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Anne Frank: "Ich will fortleben, auch nach meinem Tod"

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Anne Franks Familie Asyl abgelehnt, Fluchtplan gescheitert

Er schrieb Brief um Brief - ohne Erfolg: Verzweifelt bemühte sich der Vater von Anne Frank um Ausreise-Visa. Doch die USA wollten nur wenige jüdische Flüchtlinge aufnehmen. Eine berührende TV-Doku zeichnet die Etappen des Scheiterns nach.

Anne Frank könnte quicklebendig in Boston, New York oder Miami wohnen. 85 Jahre wäre sie jetzt alt, vielleicht schon Urgroßmutter. Das einst schulterlange schwarze Haar - heute grau oder weiß. Wäre aus ihr eine gefeierte Schriftstellerin oder Journalistin geworden? Bestimmt wäre die junge Anne zu jener emanzipierten Frau gereift, die sie sich in ihrem Tagebuch erträumte. Und den dort allem Grauen zum Trotz aufblitzenden Humor, den hätte sie sich bewahrt.

Doch Anne Frank wurde nur 15 Jahre alt. Sie starb Anfang 1945 im KZ Bergen-Belsen an Typhus. Ihr Tod wäre vermeidbar gewesen: Intensiv und monatelang hatte sich ihr Vater Otto Frank um Visa für die USA bemüht. Das belegen Dokumente, die 2005 per Zufall in einem Depot des "YIVO Institute for Jewish Resarch" entdeckt wurden.

Brief um Brief schrieb der vor den Nazis nach Amsterdam geflohene Frankfurter Kaufmann, um seine Familie vor der NS-Mordmaschinerie zu retten. An Freunde, Verwandte, Behörden. Trotz bester Beziehungen - sein Flehen wurde nicht erhört: Die USA verwehrte den Franks die Einreise, ebenso wie Hunderttausenden anderen jüdischen Flüchtlingen. Eindrücklich zeichnet eine Dokumentation der US-Regisseurin Paula Fouce Otto Franks verzweifelte Versuche nach. "Kein Asyl - Anne Franks gescheiterte Rettung" läuft am Donnerstag erstmals im deutschen Fernsehen.

"Wir sorgen uns vor allem um das Schicksal unserer Kinder"

"Ich bin gezwungen, mich um eine Emigration zu kümmern, und soweit ich sehen kann, sind die USA das einzige Land, in das wir gehen können. […] Du bist der einzige Mensch, den ich fragen kann: Wäre es Dir möglich, eine Kaution zu meinen Gunsten zu hinterlegen? […] Ich würde Dich nicht fragen, wenn die Umstände hier mich nicht dazu zwängen, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um Schlimmeres zu verhindern. […] Wir sorgen uns vor allem um das Schicksal unserer Kinder. Unser eigenes ist weniger wichtig."

Diese Zeilen schrieb Otto Frank am 30. April 1941 an Nathan Straus Junior, Leiter der US-Wohnungsbaubehörde und Sohn des Mitbesitzers der Kaufhauskette "Macy's". Straus und seine Frau Helen pflegten freundschaftliche Beziehungen zu US-Präsident Franklin D. Roosevelt und waren mehr als gewillt, dem langjährigen deutschen Freund zu helfen.

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Anne Frank: "Ich will fortleben, auch nach meinem Tod"

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Frank und der gleichaltrige Straus hatten sich in Heidelberg ein Studentenzimmer geteilt und 1928 gemeinsame Urlaubstage in Sils Maria verbracht. Ihr Kontakt riss auch nach Straus' Rückkehr in die USA nie ab. Neben dem einflussreichen Freund bemühten sich zwei Onkel von Anne Frank in den USA ebenfalls unablässig um ein Visum für ihre Verwandten.

Kino, Schwimmbad, Straßenbahn verwehrt

Otto und Julius Holländer, die Brüder von Annes Mutter Edith Frank, waren 1939 nach Übersee emigriert und schlugen sich als Arbeiter durch. Während sie Bürgschaften für die jüdischen Angehörigen in die Niederlande schickten, kontaktierte Straus unter anderem das "National Refugee Center", die Flüchtlingsbehörde in New York, um die Einreise für die Franks zu erreichen, die in Amsterdam zunehmend antisemitischen Schikanen ausgesetzt waren.

Im Mai 1940 hatte Nazi-Deutschland die Niederlande überfallen und besetzt. Dort mussten sich Anfang 1941 alle Juden registrieren lassen, im Februar kam es zu gewaltsamen Übergriffen und Verhaftungen. Juden wurden sukzessive aus dem öffentlichen Leben verbannt: Sie durften weder ins Theater noch ins Kino, kein Schwimmbad besuchen, keine Straßenbahn benutzen, nicht Rad fahren, abends nicht mehr ausgehen.

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Wie sich Buddy Elias in diesem Video erinnert, wurde Juden sogar das Schlittschuhlaufen verboten. Der 2015 verstorbene Cousin von Anne Frank kommt im Dokumentarfilm ebenso zu Wort wie andere ihrer Weggefährten.

Trotz aller Repressalien schien sich Anne ihr lebensfrohes, vorlautes Wesen bewahrt zu haben. Sie interessierte sich früh für Jungs und musste in der Schule wegen Geschwätzigkeit nachsitzen - so beschreibt sie die Holocaust-Überlebende Eva Schloss, die damals gegenüber der Familie Frank in Amsterdam wohnte, in einem berührenden Statement:

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Ob Anne und ihre zwei Jahre ältere Schwester Margot in die vergeblichen Ausreise-Bemühungen ihres Vaters eingeweiht waren? Seine Asylgesuche versandeten ebenso in der US-Bürokratie wie die Anstrengungen des Freundes Straus und von Annes beiden Onkeln.

"Verzögern und verzögern und verzögern"

Die Emigrationspolitik wurde umso restriktiver, je weiter der Krieg voranschritt. Sie war offenbar getragen von einem fundamentalen Unwillen, Flüchtlinge aufzunehmen. Das zeigt ein internes Memorandum von Breckinridge Long, stellvertretender Staatssekretär im US-Außenamt, im Juni 1940:

"Wir können die Zahl der Einreisenden reduzieren und den Flüchtlingsstrom effektiv stoppen. Wir müssten dazu nur unsere Konsuln veranlassen, [den Antragstellern, Anm. d. Red.] jedes mögliche Hindernis in den Weg zu legen, zusätzliche Unterlagen zu verlangen und sich auf den Verwaltungsapparat zu berufen. Das würde die Vergabe von Visa verzögern und verzögern und verzögern."

Obwohl die Juden in Europa massiv bedroht wurden, wichen die USA nicht von ihrer Quotenregelung ab: Für Deutschland und Österreich war die Obergrenze auf jährlich rund 27.000 Personen festgesetzt. Daran änderte auch die von US-Präsident Roosevelt einberufene Konferenz von Évian im Juli 1938 nichts. Die Vertreter von 32 Nationen waren außerstande, sich auf ein gemeinsames Flüchtlingsprogramm zu einigen - de facto schlossen sie ihre Grenzen.

Die Zahl der jüdischen Flüchtlinge, die in die USA ausreisen wollten, stieg bis Anfang 1939 auf mehr als 300.000 - nur ein verschwindend geringer Teil hatte reelle Chancen. Angst vor möglichen Spionen sowie antisemitische Vorurteile verstärkten in den USA, noch immer mit den Folgen der wirtschaftlichen Depression beschäftigt, die Abneigung gegen Einreisewillige.

Wettlauf gegen die Zeit

Im Sommer 1941 ließen die USA die deutschen Konsulate schließen und zogen bald darauf auch die US-Botschafter und Konsuln aus Deutschland und den besetzten Gebieten ab. Nach und nach schlossen sich die Türen für die Familie Frank. Am 1. Juli 1941 schrieb Nathan Straus seinem Freund Otto:

"Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten. Nur wenn es Dir gelingt, an einen Ort mit einem amerikanischen Konsulat zu gelangen, gibt es überhaupt einen Weg herüberzukommen. Ich habe mir sagen lassen, dass noch Konsulate in Portugal, Spanien, dem unbesetzten Teil Frankreichs und der Schweiz geöffnet sind."

Aber Otto Frank gab sich noch nicht geschlagen. Am 8. September schrieb er: "Der einzige Weg, in ein neutrales Land zu gelangen, sind Visa anderer Staaten wie Kuba." Anne und ihre Schwester mussten nun auf das jüdische Lyzeum wechseln. Am 1. Dezember schien der Durchbruch zum Greifen nah: Anne Franks Vater erhielt tatsächlich ein Visum für Kuba.

Doch zehn Tage später erklärten Deutschland und Italien den USA den Krieg - und das Visum wurde für ungültig erklärt. Otto Frank hatte den Wettlauf gegen die Zeit verloren, das Schicksal der Familie war besiegelt.

"Diese Briefe zu lesen, macht einfach wütend. Man kann nicht böse auf die Bürokraten in den Behörden sein. Sie sind nur kleine Teile einer großen Maschinerie", resümiert Jonathan Brent, Chef des YIVO-Instituts, wo die knapp 80 Seiten starken Dokumente rund um Otto Franks Asylbemühungen entdeckt wurden. Regisseurin Fouce indes zog Parallelen zur Gegenwart: Die Argumente gegen Syrien-Flüchtlinge in den USA erinnerten sie an jene, die damals gegen jüdische Asylbewerber erhoben worden seien, sagte sie Ende 2015 bei der US-Premiere ihrer Doku.

"Ein Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten"

Am 12. Juni 1942 war Anne vor Aufregung schon um sechs Uhr morgens wach - es war ihr 13. Geburtstag. Geschenkt bekam sie eine blaue Bluse, ein Gesellschaftsspiel, Blumen, eine Topfpflanze, eine Flasche Traubensaft. Und: ein rot-grün-weiß kariertes Tagebuch. Ihr erster Eintrag vom 12. Juni:

"Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein."

Drei Wochen später, am 6. Juli 1942, tauchte die Familie im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 unter. Wenn sie sich schon nicht in die USA retten konnten, wollte Vater Frank seiner nun 16-jährigen Tochter Margot den obligatorischen "Arbeitsdienst" in Deutschland ersparen und die Familie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten bewahren. Ohne Erfolg.

Für zwei Jahre blieben die Familien Frank und van Peels sowie Fritz Pfeffer im Hinterhaus unentdeckt. Am 4. August 1944 wurden sie festgenommen, nach Westerbork überstellt und Anfang September nach Auschwitz deportiert - mit dem letzten Transport, der von Holland aus in Richtung des Vernichtungslagers rollte. Gemeinsam mit der Familie Frank musste Lydia Lebovich den Zug nach Auschwitz besteigen. Die Holocaust-Überlebende beschreibt im Video die grauenvolle Fahrt gen Osten:

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Am 6. Januar 1945 starb Anne Franks Mutter Edith in einer Krankenbaracke in Auschwitz. Ihre Töchter Anne und Margot wurden nach Bergen-Belsen deportiert. Dort, im Februar oder März 1945, wenige Wochen vor der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Engländer, starben auch sie: zuerst Margot, dann Anne. Ihre ausgemergelten Körper wurden in Massengräbern verscharrt.

"Im Menschen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung, ein Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten, und solange die ganze Menschheit, ohne Ausnahme, keine Metamorphose durchläuft, wird Krieg wüten, wird alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten und vernichtet, und dann fängt es wieder von vorne an." (Anne FranksTagebucheintrag vom 3. Mai 1944)

Otto Frank, ins KZ Auschwitz deportiert, entging dem Holocaust als Einziger seiner Familie. Nach dem Krieg lebte er zunächst in den Niederlanden, dann bis zu seinem Tod 1980 bei Basel und veröffentlichte das Tagebuch seiner Tochter. Die Dokumentation zeigt, wie überrascht er von Anne Franks Ernsthaftigkeit war:

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Die Filmausschnitte stammen aus dem Film: KEIN ASYL - ANNE FRANKS GESCHEITERTE RETTUNG.

Die Dokumentation ist am Mittwoch, 27. Januar 2016, um 21.45 Uhr auf SPIEGEL GESCHICHTE  auf Sky zu sehen.

Mehr zum Thema in unserem Multimediaspezial zum Kriegsende
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