
Ballonflucht aus der DDR: Per Heißluft in die Freiheit
Ballonflucht aus der DDR Mit Heißluft in die Freiheit
Gegen halb ein Uhr nachts laden Peter Strelzyk und sein Freund Günter Wetzel auf einer Waldlichtung beim ostdeutschen Pößneck nahe der thüringisch-bayerischen Grenze ihre Materialien aus dem Anhänger des kleinen Wartburg: die 100 Kilo schwere Ballonhülle, den Flammenwerfer, mehrere Propangasflaschen und die selbstgeschweißte Gondel. Das Westradio hatte starken Wind aus Norden gemeldet - optimal für ihren verwegenen Plan. Die beiden Männer breiten die Ballonhülle aus, füllen sie mit einem selbstgebauten Gebläse mit Luft und werfen den Flammenwerfer an, der aus mehreren Propangasflaschen gespeist wird. Heiße Luft strömt in die Hülle, langsam richtet der Ballon sich auf.
Die Plattform, auf der sich die beiden Männer mit ihren Frauen Petra und Doris nebst vier Kindern drängen, ist gerade einmal 1,40 Meter mal 1,40 Meter klein. Als einzige Sicherung gegen den Absturz ragen an den vier Ecken 80 Zentimeter hohe Pfosten hoch, die mit einer Wäscheleine verbunden sind. Doch beim Start endet der spektakuläre Fluchtversuch fast in einer Katastrophe, bevor er begonnen hat: Der Ballon fängt Feuer. Doch Peter Strelzyk gelingt es, mit einem Feuerlöscher blitzschnell die Hülle zu löschen, bevor die Flammen den Traum vom Leben in der Freiheit zerstören können. Meter um Meter steigt der Ballon in die Höhe. Eine weitere Schrecksekunde, als Scheinwerfer am Nachthimmel auftauchen. Wurden sie von der Grenzpolizei entdeckt? Peter befeuert den Ballon mit dem letzten Gas; sie steigen auf 2500 Meter auf. Zu hoch für die Scheinwerfer. Jetzt hängt alles am Wind.
28 atemraubende Minuten
Der geheime Nachtflug im Heißluftballon der acht vor genau 30 Jahren, am 16. September 1979, ist einer der spektakulärsten Fluchtversuche aus dem SED-Staat seit dem Mauerbau 18 Jahre zuvor. Noch nie seither ist es DDR-Bürgern geglückt, mit einem selbstgebauten Fluggerät aus dem Osten in die Bundesrepublik zu fliehen. Nur selten hatte eine so große Gruppe auf einmal Mauer und Minenfelder überwunden. Nach 28 atemberaubenden Minuten landet der Ballon etwas unsanft in einem Waldstück; Erich Honecker und seine Grenzer sind düpiert, die Strelzyks und Wetzels frei.

Ballonflucht aus der DDR: Per Heißluft in die Freiheit
Oder etwa nicht? "DDR oder Bundesrepublik?", fragen sich die Flüchtlinge nach dem Aufsetzen voller Angst - und nicht ganz unberechtigt. Drei Monate zuvor nämlich waren sie bereits einmal mit einem Fluchtversuch durch die Luft gescheitert. Damals hatte sich ihr Ballon in den Wolken mit Wasser vollgesogen und war zu schnell gesunken - auf der falschen Seite der Grenze. Wie durch ein Wunder blieb die Aktion unentdeckt. Diesmal haben sie Glück: Der Nordwind hat sie wie geplant in Richtung Freiheit geblasen. Als die beiden Männer vorsichtig das Gelände erkunden, stoßen sie auf eine bayerische Polizeistreife - es ist geschafft. Sie zünden eine Feuerwerksrakete, das verabredete Signal für Petra, Doris und die Kinder, die sich erst einmal versteckt haben.
Der legale Weg, die DDR zu verlassen, hieß "Antrag auf ständige Ausreise" und wurde meist abgelehnt. So blieb für Unzufriedene nur die innere Emigration - oder das "Rübermachen", von der SED "Republikflucht" genannt und mit Gefängnisstrafe belegt. Mehrere tausend DDR-Bürger versuchten dennoch Jahr für Jahr den illegalen Grenzübertritt: durch Fluchttunnel in Berlin, mit Surfbrettern und Mini-U-Booten über die Ostsee oder als "Sperrbrecher" mit gepanzerten Lkw durch Grenzschranken - wer in den Westen wollte, musste erfindungsreich und wagemutig sein.
Ballonflüchtlinge als Leinwandstars
Um Stacheldraht, Minen und Selbstschussanlagen zu umgehen, hatte Peter Strelzyk den tollkühnen Plan mit dem selbstgebauten Ballon ersonnen. In Günter Wetzel, seinem Freund und Kollegen beim Kunststoffhersteller VEB Polymer in Pößneck fand er den Verbündeten, den er brauchte. Nach Feierabend schweißten sie im Keller heimlich die Gondel für das Gefährt zusammen, experimentierten nachts in abgelegenen Waldstücken mit dem Brenner, der den nötigen Auftrieb für den Flug über die schwer gesicherte Grenze liefern sollte. Meter für Meter nähten sie mit ihren Frauen und dem ältesten Sohn der Strelzyks riesige Stoffbahnen, insgesamt über 1200 Quadratmeter, zu einem 28 Meter hohen und 20 Meter breiten Ballon zusammen.
Schon die Beschaffung des Materials war äußerst heikel, durfte man doch beim Stoffkauf nicht durch ungewöhnliche Mengenwünsche auffallen - erst recht nachdem der Ballon des ersten, gescheiterten Fluchtversuchs im Wald von einem Jäger gefunden worden war und die DDR-Behörden die Fahndung nach den Ballonflüchtlingen unter Hochdruck vorantrieb. Die außergewöhnliche Flucht machte die beiden mutigen Familien zu Stars der westdeutschen Medien; der "Stern" widmete ihnen eine Titelgeschichte. Und sogar bis nach Hollywood drang die Kunde von der spektakulären Aktion: Zwei Jahre nach der geglückten Flucht kam die Geschichte der Strelzyks weltweit in die Kinos.
Der Film "Mit dem Wind nach Westen" endet, als die "Republikflüchtlinge" schließlich von der bayerischen Polizei entdeckt werden. Im wirklichen Leben allerdings ging das Drama auch danach noch weiter. Die Geschichte der Strelzyks wurde zum deutsch-deutschen Politikum, als Jürgen Dier, ein Freund Peter Strelzyks von der Stasi wegen "Fluchthilfe" verhaftet wurde. Öffentlichkeitswirksam besuchte der damalige deutschlandpolitische Sprecher der CDU, Eduard Lintner, den Gefangenen; Strelzyk sprach sogar bei Bundeskanzler Helmut Schmidt vor.
Ruiniert durch die Stasi?
Überraschend wurde Dier 1982 aus der Haft entlassen und durfte kurz darauf in den Westen ausreisen. Strelzyk, der inzwischen in Bad Kissingen ein Elektrofachgeschäft aufgemacht hatte, stellte den Freund kurzerhand ein. Was er nicht wusste: Sein Kumpel war mittlerweile ein Stasi-Spitzel. Im Knast hatte das Ministerium für Staatsicherheit Dier als "IM Diener" angeworben; die Zusammenarbeit war Bedingung für die Haftentlassung gewesen. "IM Diener" lieferte der Stasi selbst intime Details des Privatlebens der Strelzyks. Als Strelzyks Elektroladen wenige Jahre später Pleite ging, übernahm das Geschäft - "IM Diener". Wurde er von der Stasi eingeschleust, um sich gezielt am Initiator der Ballonflucht zu rächen? Ruinierte Dier das Geschäft Strelzyks im Auftrag der Stasi? Ein böser Verdacht, der sich Peter Strelzyk aufdrängt, seit er Einblick in seine Stasi-Akte genommen hat.
Sieben Aktenordner haben Mielkes Leute mit Erkenntnissen zum "Operativen Vorgang 'Birne'" gefüllt. Als Peter Strelzyk sie nach dem Mauerfall durchforstet, warten noch andere böse Überraschung auf ihn: Auch seine Schwester (IM "Sabine Unger") und sein Bruder (IM "Klaus Voght") wurden von der Stasi als Spitzel auf ihn angesetzt - ob unter Druck oder freiwillig, ist nicht ganz klar.
Nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes und der Wiedervereinigung kehrten Doris und Peter Strelzyk Mitte der neunziger Jahre in ihr altes Haus nach Pößneck zurück. 1999 schrieben sie ihre Lebensgeschichte in dem Buch "Schicksal Ballonflucht" auf. An dessen Ende stellen sie sich selbst die Frage, ob sie mit den Erfahrungen von heute die Flucht noch einmal wagen würden, mit klarem Ergebnis "Die Antwort heißt uneingeschränkt Ja."