Augenblick mal Der totale Blick nach hinten

Wozu braucht man fast drei Dutzend Rückspiegel, dazu noch 81 Lampen? Schlechte Augen, Angst vor Verfolgung? Die Geschichte eines Vespa-Fahrers, der eigentlich viel zu spät dran war.
Foto: Mirrorpix/ Getty Images

Der junge Mann wirkt ein wenig unsicher. Die 17 Rückspiegel an jeder Seite seines Motorrollers machen den Eindruck, als wolle er den toten Winkel ein für alle Mal überlisten. Und dann die Scheinwerfer: Wie finster konnte es denn werden in der englischen Grafschaft Leicestershire? Im Juli 1983?

Das war der Sommer, in dem Bilder von Bryn Owen, 17, und seiner Vespa durch die britischen Medien gingen. Wobei vom Roller selbst wenig zu sehen war, angesichts einer nicht minder üppigen Zahl an Vorder- und Rücklichtern. Und wegen des Leopardenfelldekors.

So ein Exot! Was die Briten indes erstaunte oder erschreckte, war nicht so sehr Bryns Aussehen und das seiner Maschine. Viel mehr war es der Zeitpunkt seines Erscheinens.

Denn Bryn kam spät. Für dieses Outfit eigentlich sehr spät. Ungefähr 20 Jahre zu spät.

So lange war es her, dass Jugendliche wie Bryn Londons Straßenbild aufgemischt hatten. Es waren "Mods", abgeleitet vom Begriff "Modernists". Junge Leute, die auf Modern Jazz standen und sich auch sonst nach Kräften von ihrem Umfeld zu distanzieren suchten: Sie trugen Bürstenhaarschnitt, Wildlederboots und maßgeschneiderte Anzüge im Italian Style. Passend dazu fuhren sie italienische Roller - Lambretta oder Vespa - üppig aufgemotzt und glänzend verchromt. Ein Vehikel, das mit all seinen Spiegeln und Lichtern das Motto vom Sehen-und-Gesehen-Werden mehr als versinnbildlichte. Um den guten Anzug nicht zu beschmutzen, machten sie zudem den Militär-Parka populär.

Sie machten Badeorte zu Kleinholz

Die Edellook-Abgrenzung manifestierte sich nicht zuletzt gegenüber einer anderen Jugendbewegung jener Zeit, den "Rockers": Motorradfahrer in schwarzen Lederkluft, die Haare pomadisiert zur Tolle gestylt - Rockabilly-Schick. Die Rockers galten als Landeier, zumindest als Vorstädter.

Es kam der Tag, da standen sie sich gegenüber. Im Mai 1964 berichteten die BBC-Nachrichten von gewaltsamen Ausschreitungen im südenglischen Badeort Brighton und an weiteren Stränden. Das "Hamburger Abendblatt" meldete die zweite "Schlacht bei Hastings" - in Anspielung auf den historischen Sieg der Normannen unter Herzog Wilhelm dem Eroberer 1066 über die Angelsachsen: "898 Flegeljahre später tauchten als Eroberer Englands rivalisierende Jugendbanden, die Mods und die Rockers, auf, um den Badeort zu Kleinholz zu machen. Sieger der Schlacht bei Hastings 1964 war jedoch die Polizei. Tausend Jugendliche wurden verhaftet."

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Augenblick mal!: Die Invasion der Rollerfahrer

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Die Sonn- und Feiertagsausflüge der motorisierten Gangs waren eskaliert. Es kam zu Massenprügeleien von bis zu 5000 Teilnehmern. Urlauber und Anwohner ergriffen die Flucht. Es dauerte nicht lange, da meldeten sich britische Unterhaus-Abgeordnete zu Wort und forderten den Einzug der Beteiligten zum Militärdienst. Weitere Straf-Vorschläge betrafen "körperliche Züchtigung, die Einrichtung von Jugendlagern" und "die Einführung eines Arbeitsdienstes in Bergwerken".

Es ging dann doch ohne all dies. Ende der Sechzigerjahre ebbte die Mod-Welle ab. Im kollektiven Gedächtnis blieben skurrile Bilder von Strandschlachten mit Liegestühlen.

"Quadrophenia" als Vorbild

Und dann waren sie plötzlich wieder da: Mods mit aufgemotzten Rollern, Jugendliche, die aussahen wie Bryn Owen. Auslöser sei ein Film gewesen, erzählte Owen später. Er hatte ihn 1981 gesehen und von da an nur noch Roller in seine Schulbücher gekritzelt. Ein Jahr später, mit 16, bekam er dann selbst seine erste Vespa, mit 50 Kubikzentimetern.

"Quadrophenia" hieß der Film, kam 1979 ins Kino und erzählt die Geschichte eines Jungen, der eigentlich nicht zum Helden taugt: lange Nase, große Ohren, blasse, dürre Erscheinung. Ein verunsicherter Jugendlicher, der als Bürobote einer Werbeagentur jobbt und bei dem Mädel, das er mag, gleich wieder abblitzt. Nur in seiner Clique, als Mod, da fühlt sich Jimmy wohl.

Der Film basiert auf einem Album der Band The Who aus dem Jahr 1973, das die Ereignisse von Brighton als Erlebnisse eines 16-jährigen Mods nacherzählt. Die Wortschöpfung "Quadrophenia" ist eine Abwandlung von "Schizophrenia", die Hauptfigur ringt in ihrem Inneren mit vier Persönlichkeiten. Pete Townshend, Kopf der Band, skizzierte damit zugleich die Wurzeln von The Who im London der frühen Sechzigerjahre.

Größerer Motor, schon wegen der vielen Spiegel

Die Probleme und Empfindungen beim Übergang zum Erwachsenwerden waren immer noch die gleichen. Was viele Briten Anfang der Achtziger überraschte, war deshalb wohl weniger die schrille Erscheinung von Jugendlichen, die im Nadelstreifenanzug auf Rollern mit unzähligen Spiegeln und Scheinwerfern saßen. Es war wohl mehr das Bewusstsein, dass da in der Zwischenzeit eine neue Generation herangewachsen war.

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Bald nach seiner ersten Vespa hatte Bryn eine neue. Diesmal eine stärkere mit 100 Kubik, damit die Maschine auch all das Zeug tragen konnte, das er daran baute. Für einen Fernsehauftritt in einer BBC-Jugendsendung transportierte er sein Schmuckstück vorsichtshalber mit der Bahn.

Nicht lange danach, so schrieb Bryn Owen 2015 in einem Blog, habe er seinen Roller in einen Straßengraben gesetzt und danach in Einzelteilen nach Hause tragen müssen. Noch einmal baute er eine Vespa neu auf und verkaufte sie anschließend für gutes Geld. Danach habe er sich ein "anständiges Auto" leisten können.

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