Mary Ward: Vom Dampfauto überrollt - ein erstmaliger Todesfall
Unfall vor 150 Jahren
Mary Ward war das erste Opfer des Autoverkehrs
Im Schritttempo zuckelte der Dampfwagen 1869 durch die irische Provinz, da stürzte Mary Ward hinab und kam unter die Räder. Der Tod der Forscherin und achtfachen Mutter ist ein Stück Verkehrsgeschichte.
Am 31. August 1869 erwachte das Leben auf Birr Castle im irischen Parsonstown schon um 5.14 Uhr. In vorelektrischer Zeit gab noch die Sonne den Tagestakt der Menschen vor: Kurz nach Sonnenaufgang bereiteten Bedienstete das Frühstück vor, zu dem bald schon Bewohner und Gäste des großzügigen Anwesens zusammenkamen.
Mit welchem Schrecken der Tag aufwarten würde, ahnte an diesem Dienstagmorgen noch niemand.
Es war eine illustre Gesellschaft. Zu Gast war Lord Henry William Crosbie Ward, Viscount von Bangor und einer der Repräsentanten Irlands im House of Lords, mit seiner Frau: Mary Ward war eine Cousine des zwei Jahre zuvor verstorbenen William Parsons, 3. Graf von Rosse, Erbauer von Birr Castle und ein herausragender Wissenschaftler seiner Zeit.
Bereits seit ihren Kindheitstagen ging Mary im Haus der Parsons ein und aus. Ihr 27 Jahre älterer Cousin William war einst ein väterlicher Freund, später dann enger Vertrauter und Förderer.
Frau, Intellektuelle, Bestsellerautorin: Eine unmögliche Karriere
So wurde auch Marys Zeichentalent und Forscherneugier in den Gärten von Birr Castle entdeckt. Mit drei Jahren, heißt es, habe sie begonnen, Insekten zu sammeln - damals bewegten sich die Wohlhabenden gern mit Schmetterlingsnetz und Botanisierglas durch die Natur.
Dabei beließ Mary es nicht. Als sie 18 war, beobachtete der Astronom James South, wie sie Insekten mit der Lupe untersuchte und detailreich zeichnete. Er regte an, der talentierten jungen Frau ein Mikroskop zu schenken. Es war der Beginn einer Karriere, die Mitte des 19. Jahrhunderts noch kaum möglich schien: Mädchen war eine formelle akademische Bildung in Großbritannien und Irland verbaut. Doch in Marys Umfeld gehörten Begegnungen mit der wissenschaftlichen Elite zum Alltag. So lernte sie informell, aber schnell.
Illustration von Mary Ward: Sie schrieb Teleskopie- und Mikroskopie-Einführungen für Anfänger, eines der Bücher richtete sich an Kinder
Foto: Offaly Historical Society
1869 war sie bereits achtfache Mutter, 42 Jahre alt und galt nach zahlreichen Aufsätzen und drei höchst populären Büchern selbst als eine der prominentesten Wissenschaftlerinnen der Britischen Inseln. Damit passte sie perfekt in die erweiterte Familie Parsons.
Denn die Parsons waren Forscher und Konstrukteure. William war Astronom und stand rund sechs Jahre der berühmten Royal Society vor. Seine Söhne sollten berühmte Ingenieure werden, schon zu Jugendzeiten entstanden in ihren Werkstätten zahlreiche Maschinen.
Eine davon sollte noch an diesem Tag Mary Ward das Leben kosten.
Schon kurz vor acht Uhr am Morgen hatte sich die Frühstücksgesellschaft aufgelöst und das Haus verlassen. Für die Wards und Parsons begann der 31. August als Ferientag auf dem Lande. Man wollte etwas unternehmen.
Fuhren sie im Schneckentempo?
Früh unterwegs waren auch der Friedensrichter James Rollestone und der zweitälteste Parsons-Sohn Randal. Sie spazierten Richtung Stadt, bald begegnete ihnen das Dampfauto der Parsons. Am Steuer, sagte Rollestone später aus, habe Hauslehrer Biggs gesessen, daneben und dahinter auf erhöhten Sitzbänken die zwei jüngsten Parsons sowie Henry und Mary Ward. Das Tempo war laut Rollestone gemütlich: Zweimal hätten die Spaziergänger das Auto überholt, zuletzt gegen 8.20 Uhr.
Es war eine Landpartie, eine vergnügliche Lustfahrt. Vier Adelige und ein Hauslehrer pufften dampfend durch die Felder und bogen von den Gärten der Burg rechts in die schmale Oxmantown Mall ein. Über die Gerstenfelder hinweg sahen sie ganz langsam die Kirche Saint Brendans näherkommen.
Foto:
Offaly Historical Society
Fotostrecke
Mary Ward: Vom Dampfauto überrollt - ein erstmaliger Todesfall
Dass sich das Dampfauto mit nur "dreieinhalb bis vier Meilen" bewegte, wie Rollestone erklärte, war nicht etwa technischen Einschränkungen geschuldet. Die schweren Gefährten konnten weit schneller sein - sie durften aber nicht.
1865 war es die Lobby der Kutscher und Transportunternehmer nach jahrelangen Protesten gelungen, den boomenden Dampfautoverkehr, der ihr Geschäft bedrohte, effektiv auszubremsen. Der "Red Flag Act" setzte das Höchsttempo auf vier Meilen pro Stunde fest. Zudem waren die Auto- und Busfahrer verpflichtet, 55 Meter vor jedem Dampfgefährt einen Warner mit einer roten Flagge laufen zu lassen.
Die absurde Vorschrift machte Dampfautos in Großbritannien und Irland komplett unrentabel und unattraktiv.
Plötzlich hüpfte der Wagen
Rund um Parsonstown, das heute Birr heißt, war William Parsons' Automobil bestens bekannt. Oft hatte man den Lord rund ums Städtchen durch die Gegend dampfen sehen. Doch nach seinem Tod und dem Wegzug der Hinterbliebenen war der Wagen nur noch selten zu sehen. Und dann für die Bevölkerung stets ein Hingucker.
Kein Wunder also, dass Mary Magrath der Freundin, mit der sie in einem Haus gegenüber der Kirche beim Tee saß, dieses Auto zeigen wollte, als sie es die Oxmantown Mall heraufkommen sah. Die Frauen eilten auf die Straße.
So kam es, dass der Unfall weitere Zeugen hatte. Rollestone und Randal Parsons sahen, wie der Wagen in die scharfe Kurve hinter der Kirche rechts einbog. Magrath und ihre Freundin standen direkt gegenüber, ein Arbeiter namens Flannery kam zufällig vorbei.
Hauslehrer Biggs lenkte den Wagen in die Cumberland Street, die heute Emmet Street heißt, als auf dem Spitzpunkt der Kurve der Wagen "hüpfte". Nicht schnell sei er gewesen, sagte Biggs, er hätte das Gefährt "jederzeit schnell und mit Leichtigkeit anhalten" können. Warum der Wagen hüpfte? Er wisse es nicht: Auch den Bordstein habe er nicht berührt. Rollestone und Magrath bestätigten das. Erst nachdem die Lady vor das Auto fiel, habe sich "das Fahrzeug an einer Seite kurz gehoben", beobachtete Magrath.
Es war der Moment, der Mary Wards Leben beendete. Sie habe auf dem Rand ihres Sitzes gesessen, erklärte Biggs, und sei nach vorn direkt vor das Auto gefallen.
Sofort sprang Biggs ab, Magrath, Flannery und ein weiterer Mann eilten herbei. Gemeinsam trugen sie den Körper der sterbenden Frau über die Straße, zur Praxis des Arztes James Woods.
Schuldfrage geklärt - ein tragischer Unfall
Der tat, was noch möglich war. Aber der Kiefer der Frau war zerstört und ihr Genick gebrochen, wie der Arzt feststellte. Mary Ward habe gekrampft und röchelnde Laute von sich gegeben. Weniger als drei Minuten nach dem Unfall war sie tot. Über ihren Kopf, berichteten in den Folgetagen sensationslüstern die Zeitungen, sei das Automobil gefahren. Diese Nachricht schien die Richtigkeit des "Red Flag Act" einmal mehr zu bestätigen.
Der Unfall wurde schon am nächsten Tag auf Castle Birr untersucht. Der Richter und Gerichtsmediziner John Corcoran übernahm den Vorsitz, 13 ehrenwerte Gentlemen aus Parsonstown hatte man als Jury eingeschworen.
Corcoran befragte Hauslehrer Biggs, Doktor Woods sowie die Augenzeugen Rollestone und Magrath, nicht aber den trauernden Witwer Ward, der neben seiner Frau gesessen hatte. Niemand fragte auch danach, ob vor dem Wagen ein Flaggen-Warner lief, wie es das Gesetz verlangte. Doch alle Aussagen bestätigten, dass sich Fahrer Biggs völlig korrekt verhalten habe und nichts und niemand Schuld am tragischen Geschehen trage. Richter und Jury schlossen sich dem an und kondolierten der Familie.
So endete Mary Ward, die als autodidaktisch gebildete Wissenschaftlerin Geschichte hätte schreiben können, als erstes namentlich bekanntes Opfer des Autostraßenverkehrs.
Heute erinnert das Mary-Ward-Center of Heritage in ihrer Geburtsstadt Ferbane an die außergewöhnliche Frau. Und in Castle Ward, Stammsitz der Familie ihres Mannes Henry Ward, kann man in einem Gedenkzimmer ihre Mikroskope, Schreib- und wissenschaftlichen Utensilien besichtigen.
Die meisten Besucher wollen das heute jedoch nicht mehr. Sie besichtigen nicht Castle Ward, den Stammsitz irgendeiner adeligen Familie, sondern "Winterfell" aus der Serie "Game of Thrones" - Castle Ward war einer der Drehorte.
12 BilderMary Ward: Vom Dampfauto überrollt - ein erstmaliger Todesfall
1 / 12
Die Irin Mary Ward (1827-1869), geborene King, gehörte zur intellektuellen Prominenz ihrer Zeit. Sie war eine von nur drei Frauen, die in die Korrespondenzliste der einflussreichen Royal Society aufgenommen wurde - neben Queen Victoria und der Mathematikerin Mary Sommerville. Vor 150 Jahren starb sie bei einem denkwürdigen Verkehrsunfall.
Foto:
Offaly Historical Society
2 / 12
Ein tragischer Tod: Bei einem Ausflug durch die irische Provinz stürzte Mary Ward am 31. August 1869 von einem Dampfwagen, wurde überrollt und so zum ersten namentlich bekannten Opfer eines Autounfalls. Das Dampffahrzeug soll dem auf diesem Foto (Baujahr 1860) ähnlich gewesen sein.
Foto: National Motor Museum/ Heritage Images/ Hulton Archive/ Getty Images
3 / 12
Gebaut wurde das Auto nach Plänen von William Parsons, wahrscheinlich unter Leitung von dessen jüngstem Sohn, Charles Parsons (Foto). Der war am Tag des Unfalls erst 15 Jahre jung. Später sollte er mit einer Erfindung die Welt prägen: Charles ersann die Dampfturbine - und damit das Grundkonzept aller heute laufenden Turbinen, vom Kraftwerk bis zum Flugzeugantrieb.
Foto: wikimedia commons
4 / 12
Dampfbetriebene Autors und Busse (hier ein Modell von 1862) wurden auf den britischen Inseln bereits ab den frühen 1830er-Jahren regelmäßig eingesetzt. Im Busverkehr kam es auch zu den ersten dokumentierten Todesfällen: 1834 starben fünf Passagiere bei der Kesselexplosion eines Busses zwischen Glasgow und Paisley.
Foto: ullstein bild
5 / 12
Dampffahrzeuge waren weder ungewöhnlich noch zwangsläufig schwer und langsam - hier im Bild: ein Dreirad aus dem Jahr 1888. Geschwindigkeiten um 30 Stundenkilometer erreichten sie schon 1830, gegen 1860 fuhren sie bis zu 70 km/h schnell - bis man es verbot. Der "Red Flag Act" begrenzte ihr Tempo auf vier Meilen pro Stunde, und dazu musste zu Fuß auch noch ein Warner mit einer roten Flagge vorauseilen.
Foto: National Motor Museum/ Heritage Images/ Hulton Archive/ Getty Images
6 / 12
Marys Cousin, Freund und Förderer: Es war William Parsons, der 3. Earl of Rosse, der Mary den Weg in die Wissenschaft ermöglichte. Parsons stand einer Dynastie von Wissenschaftlern und Ingenieuren vor. Früh förderte er Marys zeichnerische Talente - und brachte sie mit Wissenschaftlern zusammen.
Foto: wikimedia commons
7 / 12
1845 ließ Parsons im Garten seiner Burg das bis dahin weltgrößte Teleskop errichten, den "Leviathan". So ambitioniert war das Projekt, dass es bis 1917 nicht übertroffen wurde. Mary Ward dokumentierte den Bau zeichnerisch. Bald darauf stieg sie als wissenschaftliche Illustratorin ins Berufsleben ein, zunächst als Assistentin eines Botanikers...
Foto: Science & Society Picture Library/ Science Museum/ Getty Images
8 / 12
...und wagte sich 1856 mit ihrem ersten eigenen Buch vor: "Sketches with the microscope" erschien zunächst in kleiner Auflage mit 250 Exemplaren. Als "A World of Wonders" erlebte der umfangreiche Band sieben weitere Auflagen - und wurde zu einem wahren Bestseller, der Ward als Autorin etablierte.
Foto: Offaly Archives
9 / 12
Die Forscherin, die zu dieser Zeit als Frau noch nicht an einer Universität studieren durfte, pflegte einen konzisen, klaren Schreibstil, der wirklich ein "How to do it" vermitteln sollte: Ihre Bücher vermittelten Grundkenntnisse in Mikroskopie und Teleskopie - populärwissenschaftliche Einleitungen ins Thema, die aber wissenschaftlichen Standards entsprachen.
Foto: Offaly Archives
10 / 12
Besondere Aufmerksamkeit erregten ihre detailreichen Zeichnungen, mit denen sie Insekten und Pflanzen detailliert bis auf die Mikroebene sichtbar machte.
Foto: Offaly Archives
11 / 12
Als sie gemeinsam mit Lady Jane Mahon "Entymology in Sport" herausbrachte, zeigte sie auch ihr Talent für einen spielerischen, leichten Ansatz zum Thema: Erstmals schrieb und zeichnete sie Wissenschaft für Kinder - auch das ein Bestseller.
Foto: Offaly Archives
12 / 12
Szenenbild aus der Performance "Mary Wards Amazing World of Wonder" (2017):
Insgesamt fünf Bücher veröffentlichte Mary Ward zwischen 1856 und 1869, als der tödliche Unfall ihre Karriere so abrupt beendete. In Irland feiert man sie bis heute aber vor allem wegen ihrer zeichnerischen und wissenschaftlichen Verdienste.
Foto: Tina Claffey
Illustration von Mary Ward: Sie schrieb Teleskopie- und Mikroskopie-Einführungen für Anfänger, eines der Bücher richtete sich an Kinder