Fotostrecke

Anfänge der RAF: Todesschüsse in der Seitenstraße

Anfänge der RAF Todesschüsse in der Seitenstraße

Sie war das erste Opfer im Krieg der Roten Armee Fraktion gegen den deutschen Staat: 1971 wurde Petra Schelm in Hamburg auf der Flucht von einem Polizisten erschossen. Aus dem Hippiemädchen war innerhalb kurzer Zeit eine Terroristin geworden.

Das Grab Nr. 20 in der Abteilung vier auf dem Friedhof "In den Kisseln" ist längst aufgelöst. Blätter der umstehenden mächtigen Buchen liegen auf dem kurzgeschnittenen Rasen. Gras ist im buchstäblichen Sinne auch über den Tod jener jungen Frau gewachsen, die hier, in Berlin-Spandau, im Sommer 1971 beerdigt wurde.

Der Kampf der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion gegen den westdeutschen Staat in den siebziger Jahren hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt. Er hat zahlreiche Filme inspiriert, es gibt unzählige Bücher zum Thema, die Namen Baader, Meinhof, Ensslin sind den Deutschen ebenso geläufig wie Helmut Kohl oder Helmut Schmidt. Der Name Petra Schelm ist dagegen nur wenigen bekannt. Dabei hat mit ihr gewissermaßen alles begonnen: Am 15. Juli 1971 kostete sie ein Schuss aus der Maschinenpistole eines Polizisten das Leben. Sie war das erste Todesopfer, das der nie offiziell erklärte Krieg zwischen der Terrorgruppe RAF und dem deutschen Staat forderte.

Petra Schelm stammte aus einfachem Hause. Ihr Vater war Malermeister, sie hatte Friseurin gelernt. Als Beatmusik und Hippietum aus den USA und Großbritannien auch nach West-Berlin überschwappten, kam der Bruch. Plötzlich war es vorbei mit dem biederen Leben, nun saß sie bei den als "Gammler" beschimpften Typen mit langen Haaren an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und rauchte Haschisch.

Ein letztes Mal zu Hause

In der politisierten Hippieszene, die "Blues" genannt wurde, aus der später die "Haschrebellen", die "Tupamaros West-Berlin" und die "Bewegung 2. Juni" hervorgingen, lernte sie einen jungen Mann namens Manfred Grashof kennen. Er war von der Bundeswehr nach West-Berlin desertiert.

Die beiden wohnten für 80 Mark Miete im Monat in einer Einzimmerwohnung in der Bleibtreustraße in Charlottenburg, unweit des Savigny-Platzes, dem damaligen Zentrum der Bewegung in West-Berlin. Hier trafen sich die revoltierenden Studenten in Kneipen wie "Zum Schotten", "Dicke Wirtin" und "Herta". Die Wohnung diente nebenbei als geheimes Auslieferungslager des anarchistischen Wochenblattes "883".

Um ein zinsloses Ehestandsdarlehen von 3000 Mark zu bekommen, wollten die beiden heiraten. Da Petra noch nicht das Volljährigkeitsalter von 21 erreicht hatte, brauchten sie für die Heirat die Zustimmung der Eltern. Die waren von der Idee wenig begeistert. Ihr Vater sagte zu Grashof, der gerade ein Filmstudium begonnen hatte: "Sie können doch keine Familie ernähren." Die Mutter weinte. Es war das letzte Mal, dass Petra Schelm ihre Eltern sah.

Gefälschte Papiere

Ab Dezember 1969 traf sich Manfred Grashof mit dem Rechtsanwalt Horst Mahler in der Wohnung von dessen Freundin mit weiteren Genossen zu geheimen Gesprächen. Sie diskutierten über die Gründung einer Stadtguerilla-Gruppe nach dem Vorbild des brasilianischen Guerilleros Carlos Marighella. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof stießen zu der Gruppe. Grashof erklärte, er sei bereit mitzumachen. Seine Geliebte Petra wurde jedoch als Sicherheitsrisiko gesehen. Als Grashof ihr dennoch die Pläne vom bewaffneten Kampf schilderte, sagte sie: "Ich bin auch dabei."

Manfred Grashof erinnert sich: "Petra war abenteuerlustig und außerdem eine Feministin, bevor es diesen Begriff überhaupt gab." Ihrem Lehrherrn, der ihr unter den Rock gegriffen hatte, wollte sie die Scheiben seines Friseurladens einwerfen. Vor allem aber war sie frustriert darüber, auf Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam und den US-Imperialismus durch die Straßen West-Berlins zu latschen, ohne so verhindern zu können, dass die Amerikaner Tag für Tag in Südostasien weiter Frauen und Kinder umbrachten.

Überhaupt waren Schelm und Grashof sehr pragmatisch veranlagt: Bevor sie in den Untergrund gingen und illegal wären, wollten sie noch unbedingt den Führerschein machen. Als sie beide zweimal durch die Prüfung fielen, fälschten sie sich kurzerhand die Papiere.

Zur Terrorausbildung nach Jordanien

Als eine Gruppe mit Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof am 14. Mai 1970 in West-Berlin den zwischenzeitlich inhaftierten Andreas Baader mit Waffengewalt zur Flucht verhalf, hörte Petra Schelm in ihrer Wohnung den Polizeifunk ab. Es war die erste Aktion der Gruppe, die sich bald Rote Armee Fraktion nannte. Baader kam frei, aber ein Mann wurde bei der Aktion angeschossen und schwer verletzt. Kurz darauf flog Schelm mit der Gruppe nach Beirut, um in einem Lager der Fatah in Jordanien eine militärische Ausbildung zu absolvieren.

Zurück in West-Berlin half sie Grashof beim Fälschen von Dokumenten. Beim "Dreierschlag" - als die RAF zwei Banken und die Bewegung 2. Juni eine Bank zum gleichen Zeitpunkt überfiel - hatte sie ein Flugblatt geschrieben und in einer Bank verteilt. Ihre Genossen, besonders Gudrun Ensslin, waren sauer, weil das nicht abgesprochen war, und Schelm prompt ihre Fingerabdrücke auf dem Flugblatt hinterließ.

Zusammen mit Grashof ging sie nach Hamburg, um dort die Infrastruktur der Gruppe aufzubauen. Dort klauten Baader und Ensslin nachts Autos, und Grashof und Schelm fuhren sie am nächsten Tag nach Worpswede, wo ein Sympathisant eine Werkstatt hatte. Die RAF verfügte damals in Hamburg über mehrere Autos und drei Garagen. Die Autos mussten immer bewegt werden, damit sie nicht der Polizei auffielen.

Tödlicher Schuss mit der Maschinenpistole

Zu dem Fuhrpark zählte ein in Stuttgart gestohlener und mit gefälschtem Hamburger Kennzeichen versehener BMW 2002 ti, der nur noch auf drei Zylindern lief. Am Morgen des 15. Juli 1971 nahmen Petra Schelm und der RAF-Rekrut Werner Hoppe dennoch den Wagen, um Garagen zu besichtigen. Die beiden wussten nicht, dass die Polizei in ganz Norddeutschland unter dem Decknamen "Kora" die bislang größte Fahndungsaktion zur Ergreifung von Mitgliedern der "Baader-Meinhof-Bande" gestartet hatte. Die rund 3000 Beamten hatten es besonders auf BMW abgesehen, die von der Gruppe gerne gefahren wurden und bereits "Baader-Meinhof-Wagen" genannt wurden.

Als das RAF-Duo gegen 14.15 Uhr in der Stresemannstraße in Hamburg-Bahrenfeld an eine Straßensperre der Polizei geriet, trat Schelm aufs Gas statt auf die Bremse. Polizisten nahmen mit zwei Wagen die Verfolgung auf, mit einem Mercedes konnten sie dem BMW der Terroristen den Weg versperren. Schelm und Hoppe flüchteten zu Fuß weiter, bald verfolgt von einem Polizeihubschrauber und 80 Polizisten. Schließlich gab ein Polizist einen tödlichen Schuss mit seiner Maschinenpistole auf Schelm ab. Auf die Frage, warum der Beamte nicht versucht habe, Schelm kampfunfähig zu schießen, antwortete der Hamburger Polizeisprecher: "Waren Sie eigentlich schon mal im Krieg?"

Wie Schelm zu Tode kam, wurde nie wirklich aufgeklärt. Gesichert war nur, dass das tödliche Projektil sie unter ihrem linken Auge traf. Der polizeiliche Todesschütze erklärte, sie habe zuerst geschossen. Ein Schüler, der zehn Meter vom Geschehen entfernt stand, sagte hingegen aus, dass der Polizist ohne Vorwarnung als Erster geschossen habe. Der Beamte wurde nicht angeklagt.

Anzeige
Sontheimer, Michael

"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion

Verlag: Goldmann Verlag
Seitenzahl: 224
Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Petra Schelm war das erste von insgesamt 21 Mitgliedern der RAF, die bis zum Jahr 1999 den bewaffneten Kampf mit ihrem Leben bezahlen sollten. Drei Monate nach ihrem Tod erschoss ein RAF-Mann ebenfalls in Hamburg erstmals einen Polizisten.

Eine RAF-Frau überbrachte Grashof, der in einer konspirativen Wohnung auf seine Geliebte Petra wartete, die erschütternde Nachricht. Er war am Boden zerstört, aber doch stolz, dass sie sich nicht hatte festnehmen lassen, sondern geschossen hatte. Grashof wollte spontan das Polizeirevier angreifen, aus dem der Todesschütze kam. Er schlug vor, ein Polizeiauto vor der Wache anzuzünden und wenn die Polizisten dann herauskamen, mit einem Maschinengewehr draufzuhalten. Doch Andreas Baader stoppte ihn: "Halt mal", sagte Baader, "wir kämpfen gegen den Imperialismus, nicht gegen die Bullen."

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten