
Aktivist, Hippie, Musikgenie: Beatles-Frontmann John Lennon
John Lennons letzte Jahre »Klaus, ich bin so unglücklich«
Was Trennung anrichten kann, lässt sich trefflich am Aus der berühmtesten Band der Rockgeschichte ablesen. Als sich Paul McCartney am 10. April 1970 offiziell von den Beatles verabschiedete, nahmen vier Schicksale vier unterschiedliche Verläufe.
George Harrison kam ganz gut mit dem Ende klar: Der »stille Beatle« hatte sich bereits zwischen Sitarspielen und Maharishi-Meditation in seinem Hare-Krishna-Kosmos eingerichtet. Er produzierte einige Hits, erfand 1971 mit seinem New Yorker »Concert for Bangladesh« das moderne Benefizkonzert und finanzierte seinen Monty-Python-Kumpels den Film »Das Leben des Brian«. Ringo Starr machte nette Songs und belanglose Filme, verfiel in den Casinos von Monte Carlo dem Alkohol, kriegte die Kurve und gibt inzwischen den geläuterten, sympathischen Alt-Star. Paul McCartney tröstete sich in schottischer Einsamkeit bei Familie und Schafzucht, seine Kreativität litt aber trotz Landidylle mit Linda unter dem Kleinkrieg mit John Lennon.
Und der? Lennon machte weiter auf Weltfriedensaktivist, ließ überall »Give Peace a Chance« erschallen und »War is Over« plakatieren. Er sah sich in seinen Songs als musikalischer Anwalt unterdrückter Arbeiter ( »Working Class Hero«) und Frauen (»Woman is the Nigger of the World«). Dass seine Arme-Leute-Poesie zu ihm, dem Multimillionär, nicht recht passte, dass er sich mit kontroversen Gestalten wie A. J. Weberman von der »Rock Liberation Front« und militanten IRA-Vertretern einließ, dass die meisten Love-and-Peace-Aktionen vor allem dem Konzeptkunst-Marketing der frisch angetrauten Yoko dienten – es interessierte erst mal nicht.
Bloß nicht mehr die Beatles sein müssen
Viele machten vor allem Yoko Ono Vorwürfe, sie habe die Beatles zerstört. Vorwürfe, die in gleichem Maße berechtigt und doch übertrieben waren: Eine Frau, zumal eine asiatische, hatte in der Männerbastion Aufnahmestudio nach Ansicht vieler nun mal nichts verloren, selbst in den revolutionären Sixties nicht. Yoko Ono nervte dort mit ihrer Dauerpräsenz, McCartney nervte aber auch mit Chefallüren und Perfektionismus, Lennon mit Trägheit (»Man kann nicht morgens um zehn schon Musik machen«), Harrison und Starr schmissen zwischendurch hin.
Die Beatles wollten einfach nicht mehr die Beatles sein müssen. Sie waren müde vom Komponieren, Produzieren, Filmemachen, von Welttouren, Pressekonferenzen und Interviews im Dauermodus, von kreischenden Fanhorden und einem Leben wie im Goldfischglas, von zermürbenden Streitereien über Management, Titelrechte und Finanzen.
Doch ohne die brillante Symbiose mit seinem Alter Ego McCartney kam John nur torkelnd durch das folgende Jahrzehnt, das so tragisch für ihn enden sollte. Ende 2020 jähren sich für Lennon-Fans zwei Ereignisse: Am 9. Oktober hätte er seinen 80. Geburtstag gefeiert – wäre er nicht vor 40 Jahren in New York ermordet worden.

Aktivist, Hippie, Musikgenie: Beatles-Frontmann John Lennon
Fünf Kugeln feuerte der geistesgestörte Mark David Chapman am 8. Dezember 1980 kurz vor 23 Uhr auf ihn, vier trafen ihn in den Rücken. Ein Streifenwagen brachte Lennon ins nahe Roosevelt Hospital, um 23.07 Uhr wurde sein Tod festgestellt. Chapman war ihm am Portal des noblen Appartmenthauses Dakota schon am Nachmittag begegnet, hatte um ein Autogramm gebeten. Ein Schnappschuss der beiden in diesem Moment wurde zur Ikone. Eigentlich wollte er ihn, wie er später aussagte, da schon umbringen. Doch er überlegte es sich anders und wartete bis in die Nacht vor dem Gebäude Ecke 72. Straße/Central Park West.
Ein 1966 dahergesagter TV-Interview-Satz war Lennon zum Verhängnis geworden: Sein »Wir sind jetzt populärer als Jesus« ließ aufgebrachte Christen in den USA Beatles-Platten verbrennen. Auch Mark Chapman, 25, ein Außenseiter und Beatles-Verehrer, hatte Zuflucht für seine Psychosen im strengen Christentum gefunden und nahm seinem Idol jenen Satz nun übel.
Selbstfindung der Siebziger
Dass es John Lennon traf, war genauso Plan wie Zufall. Chapman hatte laut seinen Notizen und Interviews eine Abschussliste geführt, darauf Elizabeth Taylor, Paul McCartney, David Bowie oder Johnny Carson. Nach den tödlichen Schüssen auf Lennon las Chapman ungerührt auf dem Bürgersteig in »Der Fänger im Roggen« und ließ sich ohne Widerstand verhaften. Er sitzt lebenslänglich im Gefängnis.
Erst im Herbst 1980 war John ins Rampenlicht zurückgetreten, Ende November war nach langer Studioabstinenz sein und Yokos Album »Double Fantasy« erschienen, begleitet von langen Interviews in »Playboy«, »Rolling Stone«, diversen Radiosendern und einer Fotosession bei Annie Leibovitz. Alles schien auf gutem Weg. John ließ sich beim einträchtigen Spazierengehen mit Yoko im Central Park filmen oder in Anzug und Krawatte in seinem Lieblingscafé La Fortuna an der Columbus Avenue. Ordentlich frisiert, aber abgemagert.
Hinter ihm lag ein chaotisches, übles, ambivalentes Jahrzehnt: Bed-ins und Pazifismus-Gedöns, Urschreitherapien, dazwischen geniale Songs, erratische Experimentalfilmchen und TV-Interviews, peinliche Pornoselfies, weitere geniale Songs, enervierende Auftritte seiner Plastic Ono Band mit schauerlichen Rückkopplungen und einer Yoko, die in weißen Säcken kauerte, stumm vor sich hin strickte oder minutenlang kreischte. Aber, hey, es waren die frühen Siebziger – das Publikum nahm alles klaglos hin, was mit Althergebrachtem aufräumte.
Für John Lennon setzten die Siebzigerjahre lediglich seinen Selbstfindungstrip fort, zeitlebens flüchtete der bewunderte Beatle aus einer kaputten Kindheit. »Klaus, ich bin so unglücklich«, gestand er 1967 – die Beatles waren mit »Sgt. Pepper« auf ihrem musikalischen Olymp – den Tränen nahe seinem Freund Klaus Voormann.
Pistolenschuss in die Studiodecke
Unglücklich war Lennon eigentlich immer. Vater Alfred, ein Schiffssteward und Hallodri, hatte Frau und Baby verlassen, Mutter Julia war mit dem Jungen überfordert, schob ihn an ihre ältere Schwester Mary (Mimi) ab. Die erzog ihren Rüpelneffen mit Disziplin und Strenge. Tatsächlich gab ihm das Halt, Mimi jedenfalls war der einzige Mensch, der John treu Woche für Woche anrief, selbst in seinen tiefsten Whisky- und Kokainabstürzen. Als er 17 war, wurde seine Mutter von einem Auto überfahren und starb.
Aus dem traumatisierten Jugendlichen wurde ein Zyniker mit Mutter- und Vaterkomplex, der sich einem indischen Guru und einer sieben Jahre älteren, dominanten Frau hingab. Lennon sublimierte seine Traumata mit großartigen Songs, er spielte auf Pressekonferenzen den Clown, bestach mit Schlagfertigkeit und Sarkasmus und narrte Musikkritiker mit sinnfreien Texten (»I Am the Walrus«, »Glass Onion«).
Doch irgendwann musste dieses Konstrukt kollabieren. Mitte der Siebziger war Lennon der »Nowhere Man« geworden, den er 1965 besungen hatte. Bis heute ist umstritten, ob Yoko ihn nur rausschmiss oder ob sie ihm die Affäre gar empfahl – jedenfalls hing John Lennon von Sommer 1973 bis Ende 1974 mit seiner Assistentin May Pang in Los Angeles ab. Zwischendurch hatte er Sessions mit Produzent Phil Spector, mit dem er sich so lange betrank und zoffte, bis der die Sauforgie mit einem Pistolenschuss in die Studiodecke beendete.
Ein Leben im Goldfischglas
Das berüchtigte, eineinhalb Jahre andauernde »Lost Weekend« blieb der Nachwelt insofern erhalten, als May Pang im Refrain von »No. 9 Dream« Johns Namen hauchen durfte. Eigentlich war es gar nicht so »lost«: Unter der Regie des halbirren Spector entstanden einige erfolgreiche Songs. Außerdem führte es zur Versöhnung mit Yoko: Am 9. Oktober 1975, Johns 35. Geburtstag, kam Sohn Sean auf die Welt. Lennon gab jetzt den Supervater und Hausmann, der sich zum Windelwechseln und Brotbacken Fotografen in ihr Appartement bestellte.
Es gehört zu den Widersprüchen in Lennons Leben, das Goldfischglas-Dasein, das er beklagte, selbst zu forcieren. Kaum ein Pop-Paar hat seine Privatsphäre so ausführlich visuell dokumentiert wie er und Yoko Ono. Was die Fotos und Videos nicht zeigen: Der Komponist der Friedenshymne »Imagine« servierte seine Liebsten bisweilen eiskalt ab. Seinen Sohn Julian aus erster Ehe bezeichnete er mal als »versehentlich im Suff gezeugt«, dem kleinen Sean brüllte er bei einem seiner Wutanfälle so ins Ohr, dass der ärztlich behandelt werden musste, schreibt Beatles-Biograf Peter Doggett.
Pop-Historiker wie John Robertson trauen der Ono-Lennon-Eintracht im Herbst 1980 eh nicht: Alles Selbstinszenierung für die Vermarktung von »Double Fantasy«, ansonsten hätten sie eine Zweckehe geführt. Yoko, die Bankierstochter, habe sich längst der Vermögensverwaltung und der lukrativen Rinderzucht verschrieben. Der Gatte, der weder mit Geld umgehen noch einen Nagel in die Wand schlagen konnte, sollte sich ganz der Kunst hingeben. Nonsens, sagen Insider, ihre Ehe sei damals im Lot gewesen.
Öffentliches Genie, privater Rüpel? Vielleicht hätte der »ewige Ex-Beatle« stets eine strenge Mimi oder einen pedantischen Paul an seiner Seite gebraucht. Gewiss ist jedenfalls: Mit John Lennons Ermordung wurde der Welt ein brillanter Songschreiber, Musiker, Zeichner, Fantast, Witzbold, Grimassenschneider genommen. Dieser Trennungsschmerz ist auch nach vier Jahrzehnten nicht überwunden.