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Attentat in der Kunstszene: Durch einen Schuss zum Superstar

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Z1030 Federico Gambarini/ dpa

Attentat auf Andy Warhol "Der Mann ist eine biologische Katastrophe"

"Valerie! Tu's nicht!" Am 3. Juni 1968 versuchte die Radikalfeministin Valerie Solanas, den New Yorker Künstler Andy Warhol zu erschießen. Dank des Attentats explodierten die Preise für seine Arbeiten. Er wurde zum Superstar der Pop Art - sie obdachlos.

Der 3. Juni 1968 war ein Montag. Bevor Andy Warhol sein Haus in New York verließ, sprach er mit seiner Mutter ein Gebet. Er ging bei seinem Anwalt vorbei, dann bei seinem Arzt; nachdem der einkaufssüchtige Künstler noch durch Bloomingdale's gebummelt war, ließ er sich mit einem Taxi nach Downtown fahren.

Der hagere Mann mit der silberfarbenen Perücke, dessen Eltern aus der Slowakei eingewandert waren, stieg am Union Square aus. Das Haus mit der Nummer 33 beherbergte seine Factory, eine Künstlerkommune, deren Protagonisten Filme machten, Underground-Musik, Pop Art - und jede Menge Drogen nahmen. Warhol ließ sich von Ausgeflippten aller Art inspirieren. Seine Freunde nannten ihn "Drella", eine Mixtur aus Dracula und Cinderella. Vor der Tür traf er nicht nur seinen Freund Jed Johnson, sondern auch eine 32 Jahre alte Bekannte namens Valery Solanas. Zu dritt fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die Fabriketage hinauf.

"Auf den Boden!"

Ein paar Minuten später - Warhol hatte gerade mit Viva telefoniert, dem Star seiner letzten Filme - zog Solanas einen Revolver des Kalibers .32 aus einer Papiertüte und zielte auf ihn. Niemand beachtete sie weiter - bis sie den ersten Schuss abfeuerte.

Während einer der Factory-Männer "Auf den Boden!" brüllte und ein anderer dachte, in dem Büro der Kommunistischen Partei zwei Etagen höher sei eine Bombe hochgegangen, sprang Warhol auf und schrie Solanas an: "Nein! Nein! Valerie! Tu's nicht!"

Sie schoss ein zweites Mal, Warhol ließ sich unter den Schreibtisch fallen, doch jetzt kam sie näher, zielte genauer und feuerte den dritten Schuss ab. Er traf Warhol in die Brust.

Der Künstler spürte, so erzählte er später, "einen schrecklichen Schmerz, als ob ein Knallkörper in mir explodiert wäre." Warhol wälzte sich schreiend auf dem Boden. "Es tat so weh, dass ich am liebsten tot gewesen wäre."

Valerie Solanas versuchte, noch einen vor ihr knienden und um Gnade flehenden Assistenten Warhols zu erschießen, doch der Revolver hatte Ladehemmung. Gut drei Stunden nachdem sie Warhol niedergeschossen hatte, ging sie am Times Square auf einen Polizisten zu, der dort den Verkehr regelte. Sie sagte "die Polizei sucht mich", übergab ihm zwei Revolver und ließ sich festnehmen.

Sirene anwerfen kostet extra

Es hatte 15 Minuten gedauert, bis die Ambulanz gerufen und zwei Sanitäter in der Factory erschienen waren. Im Rettungswagen erklärte der Fahrer, dass er die Sirene anwerfen könnte, das würde aber 15 Dollar extra kosten. Im Krankenhaus fühlte sich einer von Warhols Freunden bemüßigt, dem Operationsteam zu erklären: "Das ist Andy Warhol. Er ist berühmt. Er ist auch reich. Er kann jede Operation bezahlen. Um Himmels Willen, tun Sie etwas."

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Sechs Minuten nach der Ankunft im Krankenhaus war Warhol klinisch tot, doch der Chirurg öffnete seinen Brustkorb und brachte ihn mit einer Herzmassage wieder ins Leben zurück. Nach einer fünfeinhalbstündigen Operation war sich der Arzt nicht sicher, ob er die Nacht überleben würde. Auf der Spätausgabe der "New York Post" prangte die Schlagzeile: "Andy Warhol fights for life."

Valerie Solanas erklärte dem Untersuchungsrichter: "Warhol hat mich total blockiert. Er wollte mir etwas antun, was mich zerstört hätte." Es sei richtig gewesen, was sie getan habe, schrie sie den Richter an. "Ich habe nichts zu bereuen."

Die Gesellschaft für das Schlachten von Männern

Solanas war Gründerin und einziges Mitglied einer radikalfeministischen Gruppe namens S.C.U.M. - was Abschaum heißt und gleichzeitig die Abkürzung für "Society for cutting up men" war - "Gesellschaft für das Schlachten von Männern".

Sie hatte ein "S.C.U.M.-Manifesto" verfasst. Darin hieß es: "Heute ist es technisch möglich, sich ohne die Hilfe der Männer [...] zu reproduzieren und ausschließlich Frauen zu produzieren. Wir müssen sofort damit beginnen. Der Mann ist eine biologische Katastrophe: Das männliche y-Gen ist ein unvollständiges weibliches x-Gen, das heißt, es hat eine unvollständige Chromosomstruktur. Mit anderen Worten, der Mann ist eine unvollständige Frau, eine wandelnde Fehlgeburt, die schon im Genstadium verkümmert ist. Mann sein heißt, kaputt sein; Männlichkeit ist eine Mangelkrankheit, und Männer sind seelische Krüppel."

Folgerichtig forderte die paranoide Feministin die vollständige Ausrottung des männlichen Geschlechts und schlug die Einrichtungen von Selbstmord-Zentren vor, in denen einsichtige Männer dann "unauffällig, schnell und schmerzlos vergast" werden sollten.

"Als ob man mit einem Stuhl redet"

Solanas war keine Unbekannte in der Factory. Als sie das erste Mal in der Kunstkommune aufgetaucht war, hatte sie Warhol vorgeschlagen einen Film mit dem Titel "Up Your Ass" zu drehen. Warhol gefiel der Titel sehr, aber als er das Drehbuch las, fand er es so obszön, "dass ich dachte, sie sei von der Polizei und wollte uns reinlegen." Solanas war des öfteren vorbeigekommen und hatte um Geld gebeten. Schließlich bot Warhol ihr an, für 25 Dollar eine Rolle in dem Film "I, a man" zu übernehmen.

Nachdem sie sich der Polizei gestellt hatte, erklärte sie zu den Motiven ihres Mordversuchs auch, sie habe die degradierende Darstellung von Frauen in Warhols Filmen rächen wollen. Bevor sie auf ihn schoss, hatte sie über ihn gesagt, er sei ein Aasgeier und ein Dieb. "Mit ihm zu reden ist so, als ob man mit einem Stuhl redet."

Die New Yorker Sektion der feministischen National Organisation of Women, NOW, unterstützte Solanas. Sie wurde wegen Körperverletzung, illegalen Waffenbesitzes und versuchten Mordes angeklagt und zu drei Jahren Haft verurteilt, die sie in der Psychiatrie absaß. "Man kriegt schon mehr, wenn man ein Auto klaut", empörte sich der ehemalige Factory-Musiker Lou Reed. "Meines Erachtens spiegelt das Urteil den Hass der Gesellschaft auf Andy Warhol wider."

Kunst im Korsett

Viele Journalisten nutzten das Attentat, um mit Warhol abzurechnen. Unter der Überschrift "Felled by Scum" - "Vom Abschaum erledigt", wurde er vom "Time Magazine" als Person beschrieben, die "seit Jahren jede Form von Ausschweifung zelebrierte. Der König der Pop Art war der blonde Guru einer alptraumhaften Welt, der Entartetes fotografierte und als Wahrheit deklarierte."

Warhol wurde nach knapp zwei Monaten aus dem Krankenhaus entlassen und stürzte sich sofort wieder in die Arbeit. Doch das Attentat hinterließ tiefe Spuren. Der einstige Nachtmensch ging nun meist früh nach Hause. Und er hatte stets Angst, dass erneut ein Verrückter versuchen könnte, ihn zu ermorden.

Warhol musste fortan ein medizinisches Korsett tragen, aber ließ sich darin gleichwohl malen und von dem Modefotografen Richard Avedon mit seinen Narben fotografieren. "Ich sah aus wie ein Dior-Kleid", sagte Warhol, "nein, wie ein Yves-Saint-Laurent-Kleid, lauter Nähte."

Der Kunstmarkt reagierte auf das Attentat mit einem Zynismus, der Warhol nicht fremd war. Die Schüsse auf ihn machten ihn zum Superstar der Pop Art. Bilder, die zuvor für 200 Dollar zu haben waren, wurden jetzt für mehr als 15.000 Dollar verkauft. Seine Kunst wurde omnipräsent und er erlangte das, was ihn mehr interessierte als alles andere: Ruhm.

Über Solanas, die 1985 in einem Obdachlosenasyl in San Francisco starb, sagte er: "Ich habe keinen Groll gegen sie. Wenn man einen anderen Menschen verletzt, weiß man nie, wie weh es tut."

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