
Das Ende der Beatles: "Ich steig' aus der Band aus." "Wann?" "Jetzt"
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Beatles-Katastrophenfilm Hundert Stunden Studiohölle
Sie spielen laut. Sie spielen wild. Sie spielen hässlich. Es ist eine räudige Orgie aus rumpelnden Grooves, disharmonischen Lärmwänden und den schrillen Schreien einer Frau. Sie speit langgezogene Laute ins Mikrofon, die in Affengekreisch, Bellen, Wolfsgeheul und schließlich in langgezogene "John"-Rufe übergehen. Gitarren fiepen, ein Schlagzeug stampft, variiert wahllos die Rhythmen.
Improvisiert hier eine wild gewordene Jazzmetalband an einem wirklich schlechten Tag? Nein. Hier spielen die Beatles - oder besser: das, was an diesem Nachmittag des 10. Januar 1969 von ihnen übrig ist.
Auf unscharfen Filmaufnahmen sieht man John Lennon, wie er die Rückseite seiner elektrischen Gitarre mit der Faust traktiert, während Paul McCartney seinen Bass dichter und dichter vor den Verstärker hält. Gemeinsam erzeugen sie eine Mauer düsterer Rückkopplungen. Unterdessen donnert Ringo Starr auf die Drums ein, als wolle er sie ein für allemal kurz und klein schlagen. Und George Harrison fehlt. Auf seinem Platz sitzt John Lennons Geliebte Yoko Ono. Sie wimmert, kreischt und kräht schräge Kakofonien in Harrisons Mikrofon.
Höllenmonat im Studio
Seit dem 2. Januar 1969 treffen sich die Beatles fast täglich in den Twickenham Filmstudios in London. Der Plan ist es, ein Set von neuen Songs für ein Live-Konzert zusammenzustellen - und eine Dokumentation darüber zu drehen. Einen Monat lang werden sich die Fab Four beim Improvisieren und Songschreiben, beim Diskutieren und Streiten filmen lassen. Am Ende wird der Regisseur Michael Lindsay-Hogg 130 Stunden Filmmaterial im Kasten haben. Es zeigt einige der düstersten Stunden in der Geschichte der vier grandiosen Liverpooler - ein Höllenmonat, der die bekannteste und erfolgreichste Rockband jener Zeit endgültig auseinanderdriften lässt.
In dem rund 90-minütigen Dokumentarfilm "Let It Be" ist davon später kaum etwas zu sehen. Klar, die trockene Studiodokumentation hat nicht die Verve und den selbstironischen Witz der frühen Filme "A Hard Days Night" und "Help" und nicht den trashigen Charme von "Magical Mystery Tour". Doch vor allem zeigt sie nicht, was damals wirklich geschah.
Schon im Jahr vor Beginn der Aufnahmen zu "Let It Be" wurde die Bandchemie immer schlechter. Die Gründung ihrer gemeinsamen Plattenfirma Apple Corps hatte zu geschäftlichen Auseinandersetzungen zwischen den Fab Four geführt. Bei den Aufnahmen zum legendären "Weißen Album" kamen sich die vier künstlerisch in die Quere. Doch McCartney glaubte an die Beatles - und spürte, dass er etwas tun musste, um die Band zu retten. Seine Idee: "Get Back".
Gemeinsam mit den Bandkollegen wollte er den Januar hindurch neue Songs schreiben, sie proben und live aufnehmen, wie sie es zu den Anfangszeiten ihrer Karriere gemacht hatten. Ein furioses Konzert sollte den Neustart krönen.
Mobbing, Krisen, Yoko Ono
Für eine Musikgruppe eigentlich nichts Besonderes. Doch die Beatles hatten schon seit 1966 nicht mehr live gespielt und sich stattdessen als Studio-Band neu erfunden. Sie hatten es satt, vor Mädchen aufzutreten, die so laut kreischten, dass man die Musik kaum noch hören konnte. Zudem war es praktisch unmöglich, die komplexen Produktionen der Alben zu Viert auf der Bühne zu reproduzieren.
Der Rest der Band ist daher wenig begeistert von McCartneys Plänen für die "Get Back"-Sessions. John Lennon bringt Yoko Ono mit ins Studio, die ihm während der gesamten Zeit nicht von der Seite weicht. Ringo Starr ist immer noch sauer auf McCartney, weil dieser bei den Aufnahmen zum "Weißen Album" ständig an seinen Drum-Parts herumgekrittelt und schließlich sogar in Starrs Abwesenheit ein paar Takes neu eingespielt hat.

Das Ende der Beatles: "Ich steig' aus der Band aus." "Wann?" "Jetzt"
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Besonders unzufrieden aber ist George Harrison mit der Situation. Er verbringt viel Zeit mit Musikergrößen wie Bob Dylan oder Eric Clapton und hat das Gefühl, dass diese neuen Freunde seine musikalischen Fähigkeiten weit mehr schätzen, als seine alten Bandkollegen. Trotz Kompositionen wie "While My Guitar Gently Weeps" oder "Here Comes The Sun" gerieren sich Lennon und McCartney als Köpfe der Band und nehmen den Songschreiber Harrison an die kurze Leine.
"Du bist so scheiße, Alter"
Der Film lässt die Spannungen nur leicht erahnen - etwa als McCartney Harrison während der Proben zurechtweist. Als Paul sagt, George solle doch bitte weniger spielen, antwortet dieser genervt: "Ich spiele, was immer du willst. Und wenn du nicht willst, dass ich überhaupt etwas spiele, lass ich's ganz bleiben." An einer anderen Stelle hört man, wie der frustrierte Gitarrist seinen besserwisserischen Bandleader anfährt: "Du bist so scheiße, Alter."
Doch wie ernst die Differenzen zwischen John, Paul und George wirklich sind, erfahren die Beatles-Fans nicht in der Dokumentation, sondern erst Jahre später durch die legendären "Nagra Reels", Hunderte Rollen Tonmitschnitt aus dem Filmstudio. Denn neben den beiden Kameras lässt das Filmteam auch zwei Tonbandgeräten der Firma Nagra mitlaufen. Doch während das Filmmaterial von Apple Corps bis heute größtenteils unter Verschluss gehalten wird, gehen die über 500 Rollen Tonband schon bald nach den Aufnahmen auf wundersame Weise verloren.
Fast hundert Stunden Beweismaterial
1974 schließlich erscheint unter dem Titel "Apple Sweet Trax" das erste "Nagra"-Bootleg, eine Doppel-LP mit einigen Songs aus den Sessions. Doch die Neugier der zahlreichen Beatles-Exegeten lässt sich damit nicht zähmen - im Gegenteil: 2003 bringt das Label Purple Chick den kompletten Mitschnitt der Sessions heraus - 97 Stunden, 44 Minuten und sieben Sekunden Material auf 83 CDs, unterteilt in 2187 Tracks!
Auf den "Nagra Reels" findet sich auch die irrwitzige Improvisation mit Yoko Ono - und ihr Grund. Die wilde Session folgt direkt auf die Eskalation der Streitigkeiten zwischen Lennon, McCartney und Harrison. Am 10. Januar nach der Mittagspause kehren die Vier zurück ins Studio. Offensichtlich hat es Ärger gegeben, denn George greift sich seine Gitarre, spielt einige wütende Akkorde und sagt schließlich: "Ich steig' aus der Band aus." "Wann?", fragt John. "Jetzt", antwortet George und fügt hinzu, wenn sie Ersatz suchten, könnten sie ja in einer Musikzeitschrift inserieren.
"Wir teilen Georges Instrumente auf"
Nach der wütenden Session nimmt der Zyniker Lennon die Sache mit Galgenhumor. Als Regisseur Lindsay-Hogg fragt, wie es nun weitergehen soll, antwortet John nur: "Wir teilen Georges Instrumente auf." Die beiden anderen Beatles können darüber gar nicht lachen. Trotzdem legt er etwas später nach: "Wenn George bis Dienstag nicht zurück ist, holen wir uns Eric Clapton."
Nach einigen Tagen und diversen Zugeständnissen der anderen Bandmitglieder kehrt Harrison in die Band zurück. In der offiziellen Dokumentation fehlt diese schicksalhafte Episode. Stattdessen reiht "Let It Be" wenig inspiriert mehr oder minder harmonische Momente aneinander. John und Yoko Ono, wie sie zu Harrisons Song "I, Me, Mine" einen Walzer im Studio tanzen oder John und Paul, wie sie mit verstellten Stimmen eine rockige Version von "Two Of Us" singen.
Den Abschluss des Films bildet das grandiose "Rooftop Concert" auf dem Dach des Apple-Corps-Gebäudes in der Savile Row 3 in London. Bei diesem kurzfristig geplanten Gig am 30. Januar 1969 laufen die Beatles noch ein letztes Mal als Live-Band zur Höchstform auf - auch wenn sie nur von den wenigen Menschen gesehen werden, die auf die umliegenden Dächer gestürmt sind.
Showdown beim "Rooftop Concert"
Mit ihrem 42-minütigen Überraschungsset legen die Musiker den kompletten Verkehr in den umliegenden Straßen lahm. Als schließlich die Polizei aufs Dach steigt, um das Konzert zu beenden, wird noch einmal schmerzlich klar, wie viel die Welt durch die Trennung der Beatles verlieren wird: Aus dem Stand improvisiert Paul McCartney in dem Song "Get Back" ein paar Zeilen über das Erscheinen der Bobbys. "Du warst ein böses Mädchen Loretta", stichelt er, "du hast wieder auf dem Dach gespielt. Und du weißt, dass deine Mama das nicht mag." John Lennon verabschiedet sich mit den Worten: "Ich möchte mich im Namen der Gruppe und uns selbst bedanken. Und ich hoffe, wir haben das Vorspielen bestanden."
Am 13. Mai 1970 feiert die Dokumentation "Let It Be" in New York Premiere, eine Woche später in Liverpool und London. Zu keiner der Uraufführungen taucht einer der Beatles auf. Einen Monat zuvor haben sie sich getrennt. Jahre später nennt Harrison die "Get Back"-Aufnahmen "die schlimmste Zeit seines Lebens". Lennon bezeichnet sie schlicht als "Hölle".
Anfang der achtziger Jahre erscheint der Film auf Video. Doch nachdem er ausverkauft ist, verhindern McCartney, Harrison und Ringo Starr weitere Auflagen. 2003 wird noch einmal überlegt, die Dokumentation auf DVD zu veröffentlichen. Doch 2008 lässt Apple Corps in einer Pressemitteilung verlauten: "Weder Paul noch Ringo würden sich besonders wohl dabei fühlen, einen Film über die Beatles herauszugeben, bei dem sich alle gegenseitig auf die Nerven fallen."
Die "Nagra Reels" aber kursieren weiter. Sie zeigen die tiefen Risse im Bandgefüge - aber auch viele unglaublich komische Momente. Etwa wenn Brillenträger Lennon philosophiert, dass Onanie nicht blind mache, sondern nur sehr kurzsichtig. Vor allem aber dokumentiert der ausführliche Mitschnitt die unendliche Kreativität der vermutlich einflussreichsten Rockband des 20. Jahrhunderts: Zwischen dem ersten Drehtag am 2. Januar und den letzten Aufnahmen im Studio spielten die Beatles über 300 verschiedene Songs - kurze Improvisationen und Instrumentalstücke nicht mitgerechnet.
Zum Weiterlesen:
Friedhelm Rathjen: "Von 'Get Back' zu 'Let It Be' - Der Anfang vom Ende der Beatles". Rogner & Bernhard, Berlin 2009, 336 Seiten.
Peter Doggett: "You Never Give Me Your Money - The Battle For The Soul Of The Beatles". The Bodley Head, London 2009, 390 Seiten.