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Das eigene Ende inszeniert: Die Scheintoten

Foto: JOEL ROBINE/ AFP

Vorgetäuschte Morde Die Scheintoten

1982 simulierte ein rumänischer Schriftsteller und Dissident seine Entführung und Ermordung. Monate später tauchte er wieder auf. Die Geschichte eines abenteuerlichen Agententhrillers - die plötzlich wieder aktuell ist.

Die Entführer gingen ziemlich dreist vor, so beschrieben es Augenzeugen später. Mitten in Paris, am helllichten Tag des 20. Mai 1982, zerrten vier Männer den rumänischen Dissidenten und scharfzüngigen Schriftsteller Virgil Tanase vor seinem Haus in ein Auto. Mit quietschenden Reifen brausten sie davon.

Als Tanases Frau später ihren Mann zu Hause nicht antraf, meldete sie sich besorgt beim französischen Geheimdienst DST. Sie wähnte ihren Gatten in Lebensgefahr.

Denn noch kürzlich hatte Tanase Rumäniens Diktator Nicolae Ceausescu in einem Artikel für das Pariser Magazin "Actuel" als "Seine Majestät Ceausescu I., kommunistischer König" verspottet. Weiter kritisierte der 37-Jährige, der Diktator bereichere sich systematisch auf Kosten seines Landes. Zwei Jahre zuvor hatte Tanase mit einem Hungerstreik "gegen die Folter in Rumänien" protestiert. Wegen regimefeindlicher Äußerungen war er schon 1966 als Student von der Universität Bukarest geflogen und später ins französische Exil geflohen.

Plötzlich wieder da

Nun also rächte sich Ceausescu. Musste man glauben. Sollte man glauben. Besonders als Tanase monatelang verschwunden blieb. Der Mann schien tot.

Bis er am 31. August 1982 ziemlich lebendig vor die Presse trat, nachdem ein Tag zuvor die Zeitung "Le Matin" die Bombe hatte platzen lassen.

Ausführlich erklärte Tanase nun den staunenden Reportern, was wirklich passiert war: Alles sei nur eine virtuose Inszenierung des DST gewesen. So habe man ihn und jenen rumänischen Auftragskiller schützen wollen, der ihn eigentlich töten sollte - aber zuvor zu den Franzosen übergelaufen war.

Der Fall erinnert frappierend an den des russischen Journalisten Arkadij Babtschenko. Dessen vermeintliche Ermordung hatte am Mittwoch erst die Welt schockierte - und sich dann als Schauspiel entpuppte, für das Babtschenko und die ukrainischen Behörden schon bald heftige Kritik ernteten.

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Das eigene Ende inszeniert: Die Scheintoten

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Noch sind viele Details und Widersprüche ungeklärt. Das könnte auch noch lange so bleiben, wie die vermeintliche Ermordung Tanases 26 Jahre zuvor zeigt. Denn bis heute sind auch in diesem historischen Fall nicht alle Fragen beantwortet.

War etwa der damalige Staatspräsident François Mitterrand überhaupt von Beginn an in die Operation eingeweiht? Aufgebracht drohte Mitterrand nach dem Verschwinden Tanases mit ernsten Konsequenzen und sagte später einen geplanten Rumänien-Besuch brüsk ab. Oder spielte der Präsident nur klug mit?

Die Journalisten Jacques-Marie Bourget and Yvan Stefanovitch bezweifeln, dass Mitterand sofort Bescheid wusste. In ihrem Buch "Des affaires très spéciales" haben sie sich mit dem Fall Tanase und anderen Operationen des DST in den Achtzigern beschäftigt. Demnach gibt es noch eine Parallele zu Babtschenko, den seine Frau angeblich völlig unwissend in einer Lache Blut gefunden haben soll. Auch Tanases Frau ahnte offenbar nichts und musste glauben, ihr Mann sei verschleppt und wahrscheinlich ermordet worden.

"Große Komödie"

"Sie spielte die Rolle der besorgten Ehefrau noch perfekter", schreiben Bourget und Stefanovitch, "weil sie nicht wusste, was aus ihrem Mann geworden ist und dass gerade eine große Komödie aufgeführt wurde." Nur Tanases zwei beste Freunde, Kollegen von der Zeitschrift "Actuel", wussten Bescheid. Sie schwiegen eisern. Tanases Frau wurde offenbar erst später eingeweiht.

Die "große Komödie" ins Rollen gebracht hatte1982 Matei Pavel Haiducu, Offizier im gefürchteten rumänischen Geheimdienst Securitate. Schon ein Jahr zuvor hatte er aus Bukarest den Befehl erhalten, Virgil Tanase und Paul Goma zu liquidieren. Goma war ein weiterer bekannter rumänischer Schriftsteller und Kritiker Ceausescus, der seit 1977 in Paris lebte.

Er wusste, dass er in Gefahr war. Noch kurz vor seiner Ausreise hatte ihm Rumäniens Polizeichef Plecita zugeraunt: "Der lange Arm der Revolution wird dich erreichen, wo immer du auch bist."

Agent mit Gewissen

Haiducu sollte das fünf Jahre später umsetzen - mit Gift, das er aus Bukarest mitgebracht hatte. Der Spion war da aber schon selbst auf dem Radar der französischen Sicherheitsdienste. Ein "sehr auffälliges Verhaltensmuster", so schreiben Bourget und Stefanovitch, habe ihn zum "perfekten Verdächtigen" gemacht: Demnach wechselte Haiducu ständig das Taxi und verließ die Metro immer kurz bevor sich die Türen schlossen. Als er damit konfrontiert wurde, packte er aus und enthüllte auch die Mordpläne sofort. Aus Gewissensgründen habe er sie nicht ausführen wollen, betonte er. "Ich habe mich geweigert zu töten", betitelte er später seine Autobiografie.

Um den Überläufer zu schützen und den rumänischen Geheimdienst zu täuschen wurden nun zum Schein beide Mordkomplotte ausgeführt. Der DST überredete die zögernden Goma und Tanase, tapfer mitzuspielen.

Also spritzte Haiducu bei einem Empfang im Mai 1982 das Gift mit einer Spritze in Form eines Kugelschreibers in Gomas Glas. Ein DST-Agent, der neben dem Schriftsteller stand, stieß Goma sofort so an, dass der das Glas scheinbar versehentlich umkippte. Haiducu meldete das Missgeschick gespielt dienstbeflissen nach Bukarest.

Als dann aber Tanase spurlos verschwand, glaubte die Securitate, zumindest ein Anschlag sei tatsächlich gelungen. In Wahrheit versteckte sich Tanase damals, gut bewacht, in einem Haus in der Bretagne.

Haiducu flog nach Rumänien, wo er feierlich für seinen vermeintlichen Mord geehrt und mit einem Orden ausgezeichnet wurde. Ganz nebenbei erreichte er auch sein eigentliches Ziel: Zur Belohnung durfte er mit seinem Bruder eine Reise in den Westen unternehmen. So floh der Überläufer ganz legal mit seinem Bruder, den er damit vor späteren Repressionen des Regimes bewahren wollte. Und der DST konnte endlich stolz seinen Coup öffentlich machen.

Auf einer Pressekonferenz berichteten Tanase, Goma und Haiducu von der Täuschung. Der Spion, damals nur "M.Z." genannt, musste nach der PK durch einen Hinterausgang hinausgeschleust werden, um den Journalisten zu entkommen, schreiben Bourget und Stefanovitch. Einen Fotografen, der ihn dennoch mit einem Motorrad verfolgen konnte, stoppte erst eine Straßensperre, die DST-Männer errichtet hätten.

Die französische Regierung bestätigte sofort die unglaubliche Geschichte. Die rumänische Botschaft in Paris aber wies empört alle Mord-Vorwürfe zurück. Rumänien habe mit so etwas "absolut nichts" zu tun.

Kein Einzelfall - berühmte Scheintote

Haiducu musste am besten wissen, was von solchen Beteuerungen zu halten war. Er lebte fortan unter einem neuen Namen in der Normandie, heiratete eine Französin, starb aber schon 1998 mit erst 50 Jahren.

Der lange totgeglaubte Virgil Tanase, den er einst umbringen sollte, lebt hingegen heute noch.

Seine Geschichte ist längst kein Einzelfall. Denn immer wieder haben Menschen ihren Tod vorgetäuscht, mitunter flog der Schwindel erst nach Jahren durch einen Zufall auf.

Manche wollten einfach der Polizei entgehen oder mit einer jungen Geliebten durchbrennen. Andere sich einen makaberen Scherz erlauben oder einfach mal testen, wie es auf ihrem eigenen Leichenschmaus zugeht - und ob die Witwe dort auch ordentlich Tränen vergießt.

Lesen Sie hier die abenteuerlichen und berührenden Geschichten dieser Scheintoten, zu denen auch ein führender britischer Politiker, ein berühmter Pianist und bekannte Schriftsteller wie Agatha Christie und Ken Kesey ("Einer flog übers Kuckucksnest") gehören.

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