Als Mädchen in Auschwitz »Die Asche rieselte herunter, so wie Schnee«
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Dies ist die unglaubliche Geschichte von Dita Kraus und wie es ihr gelang, den Holocaust und eine Odyssee durch vier Konzentrationslager zu überleben. Es geht um unermessliches Leid und um den beharrlichen Überlebenswillen eines jüdischen Mädchens.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Ich habe eine innere Stimme gehört oder sie mir eingebildet: ›Du wirst nicht sterben.‹
Ich hatte so ein Gefühl: ›Du wirst nicht sterben.‹ Und daran glaubte ich.«
Sie ist 13 Jahre alt, als sie aus ihrer Heimatstadt Prag in das Konzentrationslager und Ghetto Theresienstadt deportiert wird. Mit 14 verschleppen die Nazis sie weiter nach Auschwitz. Von dort transportiert man sie in das KZ Neuengamme und als 15-Jährige bringt man sie dann in das vierte Konzentrationslager – nach Bergen-Belsen.
Wir treffen Dita Kraus zum Interview und fahren anschließend nach Polen, nach Oświęcim, zum ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau, um ihre Leidensgeschichte noch besser verstehen zu können.
Ihr Mädchenname ist Edita Polachova. In Prag verbringt sie eine unbeschwerte Kindheit – bis Hitler 1939 in die damalige Tschechoslowakei einmarschiert. Bald darauf beginnt der Zweite Weltkrieg. Ditas Familie wird – wie alle jüdischen Bürger – mehr und mehr ausgegrenzt und verfolgt. 1942 deportiert man sie zusammen mit ihrer Mutter Elisabeth und ihrem Vater Hans in das KZ Theresienstadt. 1944 wurden diese Bilder in Theresienstadt gedreht – ein inszenierter, geschönter Propagandafilm der Nazis. Die Legende des Vorzeige-Konzentrationslagers. In Wahrheit war es keine heile KZ-Welt: Die Menschen wurden gequält, verhungerten, erfroren. Ein Großteil der am Film Mitwirkenden wurde in Auschwitz ermordet. Denn für die SS war Theresienstadt vor allem eine Durchgangsstation auf dem Weg in die Vernichtungslager.
Die sogenannte Endlösung der Judenfrage war ein akribisch organisierter Völkermord. Die Menschen in Theresienstadt hatten schreckliche Angst vor den Zügen Richtung Osten.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Wir waren unterwegs in einem Zug, einem Viehwagen ohne Bänke, ohne Toiletten. Wir standen einen Tag und eine Nacht oder sogar zwei Nächte in diesen Waggons. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange. Ohne uns bewegen zu können. Als die Türen geöffnet wurden, sahen wir vor uns eine Rampe. Da standen SS-Männer mit Wolfshunden, die bellten und wollten uns attackieren. Männer in gestreiften Uniformen standen dort, mit Stöcken. Die jagten uns aus den Waggons heraus, wir mussten runterspringen. Das war so hoch. Mit den Stöcken schrien sie: ›Raus, raus! Gepäck hinterlassen! In Fünferreihen antreten. Frauen extra und Männer separat.‹ Das war die Ankunft in Auschwitz. Diese Männer in den gestreiften Anzügen schrien: ›Ihr seid in Auschwitz!‹ Wir wussten ja nicht, wo wir hinfahren. ›Ihr seid in Auschwitz.‹«
Genau hier kam Dita Kraus im Dezember 1943 an. An der sogenannten Alten Judenrampe landeten die vielen Deportationszüge aus ganz Europa. Hier fanden auch die Selektionen statt, die einstige Rampe gibt es nicht mehr. Heute erinnert nur noch ein kleines Mahnmal daran.
Wir suchen nach Spuren von Dita Kraus in der Gedenkstätte Auschwitz. In der Nähe des Tores des Stammlagers Auschwitz liegt heute das Archiv. Wenn es Spuren ihrer Inhaftierung in Auschwitz gibt, findet man sie hier. Hier lagern die Dokumente aus der KZ-Verwaltung. Ein großer Teil davon existiert jedoch nicht mehr. Die Nazibürokratie erfasste zwar alles – doch die SS vernichtete kurz vor Kriegsende so viele Unterlagen wie möglich.
Wir treffen den Leiter des Archivs, um mehr über Ditas Verschleppung durch die Nazis zu erfahren.
Wojciech Płosa, Leiter des Archivs der Gedenkstätte Auschwitz
»Es gibt in unserem gesamten Archiv nur ein einziges Dokument, in dem der Name Edita Polachova erwähnt wird. Dieses Dokument ist die Namensliste derer, die von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurden. Dieser Transport verließ Theresienstadt am 18. Dezember 1943.«
»Und genau hier auf dieser Seite steht der Name von Edita.«
Und wir finden noch eine weitere Spur von Dita, wenn auch nicht ihren Namen.
Denn in der Todesfabrik gab es nur noch Nummern. So registrierte die SS systematisch jeden Häftling, der nicht sofort in den Gaskammern umgebracht wurde. Die Liste dieses perversen Nummerierungssystems befindet sich noch heute im Archiv – und hilft jetzt bei der Rekonstruktion.
Wojciech Płosa, Leiter des Archivs der Gedenkstätte Auschwitz
»Hier haben wir eine vollständige Liste der Transporte, die im Lager Auschwitz ankamen – von der Gründung des KZ bis zum Ende. Und hier die Informationen, welche Nummern exakt an welchem Tag an die Häftlinge vergeben wurden.«
»Ich überprüfe jetzt genau das Ankunftsdatum dieses Transports. Ja, der 20. Dezember, also zwei Tage später. Das ist dieser Transport von Juden aus Theresienstadt. Ihre Ankunft in Auschwitz war der 20. Dezember und das sind die Nummern, die an die weiblichen Gefangenen dieses Transports vergeben wurden.«
Wir wollen mit Dita Kraus über unsere Recherche im Archiv von Auschwitz sprechen. Wir erreichen sie in ihrer Heimatstadt Prag. Sie erinnert sich genau an die Zwangstätowierung nach der Ankunft.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Seitdem wurden wir nie mehr mit Namen angesprochen. Wir blieben nur Nummern. 73305 hatte ich. Da war so ein Moment bei der Tätowierung. Da waren wir beide so verzweifelt, dass wir sprachen, wir möchten beide sterben. Aber es gab keine Möglichkeit, praktisch. Wie macht man Selbstmord, wenn man nackt ist? Diesen Moment habe ich nicht vergessen, weil – meine Mutter und ich sprachen darüber. Wir möchten beide sterben.«
Eine unerträgliche Entmenschlichung – die Ankunft in Auschwitz ist für Dita und ihre Mutter ein Schock. Gedemütigt durch die entwürdigende Behandlung, frierend und schutzlos. Und das ist erst der Anfang.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»In Fünferreihen marschierten wir entlang der Lagerstraße bis zu dem Lager, wo wir dann die Ehemaligen, die Leute trafen, die vor uns im September nach Auschwitz gebracht wurden, die drei Monate schon dort waren. Und die sahen so anders aus. Weil – die Augen waren ohne Ausdruck. Kein Lächeln. Nichts. Wir kannten viele der Leute, die dort waren. Es waren auch Verwandte unter ihnen. Der Ausdruck war wirklich voller Angst. Der Tod war in den Augen.«
Sie erkennt so viele Häftlinge, weil bereits im September Transporte mit ungefähr 5000 Menschen aus Theresienstadt in Auschwitz angekommen waren. Sie werden mit ihnen zusammen in einem abgetrennten Bereich hinter mit Starkstrom geladenem Stacheldrahtzaun gesperrt – dem Theresienstädter Familienlager.
Die Nazis unterteilten Birkenau in Bauabschnitte, zwischen denen sie die Menschen hin- und herschoben. Das hier war der Eingang zu dem Lagerbereich BIIb, in dem Dita und ihre Familie interniert wurden. Einen Ausschnitt davon kann man hier rot markiert erkennen. Es ist das einzige Foto, das von dem Theresienstädter Familienlager existiert.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Man hat uns auch nicht die Kleidung für Gefangene gegeben, sondern Zivilkleidung. Wir konnten die Haare behalten. Die wurden kurz geschoren, aber nicht vollkommen...
Frauen, Männer und Kinder waren im selben Lager. Männer und Frauen lebten in verschiedenen Baracken, aber im selben Lager. Das deswegen auch das Familienlager genannt wurde, weil die Nazis mit uns irgendeinen anderen Plan hatten als mit den anderen Häftlingen. Wir wussten aber nicht, warum. Wir hatten das Gefühl, dass wir privilegiert sind, dass wir besser behandelt werden. Aber der Grund war das Gegenteil.«
Die scheinbaren Privilegien sind nur eine Momentaufnahme. Nach dem Schock ihrer Ankunft in Auschwitz entpuppt sich nach und nach der ganze Horror der Todesfabrik Auschwitz. Allmählich wird der 14-Jährigen bewusst, was die SS mit ihnen plant.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Wir hörten es von den Ehemaligen, die schon da waren. Erst erfuhren wir über die Gaskammern. Wir wussten nichts davon. Anfangs dachte ich, sie sind verrückt geworden, weil ich so was Unglaubliches, dass man Menschen in Gaskammern schafft und die Toten dann verbrennt… Das war so unglaublich, dass ich eine Zeit lang überhaupt nicht daran glaubte. Erst nachdem sie uns zeigten: ›Schau mal, siehst du die Asche?‹ Die Asche, die rieselte so von den Krematorien, von dem Rauch. Die Asche rieselte herunter, so wie Schnee, ununterbrochen. Und dann war der Geruch von Verbranntem, von den Krematorien. Und das konnte man nicht ignorieren. Erst dann begann ich zu verstehen, worum es geht.«
Ein Modell in der Gedenkstätte Auschwitz zeigt die Dimensionen und den industriellen Charakter des Vernichtungssystems. Es ist das Krematorium 2, das die Nazis Ende 1944 zerstörten. Die unterirdische Gaskammer war 210 Quadratmeter groß. Allein hier konnten etwa 2000 Menschen auf einmal mit Zyklon B getötet werden. Anschließend hat man den Toten die Goldzähne herausgebrochen, die Haare abgeschnitten und die Leichen verbrannt.
Das ist nur eine der insgesamt vier großen Vernichtungsanlagen in Birkenau. Sie mordeten Tag für Tag. »Sonderbehandlung« lautete die Tarnbezeichnung der SS für den Massenmord.
Aber der Tod war nicht nur in den Gaskammern. Er war überall präsent – allein durch die katastrophalen Lebensbedingungen, Krankheiten und Seuchen. Ditas geliebter Vater Hans verhungert.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Vater überlebte nur einige Wochen. Der starb am 5. Februar. Wir kamen an im Dezember. Also kaum zwei Monate später starb er. Er war 44 Jahre alt. Heute sind meine Enkel schon älter. Damals kam es mir nicht so vor, dass das so jung war.«
Wir finden seinen Namen im »Book of Names« in der Gedenkstätte Auschwitz.
Hans Polach, geboren am 10.12.1899 in Wien. Rechtsanwalt. Ermordet in Auschwitz.
Das monumentale Totenbuch gedenkt der Opfer des Holocaust. Eine Rekonstruktion der Schicksale der Ermordeten. Wenigstens soll an sie einzeln mit ihren Namen erinnert werden. Auf jeder dieser riesigen Seiten stehen allein 500 Namen. Meter über Meter kann man 4,2 der insgesamt etwa sechs Millionen Opfer der Shoah in diesem Buch finden. Und so viele Namen fehlen. Unidentifizierte Opfer, nach denen immer noch geforscht wird. Angesichts des mordenden Terrorapparats ist unvorstellbar, wie es in Auschwitz noch so etwas wie Hoffnung geben konnte. Aber die gab es.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Man gibt nicht auf. Man hofft. Man hofft ständig, dass der Krieg zu Ende gehen wird, so bald wie möglich. Und wir noch am Leben sein werden. Man hat so schrecklichen Hunger, dass alles andere unwichtig scheint. Man will nur Nahrung bekommen, und das beschäftigt einen so sehr, dass man keine anderen Gedanken hat als Essen. Es wurde ununterbrochen über Essen gesprochen: ›Wann kommt die Suppe?‹ Und: ›Ich habe in meiner Suppe ein Stück Kartoffel gefunden.‹ Oder: ›In meiner Suppe war gar nichts drin.‹ Das war das Wichtige. Man ist vollkommen konzentriert auf Nahrung, Nahrung, Essen, Essen, Brot, Brot.«
Nach der Befreiung von Auschwitz im Januar 1945 wurden diese Aufnahmen der befreiten Häftlinge gemacht. Die Menschen hatten Hunger, wie man ihn sich überhaupt nicht vorstellen kann. Dieser quälende Hunger war überall hier in Auschwitz-Birkenau.
Luftaufnahmen nach der Befreiung 1945 zeigen die Dimensionen dieses riesigen KZ, das im Wesentlichen aus Baracken bestand.
Das sind die Ruinen von Block 6, in dem Dita mit ihrer Mutter leben musste, gemeinsam mit Hunderten anderen Frauen. Block war die Lagersprache für die einfachen, fensterlosen Baracken.
In dem angrenzenden Bereich des KZ Auschwitz-Birkenau gibt es einen baugleichen Block – originalgetreu restauriert. Nach der Befreiung filmten sowjetische Soldaten die menschenverachtenden Zustände.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Da, wo wir schliefen, wurde nicht geheizt. Es war sehr, sehr kalt. Ein Gestank war immer in dem Block, natürlich, weil keine Lüftung da war und so viele Personen. Es waren einige Hundert. Ich glaube, ungefähr 300 in einem Block. Wir zogen uns nie aus. Wir hatten auch keine Unterwäsche. Wir hatten nichts, nur die Kleidung, die man an uns verteilt hatte. Wir hatten auch nichts zum Wechseln. Wir blieben die ganzen Monate in derselben Kleidung.«
Dita ist 14, ein Teenager in der Pubertät. Aber so etwas gibt es dort nicht, wo es tagtäglich ums Überleben geht, erzählt sie ganz offen.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Die Frauen, die verloren doch alle ihre monatliche Periode. Schon in Theresienstadt, aber ganz gewiss in Auschwitz. Weil der Körper doch spart. Der Körper selbst beschließt, was er vermissen kann. Also das Fett. Und dann geht das Fett weg, und dann wird der Bauch anstatt so, dann wird er so. Und dann verschwinden langsam die Brüste. Das macht die Natur. Gefühlsmäßig wird man stumpf. Man fühlt weniger Mitleid oder kein Mitleid.«
Und inmitten dieser Hölle gab es für die Kinder aus dem Theresienstädter Familienlager eine Art Kita, den sogenannten Kinderblock. Dita Kraus hat den Kinderblock im Auftrag der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem gezeichnet, weil kein einziges Dokument mehr existiert. Sie war dort als Hilfskraft beschäftigt.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Meine Aufgabe war, die wenigen Bücher, die es dort gab, so eine kleine Reihe von Büchern, zu bewachen. Also ich war die Bibliothekarin.«
Der Kinderblock war eine Initiative von Fredy Hirsch. Der jüdische Pädagoge und Sportlehrer wurde ebenfalls in Prag verhaftet und über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert.
Fredy Hirsch engagierte sich als Blockältester mit einer Gruppe von Betreuern liebevoll für die rund 700 gefangenen Kinder im Familienlager. Er beschützte auch Dita und viele andere ältere Jugendliche, indem er ihnen Aufgaben im Kinderblock gab oder sie als Betreuer für die Kleinen einsetzte. Ein vergessener Held.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Er war ein bewundernswerter Mensch, weil er sehr ehrlich war und sehr moralisch stark war. Er hatte auch eine Art, mit den Kommandanten zu verhandeln, die sie irgendwie auch respektierten. Wir Kinder sahen ihn als Modell für uns, in jeder Beziehung. Die Betreuer – ich glaube, das waren die größten Helden von Auschwitz. Die Betreuer, die selbst wussten, dass sie in einigen Wochen ums Leben kommen, die widmeten sich den Kindern, um ihnen die letzte Zeit des Lebens so gut wie möglich zu erleichtern.«
Nach genau sechs Monaten isoliert die SS alle Häftlinge, die bereits im September aus Theresienstadt angekommen waren, um sie in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1944 in den Gaskammern zu ermorden. Sie töten 3791 Menschen aus dem Familienlager. Auch Fredy Hirsch starb. Man bezeichnet den Massenmord auch als die erste Liquidation des Familienlagers.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Seit der Zeit wussten wir, dass für uns auch nur sechs Monate geplant waren. Nach sechs Monaten sollten wir auch alle in die Gaskammern. Das wurde uns klar, nachdem diese Leute umkamen.«
Die überlebenden Häftlinge des Familienlagers leben nun in ständiger Todesangst, sie zählen die Tage. Plötzlich, Anfang Juli, beginnt eine Selektion. Dita Kraus steht vor dem als »Todesengel von Auschwitz« berüchtigten KZ-Arzt Dr. Josef Mengele.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Es wurden die arbeitsfähigen Leute ausgewählt. Dr. Mengele beschloss mit dem Finger, in welche Gruppe jeder geschickt wird. Wir wurden instruiert, wie wir in der Reihe stehen müssen. In Habachtstellung stehen. Nackt. Wir durften nur drei Sachen sagen, nichts anderes. Nur: die Nummer, das Alter und einen Beruf. Als ich an die Reihe kam, sagte ich 73305, sechzehn, Malerin. Er stoppte und fragte mich: ›Malerin? Zimmermalerin oder Porträtmalerin?‹ Ich sagte: ›Porträtmalerin.‹ Und er fragte auch noch: ›Kannst du mein Porträt malen?‹ Ich habe gesagt: ›Ja. Jawohl!‹ Aber mit großer Angst. Jedenfalls, Mutter und ich wurden in die Gruppe, die verschickt wurde, gewählt und wurden nach Hamburg geschickt.«
Dita Kraus wird mit rund 3000 Männern und Frauen zur Zwangsarbeit in andere KZ gebracht. Im Familienlager bleiben ungefähr 6000 bis 7000 Häftlinge zurück. Sie werden alle zwischen dem 10. und 12. Juli 1944 in zwei Nächten ermordet. Nach dieser zweiten Liquidation existiert das Theresienstädter Familienlager nicht mehr. Eine der verschiedenen Außenstellen des KZ Neuengamme, in die die mittlerweile 15 Jahre alte Dita zu harter Zwangsarbeit abkommandiert wird, liegt hier im Hamburger Hafen. Anfang April 1945 wird Dita erneut deportiert. Dieses Mal in das KZ Bergen-Belsen. Dort herrschten unmenschliche Zustände: Bis auf wenige Wachleute war die SS vor der immer näher kommenden britischen Armee geflohen und hatte die völlig entkräfteten Häftlinge ohne Wasser und Nahrung sich selbst überlassen. Typhus grassierte.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Das Gelände war einfach übersät mit Toten. Unser ganzes Lager, rundherum waren lauter Leichen. Niemand hatte die Kraft, sie zu begraben. Da, wo sie starben, da lagen sie dann. Wir wohnten in einem Gebäude ohne Betten. Diese vielen Tage, bevor die britische Armee kam. Wir lagen auf dem Fußboden, und wenn wir rausgingen und zur Latrine gingen, dann mussten wir über die Leichen, zwischen den Leichen gehen, bis zur Latrine.«
Ihre Mutter schafft es nicht, sie stirbt zwei Monate nach der Befreiung. Auch Dita erkrankt an Typhus – aber überlebt. In den ersten Wochen hilft sie der britischen Armee als Dolmetscherin – und sie bekommt ihren Namen zurück – Edita Polachova steht auf ihrem Displaced-Persons-Ausweis. Dita kehrt nach Prag zurück. Später zieht sie mit ihrem Ehemann Otto – auch ein Auschwitz-Überlebender wie sie – nach Israel für den Neuanfang. Dort lebt die glückliche Urgroßmutter. Eine wichtige Zeitzeugin, die immer noch die Kraft hat, ihre Geschichte zu erzählen. Sie reist auch zu Gedenkfeiern – wie hier nach Neuengamme. Nur einen Ort will sie nie wieder in ihrem Leben betreten. Nie wieder nach Auschwitz.
Dita Kraus, Holocaustüberlebende
»Nach Auschwitz will ich nicht, weil ich mich immer an die Asche erinnere. Die Asche! Die ganze Umgebung, die ganze Erde der Umgebung von Auschwitz ist voller Asche von Tausenden und Hunderttausenden Menschen, die verbrannt wurden. Ich finde es schrecklich, dort herumzulaufen. Als trete ich auf das Grab meines Vaters. Ich könnte das nicht. Ich bin sehr dagegen, auch diese Gruppen, die Auschwitz besuchen. Ich bin sehr dagegen.«