
Todesmarsch der Auschwitz-Häftlinge "Rechts und links war alles voll mit Leichen"

- • Auschwitz-Bildband: "Der Ort ist noch da, die Menschen sind es nicht mehr"
- • Auschwitz: Opfer, Täter, Aufarbeitung - ein Überblick
Nur sechs Tage fehlten ihnen zur Rettung durch die Rote Armee. Sechs Tage, die über Befreiung oder Verschleppung entschieden, über Leben und Tod.
Am 21. Januar 1945 marschierten Häftlinge aus dem Konzentrationslager Auschwitz zu Tausenden eine vereiste Landstraße entlang. Ihre Körper waren abgemagert, die blau-grau gestreiften Mäntel schützten sie kaum vor der kalten Winterluft. Viele trugen einfache Holzschuhe, die Füße mit Zeitungspapier umwickelt. Socken hatte fast niemand.
SS-Männer folgten ihnen und trieben die Häftlinge ohne Pausen und Proviant Kilometer um Kilometer nach Westen. Wer stürzte oder zurückfiel, wurde von Exekutionskommandos erschossen. Werner Bab, 20, ging im hinteren Teil des Todeszugs. Nach dem Krieg sagte der jüdische Berliner einem Dokumentarfilmer: "Rechts und links war alles voll mit Leichen. Frauen, Kinder, Männer, es waren nur Leichen."
Die Erinnerung an dieses Verbrechen ist wichtig. Denn oft enden die Darstellungen über Auschwitz mit dem 27. Januar 1945. An diesem historischen Tag konnte die Rote Armee das Lager endlich befreien - seit 2005 ist es der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.
Auschwitz ist der Inbegriff der Todesfabriken der Nationalsozialisten. Die Freiheit erlangte am 27. Januar jedoch nur ein Bruchteil der 67.000 Menschen, die dort noch wenige Tage zuvor eingesperrt waren. Fünf Sechstel der Auschwitz-Häftlinge, Männer wie Werner Bab, blieben nämlich weiter in der Gewalt der SS. Sie wurden monatelang weiter gequält und Tausende von ihnen ermordet.
Im Frühjahr 1940 hatte die Geschichte des heute bekanntesten KZ begonnen; dort wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen vergast, erschossen und zu Tode geschunden . Knapp ein halbes Jahr nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen legte SS-Reichsführer Heinrich Himmler den Standort für ein neues Konzentrationslager in den besetzten Gebieten fest: ein altes Kasernengelände in Südpolen in der Nähe einer Eisenbahnstrecke und mehrerer Kiesgruben. Benannt wurde das KZ nach dem deutschen Namen der benachbarten Stadt Oswiecim - Auschwitz.
Im Mai 1940 zwangen SS-Angehörige die ersten Häftlinge, die Baracken der Kaserne aufzustocken, einen Krankenbau zu mauern und Wachtürme zu errichten. Danach entstanden weitere Lager in der direkten Umgebung, darunter das KZ Auschwitz-Birkenau, größtes Vernichtungslager der Nazis, und das KZ Monowitz, angrenzend an ein riesiges Werksgelände des Chemiekonzerns I.G. Farben.
In den ersten Monaten nach der Errichtung leisteten im Stammlager Auschwitz vor allem polnische Kriegsgefangene und politische Häftlinge Zwangsarbeit. Von Anfang an starben viele an Unterernährung, Krankheiten, Erschöpfung und Misshandlungen, wurden erschossen oder erschlagen. Mit diesen furchtbaren Umständen war Auschwitz zunächst eines unter vielen Zwangsarbeitslagern im Machtbereich der Nazis.
Das änderte sich im März 1942: Auschwitz-Birkenau wurde zum Vernichtungslager; schon zuvor hatten die Nazis im Stammlager Auschwitz erste Vergasungen durchgeführt. Fortan verschleppten sie massenhaft Juden aus Europa nach Polen und Weißrussland, um sie dort zu töten. Damit systematisierten sie den Völkermord, der vorher mit Giftgas-Experimenten und Massakern begonnen hatte. In Auschwitz-Birkenau baute die SS zwei alte Bauernhäuser zu Gaskammern um und errichtete danach weitere Krematorien.
1942 wurde auch Werner Bab, damals 17, nach Auschwitz deportiert, als Häftling mit der Nummer 136857. Anders als Hunderttausende andere Juden schickte die SS ihn nicht sofort in die Gaskammer, sondern kommandierte ihn zur Zwangsarbeit. In Kiesgruben, Bergwerken und Fabriken sollten Häftlinge wie Bab mittelfristig "durch Arbeit vernichtet" werden.
Während die Nazis Auschwitz immer weiter ausbauten und das Morden perfektionierten, geriet das Dritte Reich spätestens nach der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 militärisch in die Defensive. Die Rote Armee rückte vor, überquerte im Sommer 1944 die Weichsel und stand bald weniger als 250 Kilometer vor Auschwitz.
Die SS verlagerte nun etwa die Hälfte der damals etwa 140.000 Häftlinge mit Viehwaggons nach Westen, vor allem in die Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, Flossenbürg in der Oberpfalz sowie Mittelbau-Dora im Harz.
Als die Rote Armee am 12. Januar 1945 ihre Winteroffensive startete, waren noch rund 67.000 Gefangene in Auschwitz. Auch sie wollte die SS deportieren, doch für einen solchen Massentransport reichte die eingleisige Bahnverbindung ins Lager nicht aus.
Daher teilte die SS die etwa 58.000 marschfähigen Gefangenen in Gruppen ein, um sie zu Fuß zu Eisenbahnknoten im 50 Kilometer entfernten Gleiwitz und im 60 Kilometer entfernten Loslau zu treiben. 15.000 Häftlinge mussten von dort noch 200 Kilometer weiter ins KZ Groß-Rosen marschieren. Auf der Strecke begegneten ihnen deutsche Zivilisten, die vor der Roten Armee flüchteten - die Todesmärsche waren für die Bevölkerung sichtbar.
Zeitgleich vernichtete die SS belastende Dokumente und brannte Gebäude ab, um Spuren des Massenmords zu verwischen. Drei der vier Krematorien in Birkenau hatten die Nazis schon im November 1944 demontiert; sie sollten im österreichischen KZ Mauthausen wieder aufgebaut werden. Das letzte sprengten sie in der Nacht zum 26. Januar 1945. Eigentlich sah der Plan die Ermordung der marschunfähigen Häftlinge und die Beseitigung ihrer Leichen vor, doch dazu kam es nicht.
Einen Tag nach der Sprengung erreichte die Rote Armee Auschwitz und versorgte die etwa 8600 Häftlinge, die im Lagerkomplex geblieben waren und bis dahin überlebt hatten. Hunderte von ihnen waren so schwach, dass sie in den folgenden Tagen trotzdem starben.
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Die Todesmärsche dauerten derweil an. Wer die Bahnhöfe erreichte, wurde in offene Viehwaggons verladen, die Züge fuhren stundenlang durch die Kälte. Viele der ohnehin schon stark unterkühlten Insassen erfroren auf der Strecke.
"Diese Tage waren für mich die schrecklichsten in meinem Leben", berichtete später ein Insasse von Mittelbau-Dora, der die Toten aus den Waggons heben musste. "Wenn wir die Toten anfassten, so blieben uns öfter Arme, Beine oder Köpfe in den Händen, da die Leichen gefroren waren." Die SS verbrannte die Körper auf einem Scheiterhaufen aus Dachpappe und Bahnschwellen. Wie viele Menschen bei diesen Todesmärschen aus Auschwitz starben, lässt sich kaum rekonstruieren; Schätzungen gehen von 9000 bis zu 15.000 Toten aus.
Den Auschwitz-Häftlingen, die all dies überstanden hatten, drohte hernach die "Vernichtung durch Arbeit" in anderen Lagern. In Mittelbau-Dora etwa mussten sie in unterirdischen Stollen Raketenteile für die vermeintliche Wunderwaffe V2 fertigen.
Mit den Häftlingszügen kamen auch SS-Männer von Auschwitz ins Lager und verschärften dort den Terror: An manchen Tagen wurden Dutzende Häftlinge gleichzeitig an einem Kran erhängt, wie der frühere Leiter der örtlichen Gedenkstätte berichtete. "War Auschwitz die heiße Hölle gewesen, so war Dora die kalte Hölle", schrieb ein ehemaliger Häftling später.
Im April 1945 rückten US-Verbände nach Mittelbau-Dora vor. Die SS schickte viele KZ-Zwangsarbeiter auf weitere Todesmärsche nach Norden. Immer wieder griffen SS-Männer, Hitlerjungen und Volkssturmeinheiten die Häftlinge an. Bei Gardelegen trieben sie die Gefangenen in eine Scheune und zündeten sie an. Wer flüchten wollte, wurde erschossen. US-Soldaten fanden dort später 1016 Leichen.
Dieses Massenmorden war kein unsichtbares Werk in fern liegenden Tötungsfabriken in den Ostgebieten, sondern fand sichtbar mitten im NS-Reich statt. Viele Deutsche wurden in diesen Wochen zu Zeugen oder Tätern.
Von den rund 58.000 Häftlingen, die im Januar in Auschwitz losmarschiert waren, erlebten viele das Kriegsende nicht. Werner Bab aber hatte es geschafft, erst Auschwitz, dann die Todesmärsche und weitere Konzentrationslager zu überleben. Am 6. Mai 1945, zwei Tage vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs, wurde er von US-Soldaten befreit.
Und doch blieb er bis zu seinem Tod im Juli 2010 ein Gefangener seiner Erlebnisse. Seine Erinnerungen an die NS-Zeit überschrieb er er einst so: "Gestorben bin ich in Auschwitz."
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Tor zur Hölle: Im KZ Auschwitz ermordeten die Nazis mindestens 1,1 Millionen Menschen. Die Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 wird daher seit 2005 als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust begangen. Für viele Auschwitz-Häftlinge war das Leiden aber nicht beendet: Die SS hatte Zehntausende noch kurz vor der Befreiung auf Todesmärsche Richtung Westen getrieben.
SS Reichsführer: Den Befehl über die Konzentrationslager hatte Heinrich Himmler (vorn rechts). Das Bild entstand, als er 1942 Auschwitz besuchte. Zwei Jahre zuvor war das KZ Auschwitz auf einem alten Kasernengelände in Südpolen errichtet und stetig ausgebaut worden. Auschwitz-Birkenau wurde zum größten der von den Deutschen errichteten Vernichtungslager.
Chemiegigant: Die Häftlinge wurden zur Arbeit auf Feldern, in Steinbrüchen und Kiesgruben gezwungen. Manche mussten in der Fabrik der IG Farben arbeiten, die im Lagerteil Auschwitz-Monowitz (Bild) Synthesekautschuk herstellte.
Eingepfercht: Viele Häftlinge starben an Erschöpfung, Unterernährung und Gewalt durch die SS-Mannschaften. In den überbelegten Baracken breiteten sich zudem tödliche Krankheiten aus (undatiertes Foto aus Auschwitz-Birkenau).
Selektion: 1942 baute die SS in Auschwitz-Birkenau ein Vernichtungslager für Juden aus fast ganz Europa. Wenn die Deportierten im Lager ankamen, mussten sie sich auf einer Rampe aufstellen (Foto). Dann entschieden SS-Angehörige, ob sie vergast werden oder Zwangsarbeit leisten sollten.
Ohne Gnade: Auf ältere Frauen und Kinder wurde in Auschwitz keine Rücksicht genommen. Als Arbeitskraft - eine Chance zu überleben - kamen sie kaum in Frage. Dieses Foto aus dem Archiv eines SS-Mannes zeigt vermutlich eine Familie, die zu einer Gaskammer geführt wird.
Menschenversuche: Der KZ-Arzt Josef Mengele nutzte Auschwitz-Häftlinge für seine menschenverachtenden medizinischen Experimente. Auf dieser Aufnahme von 1944 posierte er links neben den Lagerkommandanten Rudolf Höß und Josef Kramer und einem Unbekannten.
Feierabend: Etwa 4000 SS-Angehörige bewachten und quälten die Häftlinge in Auschwitz. In ihrer Freizeit amüsierten sich die Wachmannschaften in einem SS-Erholungsheim in der Nähe (Foto von 1944). Das ist aus dem privaten Fotoalbum von Karl Höcker, dem Adjutanten des letzten Lagerkommandanten Richard Baer. Die Fotos zeigen
Vormarsch: Nach ihrem Sieg bei Stalingrad im Winter 1942/1943 zog die Rote Armee nach Westen und begann im Januar 1945 ihre Winteroffensive. Das Foto entstand kurz vor Budapest.
Befreier: Am 27. Januar 1945 erreichten Sowjetsoldaten Auschwitz und versorgten die im Lagerkomplex verbliebenen etwa 8600 verbliebenen Häftlinge. Obwohl sie nun medizinisch betreut wurden, starben viele von ihnen auch danach noch an den Folgen von Hunger, Mangelernährung und Krankheiten. Dieses Foto wurde vermutlich später nachgestellt.
Stumme Zeugen: Bevor die jüdischen Gefangenen in die Gaskammern geschickt wurden, mussten sie sich ausziehen; was wertvoll erschien, wurde verwertet. Im Bild vom 28. Januar 1945 begutachten Sowjetsoldaten nach der Befreiung von Auschwitz Berge aus Schuhen und Kleidung.
Rohstoff Mensch: Selbst die Haare der getöteten Häftlinge verwendeten die Nazis. Soldaten der Roten Armee fanden in Auschwitz mehr als 7000 Kilogramm (Bild vom Mai 1945). Die Haare stammten Schätzungen zufolge von etwa 140.000 ermordeten Frauen.
Die Letzten: Bevor die Sowjets eintrafen, hatte die SS das Lager weitgehend geräumt und noch Zehntausende Häftlinge auf Todesmärsche Richtung Westen getrieben. Von den vermutlich etwa 140.000 Häftlingen, die noch im Sommer 1944 im gesamten Lagerkomplex untergebracht gewesen waren, waren bei der Befreiung nur noch etwa 8600 vor Ort - wie diese Kinder (Foto kurz nach der Befreiung 1945).
Marschunfähig: Zurückgeblieben waren Häftlinge, die von der SS als zu schwach für eine erneute Verschleppung eingeschätzt wurden. Das Foto von Ende Januar 1945 zeigt Sowjetsoldaten und befreite KZ-Insassen vor der Krankenstation.
Gezeichnet: Bei der Befreiung waren die meisten Häftlinge abgemagert und in einem schlechten Zustand. Hunderte waren schon so geschwächt, dass sie in den folgenden Tagen starben (Foto aus einer Baracke).
Todesmarsch: Die meisten Auschwitz-Häftlinge trieb die SS zu Fuß über vereiste Straßen. Wer diese Tortur überlebte, wurde mit Viehwaggons in andere KZ geschickt - etwa nach Mittelbau-Dora im Harz (Foto von 1944).
Waffenproduktion: In Mittelbau-Dora mussten die ehemaligen Auschwitz-Häftlinge unter anderem an der "Vergeltungswaffe" V2 arbeiten, von der sich das NS-Regime noch eine Wende im Krieg erhoffte. Viele starben bei der Zwangsarbeit. Das Foto zeigt Raketenteile nach der Befreiung im April 1945.
Erneut geräumt: Als sich US-Truppen Mittelbau-Dora näherten, zwang die SS die Häftlinge erneut auf Todesmärsche. Zurückgelassen wurden Hunderte Kranke und Sterbende (Foto nach der Befreiung). Forscher schätzen, dass noch im Jahr 1945 mehr als ein Drittel der insgesamt verbliebenen, bis dahin nicht ermordeten 714.000 KZ-Häftlinge auf Märschen oder in den Lagern starben.
Überlebender: Der Jude Werner Bab kam als 17-Jähriger nach Auschwitz, überlebte das Lager und die Todesmärsche. Befreit wurde er zwei Tage vor der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Das Foto zeigt seinen Führerschein, der ein Jahr später ausgestellt wurde.
Zeitzeuge: Bis zu seinem Tod im Jahr 2010 berichtete Werner Bab vor Schulklassen und im Jüdischen Museum in Berlin von seiner Zeit im Lager.