
Die Baustelle des Empire State Building: Artisten mit Hammer und Bolzen
Bilder vom Bau des Empire State Building Arbeit am Abgrund
Das Getöse auf den Straßen New Yorks spielt in 300 Metern Höhe nur eine Nebenrolle. Auf dem rostroten Stahlgerippe des Empire State Buildings geben die Arbeiter den Ton an. Direkt am Abgrund zerren ungesicherte Monteure einen neuen Träger in Position, während ein Heizer, ein Arbeiter mit tragbarem Ofen, einen glühenden Nietbolzen in die Luft katapultiert.
Für den Fänger folgt ein Balanceakt: Er muss den Bolzen mit einem Blecheimer aus der Luft fischen und steht dabei auf einem Stahlträger, nicht mehr als 15 Zentimeter breit. Schnell muss es gehen; mit gezieltem Hammerschlag treiben zwei Nietenschläger das noch glühende Objekt in den Stahl. Furchtlos balancieren die Arbeiter auf der dünnen Stahlkante weiter zum nächsten Träger.
In einer Zeit voller Ängste scheint die natürliche Höhenangst dieser Menschen oben über der Stadt nicht zu existieren: Im März 1930, fünf Monate nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise war der Grundstein für das Empire State Building gelegt worden. Das Gebäude sollte alles bisher Dagewesene übertreffen. Tausende riskierten auf der Baustelle ihr Leben - die Aussicht auf ein festes Gehalt hatte sie an den Abgrund gelockt.
Heimliche Konkurrenz
Aus ökonomischer Sicht war der Monumentalbau mindestens ebenso waghalsig wie die Stahlarbeiten in schwindelerregender Höhe: Die geplanten 25.000 Quadratmeter Bürofläche zu vermieten erschien bereits vor dem Börsencrash im Oktober 1929 äußerst kühn. Dennoch hatten die Investoren um den Millionär John J. Roskob am 29. August 1929 verkündet, dass sie anstelle des damaligen Waldorf Astoria Hotels an der Ecke Fifth Avenue/34th Street das höchste Gebäude der Welt errichten wollten. Der Titel allein versprach hohe Renditen.
Dem Vorhaben hätten die in den ersten Bauplänen vorgesehenen 305 Meter Gesamthöhe Genüge getan, hätte nicht 1929 auch das Chrysler Building ein paar Straßen entfernt für Schlagzeilen gesorgt: Mitten in der Planungsphase für das Empire State Building nieteten Arbeiter im Inneren des Chrysler Buildings eine Metallkuppe zusammen. Innerhalb weniger Stunden hievten sie die Konstruktion auf die Spitze des Gebäudes, das nun eine Höhe von 319,4 Metern erreichte - und damit Roskobs Pläne durchkreuzte. Der Architekt des Chrysler Buildings, William van Alen, hielt die rein dekorative Kuppe bis zuletzt geheim, denn mit ihr wollte er den Wettstreit um das höchste Gebäude der Welt für sich entscheiden.

Die Baustelle des Empire State Buildings: Artisten mit Hammer und Bolzen
Die Investoren wollten dies nicht hinnehmen. Es wäre zu riskant, Millionen US-Dollar in das nur zweithöchste Gebäude zu stecken. Das Vorhaben abzubrechen kam für sie allerdings auch nicht in Frage. So mussten die Architekten zurück ans Zeichenbrett - und fanden eine Lösung: Sie erhöhten auf 320 Meter und planten außerdem einen Ankermast für Luftschiffe, die auf ihrer Transatlantikroute am Gebäude festmachen sollten. Damit waren weitere 61 Meter gewonnen.
"Sie hatten keinerlei Höhenangst"
Ungeachtet der Mehrarbeit war man gewillt, den geplanten Fertigstellungstermin einzuhalten. So wuchs der Druck auf die rund 3500 Arbeiter, die Woche für Woche rund viereinhalb Stockwerke zu errichten hatten. Vermutlich war es nur Glück, dass trotz des Bautempos und der mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen bis zur Fertigstellung nur fünf Arbeiter ums Leben kamen.
Der alltäglich lebensbedrohliche Balanceakt der Stahlarbeiter begründete bald den Mythos der "Himmelsläufer". Es waren vor allem Männer vom Stamm der Mohawk, die sich zu Hunderten in diesem gefährlichen Baustellenjob verdingten. Der Ruf, sie seien unerschrocken im Umgang mit der Höhe, war ihnen vorausgeeilt: 1886 waren Mohawks für den Bau einer Brücke über den St. Lawrence River in ihrem Reservat bei Montreal angeheuert worden. Die erfahrenen Arbeiter hatten kaum glauben können, was sie sahen. "Sie hatten keinerlei Höhenangst. Ohne Erfahrungen im Stahlbau kletterten sie einfach in den Brückenbogen und balancierten mindestens genauso lässig auf den Stahlträgern wie unsere geübtesten Nietenschläger", beschrieb es ein Vorarbeiter.
Nicht anders war es auf dem Empire State Building. Stets nah am Abgrund trieben sie ohne Sicherungsseil Niete um Niete ins Skelett der damals höchsten Baustelle der Welt. Doch der Eindruck täuschte. "Viele Menschen glauben, wir haben keine Höhenangst", erklärte Kyle Karonhiaktatie Beauvais, Mohawk-Stahlarbeiter in der fünften Generation, 2002 für eine Wanderausstellung über die Geschichte der Mohawk auf Großbaustellen. "Das stimmt so aber nicht. Wir haben genauso Angst wie jeder andere auch. Der Unterschied ist nur, dass der Mohawk vielleicht besser damit umgeht."
"Empty State Building"
Und das mussten die Mohawk auch, denn im Reservat herrschten Armut und Arbeitslosigkeit. New Yorks Baustellen dagegen boten eine Alternative. Als Stahlarbeiter konnte man seine Familie wenigstens über die Runden bringen. Doch dafür schufteten sie rund 13 Stunden am Tag - bei einem Stundenlohn unter zwei US-Dollar.
Nach nur elf Monaten stand der Rohbau. Nicht nur in Rekordzeit, sondern auch mit rekordverdächtig niedrigem Budget wurde das Empire State Building fertiggestellt. Das Gebäude selbst kostete die Investoren 24 Millionen US-Dollar - knapp die Hälfte der erwarteten Kosten.
Am 1. Mai 1931 war die Arbeit vollbracht, und der amerikanische Präsident Herbert Hoover eröffnete das Gebäude um 11.15 Uhr per Knopfdruck aus seinem Büro in Washington.
Die Träume der Investoren allerdings sollten sich so schnell nicht erfüllen. Nicht nur das höchste, sondern auch das rentabelste Gebäude wollten sie bauen. Ersteres hatten sie erreicht, Zweiteres nicht: "Empty State Building" spotteten die New Yorker noch Jahre nach der Fertigstellung. Mitten in der Wirtschaftskrise fand sich kein Interessent für die Büroflächen. Es sollten weitere 19 Jahre vergehen, bis das ikonische Bauwerk 1950 einen ersten Profit brachte.