor: die Übergabe der Geschenke!
Als ich mit unseren Verwandten in der Mollstraße angekommen war, schenkte mir Vater ein Berliner Pilsner in ein Tulpenglas ein und nahm mich damit in den Kreis der Erwachsenen auf. Der kleine Benny schaute bewundernd zu mir auf. Er durfte später "mal" am Eierlikörglas von Oma Halle nippen.
"Das Ding hatte sogar Power"
Dann durfte ich in die Schatzkammer, das elterliche Schlafzimmer, gehen. Sie hatten mir wirklich den SKR 700 gekauft und für diesen über drei Kilogramm schweren, anthrazitfarbenen DDR-Kassettenrekorder schlappe 1540 Mark hingeblättert! Ganz klar, der Ghettoblaster von Didi wog weniger als die Hälfte, sah wesentlich cooler aus und kostete wahrscheinlich im Westen gerade mal ein Zehntel. Ich fand aber Genugtuung darin, dass meine Eltern ordentlich für mich geblutet hatten. Das Ding hatte sogar Power.
Nach der Sichtung der Präsente, vor allem der Briefumschläge aus der Verwandtschaft, ging ich zufrieden zurück ins Wohnzimmer und trank mein Bier in einem Zug aus. Was sollte ich bloß mit all dem Geld machen?
In der Clubgaststätte Kiew in Marzahn, wo meine Klasse gemeinsam feierte, war unser Familientisch für zwölf Personen gedeckt. Wir saßen kaum, da wurden auch schon unsere vorbestellten Essen gebracht. Alle hatten sich für das "Steak au four" entschieden, danach gab es Kaffee und Kuchen. Das schien hier nach einem gewohnten Muster abzulaufen. Wie viele meiner Klassenkameraden durfte ich weiterhin Bier trinken. Mein Vater wäre sonst sicherlich enttäuscht gewesen, immerhin galt die Jugendweihe als das erste "offizielle" Besäufnis eines jungen DDR-Bürgers.
Leicht beschwipst lauschte ich dem gerade beginnenden Kulturprogramm, das alle Eltern zusammen vorbereitet hatten. Leider wurden ausgerechnet Coco und ich nach vorne gebeten, um die sinnlosen Artikel der Jugendweihezeitung abwechselnd den Gästen vorzulesen. Meine Mutter blickte mit feuchten Augen hinüber zu ihrem großen Sohn in seinen hübschen blau-grauen Klamotten.
Wohin mit den Buffetresten?
Ich war froh, als der Spuk vorbei war und das Abendbrot serviert wurde. Das Buffet war so unglaublich groß, als wären tausend Gäste erwartet worden. Noch nie zuvor hatte ich in der DDR erlebt, dass so viel liegenblieb. Zu Hause hieß es immer: "Es wird aufgegessen, was auf den Tisch kommt!" In Restaurants wurden wir stets angehalten, auch die ollen Sättigungsbeilagen zu verspeisen. Das hier glich dagegen einer riesigen Verschwendung. Der stark alkoholisierte Didi fragte unseren Lehrer Blase, ob wir die Buffetreste nicht aus Solidarität nach Angola schicken könnten. Bommel und Tessi lieferten sich derweil draußen eine Essensschlacht, indem sie sich gegenseitig mit Buletten bewarfen. Sie waren schon total blau.
Um 20 Uhr war bereits alles abgeräumt, und die Disco begann. Schon nach den ersten paar Liedern war mir klar, dass die Veranstaltung eher etwas für die Eltern und Omas sein würde. Die Beatles, Beach Boys und Bee Gees entsprachen nicht unbedingt dem Zeitgeist der Jugend im Jahre 1986. Es geschah, was zu befürchten war: Wir trafen uns alle vor dem Eingang mit irgendeiner Pulle in der Hand. Jeder hatte gegriffen, was gerade auf seinem Tisch stand - die Mädchen vorzugsweise süßen bulgarischen Rotwein, einige Jungs sogar Weinbrand oder Korn. Von da an hieß es: Saufen bis zum Erbrechen.
Weit nach Mitternacht sah ich zum ersten Mal in meinem Land eine Ansammlung von mehreren Taxis. Auch das schien vorher organisiert worden zu ein. Nicht nur ich, sondern alle meine Freunde, Coco, Ute, Diana und sogar mein kleiner Bruder Benny hatten mehrere Male gekotzt. Meine Eltern hatten davon entweder nichts gemerkt oder verkniffen sich jeglichen Kommentar.
Trinkfeste Ex-DDR-Bürger
Viele Jahre später habe ich jetzt einen sehr gemischten Freundeskreis. Bis auf ein, zwei Ausnahmen sind die maßlosen Säufer alle ehemalige DDR-Bürger oder Osteuropäer aus meiner Generation. Mit einem unglaublichen Tempo hauen wir uns die Halben in die Birne, ohne zu merken, dass uns andere Leute ganz komisch ansehen, wenn sie immer noch an ihrem ersten Alster nuckeln. Bis vor kurzem war mir das gar nicht aufgefallen.
Erst als sich fast jeder Arbeitsmontag wie eine kleine Entziehungskur anfühlte, machte ich mir langsam Sorgen. Am Wochenbeginn um 7.30 Uhr fühlte ich mich oft extrem elend und schwach. Es fiel mir auf, dass dies den wenigsten meiner Kollegen so zu gehen schien und ich offenbar der Einzige war, der seinen Wochenendrausch ausnüchterte. Ich dachte an die riesige Pyramide aus Dosen der Dortmunder Aktien-Brauerei aus vergangenen Tagen. Es war also doch der Westen schuld!

Mark Scheppert:
Mauergewinner oder Wessi des Ostens
30 vergnügliche Geschichten aus dem Alltag der DDR.
Books on Demand; 228 Seiten; 14,90 Euro.
