
Rowdy-Athleten: Wenn Sport doch nicht so gesund ist
Anarcho-Athleten Sport und Totschlag
"You cannot be serious!", brüllte der schmächtige 22-Jährige über den heiligen Rasen: Das kann nicht Ihr Ernst sein. Eine Hühnerbrust, ein neunmalkluger New Yorker Schlaukopf, Sohn reicher Eltern, ausgebildet auf den besten Schulen der Intellektuellen-Metropole, die Haare ein fusseliges Knäuel Locken, nur im Zaum gehalten von einem Frotteestirnband. Da stand er auf dem Platz, 1981 in Wimbledon, in seinem zweiten Match und schrie den Schiedsrichter an, dass den Ladies und Gentlemen im Publikum die Erdbeeren mit Sahne im Halse steckenblieben: Kreidestaub sei aufgestoben, der Ball sei auf der Linie gewesen, jeder im Publikum habe es gesehen, nur der Schiedsrichter nicht. "You've got to be the pits of the world!", stellte der Spieler abschließend fest. Ein Fluch, den es bis dato so nicht gab, am besten übersetzbar mit: Sie müssen der Abgrund der Welt sein. Dann schlug er binnen zehn Minuten seinen Gegner Tom Gullikson - und holte sich seinen ersten Wimbledon-Sieg, als er im Finale den schweigsamen Schweden Björn Borg vom Tennisthron stieß.
Mit Auftritten wie diesen veränderte McEnroe das Tennis für immer. Aus dem gepflegten Hin und Her der gelben Filzkugel machte das "Superbrat" - der Oberflegel, wie die englische Presse den Amerikaner voller Verachtung taufte - Dramen in zwei bis fünf Sätzen. Er legte sich mit den Schiedsrichtern an, beleidigte Zuschauer, zerschmetterte Schläger und schoss Balljungen ab. Er raufte sich verzweifelt die Haare, nestelte nervös an seinen Schnürsenkeln. Und wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, sah man, wie die Lava der Enttäuschung in ihm aufstieg. Dann schaute er auf zum Schiedsrichter mit all dem Trotz eines unverstandenen Kindes - und es brach aus ihm heraus. Um McEnroes legendären Tiraden zu übertragen, schreibt Tim Adams in seiner grandiosen Sportlerbiografie "Being John McEnroe", richtete Anfang der achtziger Jahre sogar die stockkonservative BBC in Wimbledon verschämt ihre Mikros in Richtung Court. So konnten die Zuschauer zu Hause an den Schirmen erstmals mithören, was sich dort abspielte.
Champion im Schlabberpulli
Sportler wie McEnroe, Punks auf dem Platz, zeigen uns Wettkampf in all seinen emotionalen Extremen - die Trauer und die Verzweiflung, die unbändige Freude, die Wut und den Wahnsinn. Anders als die Perfektionisten und Streber schenken sie uns Emotionen statt Ergebnisse.
Man denke nur an Mike Tyson, als er am Abend des 28. Juni 1997 im Blutrausch Evander Holyfield ein Ohr abbiss. Oder den Golfer John Daly, der mit Bierdose und Schlabberpullover 1991 beim PGA Championship in Carmel, Indiana auftauchte - und eben mal die besten Spieler der Welt deklassierte. Oder Vinnie Jones, der Paul Gascoigne bei einem Spiel 1987 beherzt bei den Hoden packte.

Rowdy-Athleten: Wenn Sport doch nicht so gesund ist
Doch der Größte unter ihnen ist und bleibt McEnroe. Weil es ihm nicht nur gelang über fünf Sätze zu faszinieren, sondern über eine ganze Karriere - und darüber hinaus. Er gab den geprügelten Hund und den enthemmten Choleriker, er war Held und Hassobjekt. Anders als seine Nemesis, die Tennismaschine Björn Borg, stöhnte und kämpfte er, streckte sich, wuchs über sich hinaus, fiel flach auf den Bauch und blieb erschöpft liegen.
"Ich bin echt erledigt ... und du?"
McEnroe inspirierte Künstler. Andy Warhol ließ ein großformatiges Siebdruckporträt von ihm anfertigen. Der Schauspieler Tom Hulce studierte für seine explosive Performance als Mozart in Milos Formans Film "Amadeus" McEnroes Wutausbrüche.
Und er bewegte die Massen. 1977 saß ein Mann namens Phil Knight in Wimbledon im Publikum. Der Sportschuhfabrikant suchte nach Spielern, die seine Tennisschuhe tragen könnten. Als er den gerade 18-jährigen McEnroe bei einem seiner Wutausbrüche sah, wusste er: Der ist es. So unterschrieb McEnroe einen Werbevertrag bei der Firma, die sich gerade von Blue Ribbon Sports in Nike umbenannt hatte - und machte die kleine Schuhfirma aus Beaverton, Oregon mit seinem Image zu dem Riesenkonzern, der er heute ist. Einfach jeder wollte die Schuhe, die McEnroe trug, einen Fetzen vom Charisma des "Big Mac" am eigenen Fuß.
McEnroe ist immer noch für Überraschungen gut. Nachdem er 1992 aus dem Tennis-Zirkus ausstieg, versuchte er sich unter anderem als Kunsthändler und Rockmusiker. 2006 dann, zwei Jahrzehnte nachdem er die Tenniswelt dominiert hatte, tauchte McEnroe 47-jährig und voller Energie auf einmal beim ATP-Turnier in San Jose auf, um mit seinem schwedischen Partner Jonas Björkmann im Doppel den Tennis-Stars dieses Jahrtausends das Fürchten zu lehren. Gefragt, warum er ein Comeback wage, antwortete er nur: "Comeback? Ich habe doch niemals meinen Rücktritt erklärt." Und dann gewann er sein 78. Doppel-Turnier.
Auch heute spielt der Superbrat noch, brüllt konsternierte Schiedsrichter zusammen, fragt sie, ob die Entscheidung ihr Ernst sei. Und auch heute gelingt es McEnroe wie keinem zweiten die Emotionen des Tennis auf den Punkt zu bringen. Und sei es als einer der feinsinnigsten Tennis-Moderatoren der Welt. Als Rafael Nadal 2008 im Wimbledon-Finale in fünf nervenaufreibenden Sätzen seinen Erzrivalen Roger Federer bezwungen hatte, sollte McEnroe ihn nach dem Spiel interviewen - und brachte das ganze Drama des Sports, die übermenschliche Leistung der Spieler, alle Emotionen der Partie mit einer einzigen, hingenuschelten Frage auf den Punkt: "Rafa ... unglaublich ... hab nie zuvor so ein Spiel gesehen ... bin echt erledigt ... und du?"