
Pulverfass Tempelberg - Provokation mit tödlichen Folgen
Scharons Tempelberg-Besuch vor 20 Jahren Der Fels und die Brandung
"Bulldozer" nannte man ihn wegen seiner draufgängerischen Politik. Ariel Scharon wusste genau, was er am 28. September 2000 tat: polarisieren, provozieren, zündeln. Und er wusste, dass er öffentlich das Gegenteil behaupten musste: "Ich bin gekommen mit einer Botschaft des Friedens."
Da war Scharon, damals israelischer Oppositionsführer, schon mit fast 1000 Soldaten und Polizisten martialisch auf den Tempelberg marschiert. Dieser Ort ist wie kein zweiter im sowieso umkämpften Jerusalem überfrachtet mit religiöser und politischer Symbolik. Dort befinden sich mit Felsendom und al-Aksa-Moschee wichtige islamische Stätten - nahe der Klagemauer, dem höchsten jüdischen Heiligtum. Al-Haram al-Scharif, das "Edle Heiligtum", nennen Muslime den Tempelberg; die Aksa-Moschee ist ihre drittwichtigste Pilgerstätte.
Kleinigkeiten genügen hier, um Hass zu schüren und das fragile Nebeneinander von Palästinensern und Israelis nachhaltig zu stören.
Und was Scharon tat, war keine Bagatelle: Auf den Tempelberg marschierte ein Politiker, den viele Palästinenser wegen seiner führenden Rolle im Libanonkrieg 1982 mit den Massakern von Sabra und Schatila für einen Kriegsverbrecher hielten. Verwaltet wird dieser umstrittene Ort zudem von einer arabischen Behörde, der Waqf. Einst stand hier, womöglich an der Stelle des Felsendoms, ein jüdischer Tempel, den religiöse Eiferer genau dort wieder aufbauen wollen.
Die Stunde der Hardliner
Scharons Aktion war also eine symbolische Machtdemonstration. Sie sollte zeigen, wer unanfechtbar die Oberherrschaft in Jerusalem ausübte, einer Stadt von drei Weltreligionen und zwei Völkern, die Israel aber per Gesetz als ewig unteilbar deklariert hat. Scharon schürte Ängste der Muslime, Zugang und Kontrolle über ihre Heiligtümer zu verlieren. Zugleich behauptete er: "Ich glaube, wir können mit den Palästinensern zusammenleben. Ich kam hier an den heiligsten Ort des jüdischen Volkes, um zu sehen, was hier los ist und wie es weitergeht - aber nicht zur Provokation."
Das nahm ihm kaum ein Beobachter ab. Auch die EU erkannte eine "Provokation", fatalerweise in einer Zeit des politischen Stillstands: Nur Monate zuvor waren die weit fortgeschrittenen Friedensverhandlungen von Camp David zwischen Israels Premier Ehud Barak und Jassir Arafats Palästinensischer Autonomiebehörde gescheitert. Gegenseitige Schuldzuweisungen folgten.
Scharons Besuch ließ den Frust in Gewalt umschlagen. Sein Tempelberg-Besuch war nicht die Ursache, aber der Auslöser für die zweite Intifada mit Tausenden Toten in den folgenden fünf Jahren. Die erste Intifada 1987 war noch ein spontaner Aufstand wütender, Steine werfender Jugendlicher. 13 Jahre später trug nun der Konflikt mit Selbstmordanschlägen und Raketenangriffen mitunter kriegsähnliche Züge. Und so lieferte Scharon auch palästinensischen Hardlinern die Steilvorlage, um loszuschlagen - samt griffiger Zuschreibung: Bald war die Rede von der "al-Aksa-Intifada", als schwebe die Moschee selbst in Gefahr.
Arafat, politisch geschwächt, unternahm nichts zur Eindämmung der Gewalt. Schon am Tag nach dem Tempelberg-Besuch gab es die ersten Toten und Hunderte Verletzte. Scharons Kalkül mitten im israelischen Wahlkampf ging auf: Er gewann die Unterstützung der Ultrarechten; die Linke und die Friedensbewegung waren längst zu schwach. Vier Monate später wurde der Likud-Politiker neuer Premier.
Einmal mehr blickte die Welt auf Israel und wunderte sich, wieso der Konflikt in einem so kleinen Land sich auf einem nur 300 mal 500 Meter großen Bergplateau derart verdichten konnte. Klarer wird das erst durch eine Reise tief in die biblische Vergangenheit.
Zutritt nur für den Hohepriester
Etwa in die Zeit König Davids, der nach biblischer Überlieferung das einst verschlafene Nest Jerusalem um 1000 v. Chr. aus strategischen Gründen zur Hauptstadt machte; so konnte er seine Herrschaftsgebiete im Norden und Süden besser verbinden. Zur heiligen Stadt wurde Jerusalem erst unter Davids Sohn Salomo: Der mutmaßliche Bauherr des ersten jüdischen Tempels wählte dafür eine Erhebung, die man bald auch Zionsberg nannte; Zion wurde viel später zum Synonym für Jerusalem - und für die Sehnsucht nach einem jüdischen Staat.
Ungeklärt und doch folgenreich ist die Frage, wo genau auf dem Berg sich der erste (und später zweite) Tempel befand: Lag er auf dem als heilig verehrten Felsen Moriah? Nach altem jüdischen Verständnis verhinderte dieser Felsen wie ein Riegel den Ausbruch der Hölle. Er galt als Platz göttlicher Anwesenheit, als Nabel der Welt und "Schöpfungsstein". Hier soll Abraham Gott seinen Sohn Isaak zum Opfer angeboten haben.
SPIEGEL TV Reportage: Das Pulverfass Tempelberg
Viele Experten vermuten daher, der Felsen müsse vom Allerheiligsten, dem sakralsten Raum des Tempels, überbaut worden sein. Dort soll sich auch die Bundeslade mit den Zehn Geboten befunden haben. Das Allerheiligste durfte nur der Hohepriester einmal im Jahr betreten, am höchsten Feiertag Jom Kippur.
Das alles hat Auswirkungen bis heute, weil 637 n. Chr. Muslime Jerusalem eroberten. Der erste und zweite jüdische Tempel waren da längst zerstört, von den Babyloniern und den Römern. Besonders die letzte Zerstörung 70 n. Chr. wurde zum Trauma für das jüdische Volk, das kurz danach vertrieben wurde und jahrhundertelang in der Diaspora lebte. Von der Tempelanlage blieb nur die westliche Umfassung stehen - die Klagemauer.
Klagemauer oder Burak-Mauer?
Die Sehnsucht nach Jerusalem aber lebte fort. "Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren", heißt es in Psalm 137 der Bibel. "Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke."
Die neuen Herrscher errichteten derweil auf dem Schutt des Tempelberges die Aksa-Moschee und den Felsendom, mit seiner goldenen Kuppel heute das Wahrzeichen Jerusalems. Er ist keine Moschee, sondern ein Schrein, um jenen Felsen zu ehren, der auch den Juden heilig ist. Der Felsen soll nach islamischem Glauben die Welt von einer Höhle abschließen, in der sich die Seelen der Toten treffen. Auch der Islam beruft sich auf Abraham, der als wichtiger Prophet gilt und hier Gott seinen Sohn Ismael als Opfer angeboten habe.

Der Felsen im Felsendom - heilig für Muslime wie auch für Juden
Foto: Thomas Coex / AFPBesonders bedeutsam ist die Legende von der Nachtreise des Propheten Mohammed. Sie wird in einer Koransure nur kurz erwähnt, ist in anderen Quellen aber variantenreich überliefert. Demnach ritt Mohammed eines Nachts von Mekka auf seinem himmlischen Pferd al-Burak zum "fernen Gebetsplatz", der als Ort der Aksa-Moschee interpretiert wird. Er band sein Zauberpferd an einer Mauer fest - angeblich an der Klagemauer, die in der arabischen Welt daher "Burak-Mauer" heißt. Die folgende Himmelfahrt erinnert an die von Jesus. Beim Aufstieg soll der Prophet auf dem Felsen einen Fußabdruck hinterlassen haben, den Pilger dort noch heute zu erkennen glauben.
Die Parallelen zu christlichen und jüdischen Überlieferungen lassen sich als eine Strategie im Wettstreit von Religionen interpretieren: Bestehende Erzählungen und Traditionen werden verändert, umgedeutet, somit gekapert. Mit der Himmelfahrt habe Gott "das Heilige Land mit dem Islam verbinden" wollen, erklärte der Imam der Aksa-Moschee 1996.
"Der Tempelberg ist in unseren Händen"
Der Wettstreit um den Tempelberg nahm eine noch dramatischere Wende. Jüdische Pilger hatten zwar vor der Gründung Israels 1948 Zugang zur Klagemauer. Danach aber stand Ostjerusalem unter jordanischer Kontrolle, das den Staat Israel nicht anerkannte und Gläubige fernhielt.
Mit dem Sieg im Sechstagekrieg 1967 änderte sich das grundlegend: "Der Tempelberg ist in unseren Händen", rief der israelische Kommandeur Mordechai Gur triumphierend den Soldaten via Funk zu, als seine Einheit am 7. Juni 1967 Ostjerusalem erobert hatte. Selbst eher säkulare Juden deuteten den Sieg überwältigt als göttliches Zeichen. "Wir sind an unsere allerheiligsten Stätten zurückgekehrt, um sie nie wieder zu verlassen", sagte Verteidigungsminister Mosche Dayan.

Israelische Soldaten im Juni 1967 nach der Eroberung Ostjerusalems blicken ergriffen auf die Klagemauer - und 40 Jahre später an derselben Stelle
Foto: David Rubinger / AFPDoch die israelische Flagge, die Soldaten stolz auf dem Tempelberg gehisst hatten, ließ Dayan schnell wieder entfernen. Er wollte weder einen politischen Konflikt religiös aufladen noch einen brisanten innerjüdischen Streit weiter befeuern: Ultraorthodoxe Juden sind überzeugt, dass Juden den Berg gar nicht betreten dürfen, da unklar ist, wo genau sich einst das Allerheiligste befand. Sie befürchten, ein Gläubiger könne versehentlich diesen heiligen Ort betreten, entweihen - und damit den göttlichen Zorn auf sich ziehen. Ultraorthodoxe lehnen daher auch den Bau eines dritten Tempels ab. Das könne allein Gott vollbringen.
Nationalreligiöse Juden hingegen wollen dem Werk Gottes etwas nachhelfen, um die endzeitliche Ankunft des Messias zu beschleunigen. "Als wir auf dem Tempelberg ankamen", schrieb 1967 daher Schlomo Goren, Chefrabbiner der israelischen Armee, "habe ich das Schofar-Horn geblasen und mich in Richtung des Allerheiligsten verneigt, wie es üblich war in den Tagen, als der Tempel noch stand." Goren betrat den Felsendom und umrundete den "Schöpfungsstein" mit einer Thora-Rolle.
Dayan verbot so etwas bald, übertrug die Verwaltung über die islamischen Stätten der jordanischen Waqf-Stiftung und sicherte Religionsfreiheit zu. Juden sollten den Tempelberg betreten dürfen, dort aber nicht beten. Für die Klagemauer und die Sicherheit am Berg ist bis heute Israel zuständig.
Ein Magnet für religiöse Eiferer
Polit-Provokateure und religiöse Eiferer haben diese fragile Regelung seitdem vielfach unterlaufen. Am Gedenktag der Zerstörung des zweiten Tempels errichtete Rabbiner Goren 1967 eine provisorische Synagoge zwischen Felsendom und al-Aksa-Moschee und hielt einen Gottesdienst ab. Der Minister für religiöse Angelegenheiten, Zerach Wahrhaftig, betonte, der Berg gehöre rechtlich den Juden und sei für Muslime "nicht so heilig". Auf der anderen Seite behaupteten islamische Gelehrte oft, es fehle jeglicher Beweis, dass dort jemals ein Tempel gestanden habe.
So zog der Tempelberg mit unheilvoller Kraft Verwirrte wie religiöse Fanatiker an: Ein australischer Christ legte 1969 Feuer in der Aksa-Moschee und zerstörte wertvolle Kunstwerke. 13 Jahre später wollte ein US-Amerikaner, Freiwilliger in der israelischen Armee, den Berg "befreien". Er schoss sich den Weg zum Felsendom per Sturmgewehr frei, tötete zwei Menschen und verschanzte sich im Felsendom.
Etliche weitere Verschwörungen wurden seitdem vereitelt und führten zu Unruhen in der muslimischen Welt. So gab es detaillierte Planungen jüdischer Extremisten, den Felsendom zu sprengen. Die verquere Logik: Das würde einen Krieg auslösen und so viele Muslime töten und vertreiben, dass der Ankunft des Messias und dem Anbruch des ewigen Reiches nichts mehr im Wege stünde.
Dieses Reich braucht einen dritten Tempel; für den Bau wirbt seit Jahrzehnten in der Altstadt das "Tempel-Institut" und sammelt Gelder. Eine andere Organisation erstellte vor Jahren für 20.000 US-Dollar ein detailliertes Tempel-Modell und verteilte Fotomontagen: der Berg mit Tempel - ohne Dom und Moschee.
Das sind religiöse Randgruppen, doch auch 20 Jahre nach Scharons Besuch geht der Streit weiter. Der Aktivist Jehuda Glick, der regelmäßig auf dem Berg betet und dort religiöse Zeremonien ausüben will - für Muslime eine Provokation -, wurde 2014 von einem Palästinenser niedergeschossen. Er überlebte schwer verletzt. Zuletzt sorgte im September 2020 eine neu entdeckte Grube für Aufregung. Die Waqf verfüllte sie mit Beton. Religiöse Juden warfen der Behörde daraufhin erneut vor, antike Artefakte zu vernichten: Die Grube könne der Eingang zu einer Höhle aus der Zeit des zweiten Tempels gewesen sein.