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August Engelhardt: Ritter der Kokosnuss

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Aussteiger, Nudist und Vegetarier Der Herr der Kokosnüsse

Mitten in der Südsee rief August Engelhardt 1902 den "Sonnenorden" ins Leben. Motto: Kokosnüsse essen und unsterblich werden. Für manche der frühen Hippies endete der Ausflug ins Paradies fatal.

Sacht rauschen die Wellen, die Palmenblätter wehen im Wind, der feine Sandstrand liegt verlassen. Es ist ein Paradies. Das von August Engelhardt. Für ihn ändern daran auch die vier Toten nichts. Schließlich ist der schlaksige Deutsche - langes Haar, Rauschebart, bis auf einen Lendenschurz nackt - Kokosplantagenbesitzer, zugleich auch Religionsstifter und Erlöser der Menschheit. Zumindest glaubt er das.

Engelhardt gründete 1902 mitten in der Südsee sein Imperium: den "Sonnenorden" auf dem Eiland Kabakon, das als Teil Deutsch-Neuguineas am anderen Ende der Welt zum wilhelminischen Kolonialreich gehörte. Hier machte er seinen Traum als Aussteiger, Nudist, Vegetarier und früher Hippie wahr. Und predigte als "erster Kokosapostel" seine wichtigsten Lebensprinzipien: die Sonne verehren und vor allem Kokosnüsse essen, im Fachbegriff Kokovorimus. Doch was für Engelhardt Selbstverwirklichung bedeutete, brachte seinen Jüngern, den Kokovoren, Krankheit und Tod.

Dabei war der erste Mann im Kokosreich, 1875 in Nürnberg geboren, nicht einfach ein irrer Fanatiker, der zu viel Sonne abbekommen hat. Er begann eine Apothekerlehre und fragte sich, wie man sein Leben gesund führen kann. In einer "Heimstätte und Musteranstalt für reines Naturleben" im Harz lernte er Vegetarismus und Freikörperkultur kennen.

Persönlicher "Platz an der Sonne"

Es waren damals neue Strömungen, die zur Lebensreformbewegung zählten und deren Anhänger die moderne Industrie- und Konsumgesellschaft geißelten. Im Kaiserreich verspottete man sie als verschrobene Sonderlinge. Als Polizei und Gerichte gegen die Naturheilanstalt vorgingen, hatte Engelhardt diese deutsche Kleinkariertheit satt, wollte raus aus den staatlichen Zwängen.

Passenderweise versuchte das Deutsche Reich Ende des 19. Jahrhunderts, wie andere europäische Weltmächte ein Kolonialreich aufzubauen, in Afrika ebenso wie in Asien und in der Südsee. "Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne", sagte 1897 der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow in einer Reichstagsdebatte.

Zwei Jahre darauf übernahm das Kaiserreich 1899 die Verwaltung des "Schutzgebietes" von Deutsch-Neuguinea, nachdem dort 15 Jahre lang die privatwirtschaftliche "Neuguinea-Kompagnie" das Sagen hatte - und mit einem Millionenverlust kläglich gescheitert war. Kurz darauf begann auch die offizielle deutsche Kolonialherrschaft in Samoa, dem zweiten Schutzgebiet im Pazifik.

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August Engelhardt: Ritter der Kokosnuss

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August Engelhardt suchte und fand seinen persönlichen "Platz an der Sonne". Mit 26 Jahren flüchtete er 1902 in die Südsee, das vermeintlich unberührte Paradies. Mit einem Postdampfer reiste er nach Herbertshöhe (heute Kokopo) auf Neupommern, wo die deutsche Verwaltung ihr Hauptquartier hatte. Dort hinterließ der Einwanderer bei dem Regierungsarzt mächtig Eindruck, denn der sah ihn "in zwei Jahren spätestens im Irrenhaus".

"Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott"

Engelhardt verlor keine Zeit: Er kaufte die Insel Kabakon östlich von Herbertshöhe, 66 Hektar groß, immerhin so viel wie 92 Fußballfelder. Hier gab es Kokospalmen und sonst nicht viel, deshalb baute der neue Eigentümer erst mal eine Holzhütte für seine Bücher, angeblich 1000 Stück. Der Neuankömmling lebte als einziger Weißer mit rund 40 Melanesiern, den Plantagen-Arbeitern, und hatte viel Zeit. Sehr viel Zeit.

In der tropischen Wärme, am türkisblauen Meer, schrieb er seine Gedanken auf und entwickelte eine ganze Lebensphilosophie: "Die wahre Daseinsfreude, das reinste Lebensglück empfindet nur der Fruchtesser - der Kokosesser." Kokosnüsse seien die einzige natürliche Nahrung für den Menschen. Die denkbar simple Begründung: Sie hätten die Form eines menschlichen Kopfes. Außerdem sei die Frucht der Sonne am nächsten, stecke voller Sonnenergie und sei deshalb die "Königin der Nüsse", der "Stein der Weisen".

"Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott", schwärmte Engelhardt. Schon eine Kokosnuss am Tag reiche. Allerdings nicht im kalten Europa, sondern nur in den Tropen, der wahren Heimat des Menschen. Dank der Sonnenstrahlen finde er hier zu sich selbst, sein Gemüt beruhige sich, Kriege seien passé, Gegensätze zwischen Arm und Reich ein Problem von gestern.

Mit missionarischem Eifer rief Engelhardt den "Sonnenorden" ins Leben, eine "äquatoriale Siedlungsgemeinschaft". Er schickte Briefe in die Heimat und warb um Gleichgesinnte, um ein "tropisches Weltreich des Fruktivorismus" zu gründen. Im Dezember 1903 traf der erste Anhänger ein, ein 24-jähriger Helgoländer. Schon sechs Wochen später war er tot - Malaria, wie sich herausstellte.

Tod auf der Sonneninsel

Ein halbes Jahr später erreichte ein neuer Kokovoren-Kandidat das Eiland, und der sollte sich als Glücksfall für Engelhardt erweisen: Max Lützow, ein populärer Kapellmeister. "Ich kann mir keinen idealeren Platz für Fruchtesser und solche, die es werden wollen, vorstellen", schrieb er euphorisch in einem Brief, den das bekannteste Blatt der Vegetarier-Szene abdruckte.

Tatsächlich löste Lützow einen Mini-Boom des Sonnenordens aus, eine Handvoll Jünger pilgerte nach Kabakon. Aber schon 1905 war die Hochzeit der Kolonie wieder vorbei. Lützow war vom Inselleben nun doch enttäuscht und erkrankte so schwer, dass er die Klinik in Herbertshöhe aufsuchen musste. Auf dem Weg geriet er mit einem Segelboot in den Monsun und überlebte die Strapazen nicht. Auch andere Anhänger erkrankten und verließen die Insel, ein weiterer ertrank bei einem Bootsunglück.

Nur die Ankunft von August Bethmann rettete den Sonnenorden. Mit seinem alten Bekannten startete Engelhardt eine Werbekampagne; sie gründeten einen Verlag und schickten Ansichtskarten, Schriften und Werbeaufkleber in die Heimat.

Doch Engelhardts Lebensstil tat ihm selbst nicht gut: Bei einer Körpergröße von 1,66 Metern magerte er auf 39 Kilo ab, Milben infizierten ihn mit Krätze, hinzu kamen Hautgeschwüre. Schließlich musste auch er 1906 ins Krankenhaus von Herbertshöhe, wo Ärzte ihn wieder aufpäppelten - zu seinem Missfallen ausgerechnet mit Fleischbrühe.

Kokosnüsse predigen, Kaviar essen

Kaum halbwegs genesen, zog es Engelhardt zurück auf seine Insel. Dort meldete August Bethmann Bedenken am Kokos-Imperium an. Er plante bereits seine Rückreise - und starb, bevor er sie antreten konnte. Unfall? Totschlag, Mord? Unklar, aber die einstigen Weggefährten sollen sich zerstritten haben, an der Kokosnuss-Lehre oder über Bethmanns Verlobte, die er nach Kabakon mitgebracht hatte. Er war der Vierte, der den Traum von der Südsee mit dem Leben bezahlte.

Die deutsche Kolonialverwaltung, bis dato gegenüber dem "ersten Kokosapostel" tolerant, griff ein. Nun warnte sie ausdrücklich vor der "Fruchtesserkolonie" und verlangte von Neuankömmlingen eine Kaution von 1400 Mark, um Krankenhausaufenthalte oder Rückreisen nach Deutschland zu finanzieren. Tatsächlich saßen mehrere Ex-Sonnenanbeter in der Kolonie fest, bis sie sich die Heimkehr leisten konnten.

Auch die deutsche Vegetarier-Szene distanzierte sich von Engelhardt. Denn während er Kokosnüsse predigte, nahm er es mit der eigenen Ernährung nicht so genau: Zwei frustrierte Ex-Jünger schimpften, der Apostel vertilge "Dosengemüse, Dosenkäse, Dosenbrot, Eier, Biskuits", ja sogar Hummer und Kaviar. Sie und andere Lebensreformer machten die Kokosdiät für die vielen Krankheitsfälle verantwortlich. "Es handelt sich hier nicht mehr um die Spielereien eines verschrobenen Geistes, sondern es stehen hier jedesmal Menschenleben auf dem Spiel", schrieb die Zeitschrift "Kraft und Schönheit" über die Gefahren.

Die Kritik, abreisende "Fruchtesser" und ausbleibende Neuankömmlinge brachten Engelhardt keineswegs von seinen Ideen ab. Er warb weiter um Unterstützer, obwohl es ihm immer schlechter ging. "Arme und Füße so dick wie Bohnenstangen; die Beine wegen offener Wunden verbunden, eingefallene Backen; auf einen Stock gestützt gehend", beschrieb ihn ein früherer Mitstreiter 1913.

Mittlerweile kamen die ersten Touristen nach Kabakon, bereitwillig posierte der Herr der Kokosnüsse für Fotos. "Einige hielten den Mann für überspannt, andere glaubten, er sei ein großer Philosoph", notierte ein Reisender.

Als australische Truppen im Ersten Weltkrieg die deutschen Südsee-Träume in Neuguinea jäh beendeten, landete Engelhardt für kurze Zeit in einem Internierungslager. Dann durfte er zwar nach Kabakon zurück, starb aber im Mai 1919. An die Kraft der Kokosnüsse glaubte er bis zuletzt.

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