Fotostrecke

Kapitän Peter Rößler: Als das Schiff aus dem Ruder lief

Foto: Eduardo Munoz/ REUTERS

Beinahe-Katastrophe in New York "Schiff lässt sich nicht mehr steuern"

Im engen Fahrwasser unter einer Brücke fällt die Maschine des Frachters aus, es droht die Kollision mit einem Gastanker. Kapitän Peter Rößler erzählt von seinem heikelsten Manöver in New York City.
Zur Person
Foto: Ankerherz

Kapitän Peter Rößler, Jahrgang 1970, geboren in Leipzig, wollte schon früh zur See, weil ihn die Ferne lockte. Schon mit 15 Jahren fuhr er auf einem Ausbildungsschiff der "Gesellschaft für Sport und Technik" über die Ostsee. Er machte an der Seefahrtsschule in Warnemünde sein A6-Patent. Rößler ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt mit seiner Familie im niedersächsischen Oldenburg.

Es war eine schwierige Reise, die in Bremerhaven begonnen hatte. Nach Rotterdam waren wir in die Ausläufer des Orkans "Kyrill" geraten, mit enormem Schwell und sehr hoher See. Mit vier Tagen Verspätung kamen wir in Halifax an. Die Reise ging weiter entlang der Ostküste der USA, durch den Panamakanal, dann von San Francisco nach Japan bis zum Zielhafen Hongkong. Das Schweröl, das wir dort gebunkert hatten, bereitete uns auf der Rückreise Probleme. Der Brennstoff war mangelhaft, ständig setzten sich die Filter zu. Die Maschinenbesatzung bekam das Problem aber in den Griff.

Ich machte mir jedenfalls keine Gedanken, als wir mit dem Containerfrachter "Kobe Express" New York anliefen und alle Umschlagarbeiten pünktlich abschlossen. Ich studierte die Wetterberichte für die Atlantik-Überquerung: ruhiges Wetter, Rückenwind. Wir lagen im Fahrplan, ich freute mich auf zu Hause. Es war ein ruhiger Samstag, dieser 17. März 2007, leichter Schnee fiel auf die Dächer von New York.

"Maschine klar", meldete der Leitende Ingenieur, der Lotse kam an Bord. Um 21 Uhr verließen wir unseren Liegeplatz im Global Terminal. Was ich nicht ahnen konnte: Damit begannen die aufregendsten Stunden meiner Laufbahn.

Mithilfe zweier Schlepper hatten wir die 294 Meter lange "Kobe Express" gedreht und nahmen Fahrt auf, in den betonnten Ambrose-Kanal. Ein großer Gastanker kam uns entgegen. Um ausreichend Abstand zu haben, hielten wir uns mit der Steuerbordseite nah am rechten Tonnenstrich. Ganz langsame Fahrt. Um exakt 22.04 Uhr passierten wir die Verrazzano-Narrows Bridge, die Hängebrücke verbindet die Stadtbezirke Staten Island und Brooklyn.

Fotostrecke

Kapitän Peter Rößler: Als das Schiff aus dem Ruder lief

Foto: Eduardo Munoz/ REUTERS

Kurz darauf sah ich eine gewaltige Dampfwolke aus unserem Schornstein aufsteigen und trat hinaus auf die Brückennock, um zu sehen, was los war. Als ich um 22.14 Uhr auf die Brücke zurückkam, fiel die Maschine aus. Ohne Alarm, ohne jedes Vorzeichen. Sofort versuchte ich, sie wieder zu starten.

"Schiff lässt sich nicht mehr steuern", meldete der Rudergänger. "Schiff läuft aus dem Ruder!" Das ablaufende Wasser drehte die "Kobe Express" nach Backbord und direkt auf den Gastanker zu, der schon ganz nahe war. Ein kritischer Augenblick, bestimmt einer der heikelsten in meiner Zeit auf See.

Runter mit beiden Ankern

Der große Gastanker kam immer näher, ohne eine wirkliche Chance, uns auf dem engen Kanal auszuweichen. Der Lotse, ein großer, hagerer Mann, vielleicht Anfang 40, schrie wilde Kommandos über die Brücke. Doch noch ein Kontrollverlust brachte uns in diesem Moment nicht weiter. Ich überlegte, was zu tun war, und rief im Maschinenkontrollraum an.

"Können wir den Notfahrstand starten?", fragte ich den Leitenden Ingenieur. Er versuchte das, doch die Maschine sprang nicht an. Über das UKW-Gerät hörte ich die aufgeregten Stimmen meines Kollegen und des Lotsen auf dem Gastanker. Die Brückenuhr zeigte 22.19 Uhr. Nun kam es auf jede Sekunde an.

"Anker an Steuerbord fallen lassen, fünf Kettenlängen!", befahl ich. Bald wurde das Schiff regelrecht nach Steuerbord gerissen und stoppte ab, doch das Heck drehte mit schneller Geschwindigkeit auf den voll beladenen Gastanker zu.

Ich ließ den Backbord-Anker fallen.

Das Manöver gelang, die "Kobe Express" stand. Solche Entscheidungen trifft man kurzfristig, mit der Erfahrung von vielen Jahren auf See. Ich sage: Die hat man irgendwann im Langzeitspeicher. In Schulungen, Seminaren oder am Simulator lernt man so etwas nicht, es hilft einem auch keine dieser Excel-Tabellen, die heutzutage als so modern gelten. Kapitäne brauchen Erfahrung, um in Krisensituationen richtig zu reagieren, davon bin ich überzeugt.

Anzeige
Kruecken, Stefan

Kapitäne!: Glaube, Liebe, Hoffnung: Seeleute erzählen ihre besten Geschichten

Verlag: Ankerherz Verlag
Seitenzahl: 230
Für 29,90 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

04.06.2023 10.30 Uhr

Keine Gewähr

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Mit einem Abstand von vielleicht hundert Metern passierte der Gastanker unser Heck. Welche Folgen es gehabt hätte, wenn es zu einer Kollision und womöglich zu einer Explosion des Gastankers gekommen wäre? In unmittelbarer Nähe der stark befahrenen Verrazzano-Narrows Bridge? Ich mag es mir nicht vorstellen.

Und dann saßen wir fest

Ich atmete auf, nur kurz, denn wir trieben noch immer ohne Maschine und mit zwei Ankern vor New York und lagen nun quer im Fahrwasser des Kanals. Der auslaufende Strom drückte uns vollständig um die eigene Achse. Der Lotse hatte sich etwas beruhigt und Kontakt zu vier Schleppern aufgenommen, die uns zu einem Ankerplatz bringen sollten. Ich ließ beide Anker hieven; um 23.20 Uhr meldete der Leitende Ingenieur, dass die Maschine wieder lief. Ich gab "langsame Fahrt" zurück, die Schlepper zogen.

Doch nichts geschah. Wir saßen fest, vor New York City, außerhalb des Fahrwassers bei Tonne 19, auf 40° 34, 2' N und 074° 02,3' W, um ganz genau zu sein.

Mit einem Schiff auf Grund zu laufen, ist für jeden Kapitän ein Problem. Mit einem Schiff vor einem amerikanischen Hafen, wo die Behörden seit dem 11. September 2001 besonders streng und wachsam sind, ist es ein Fiasko. Sofort ließ ich alle Tanks von Ballastwasser und Treibstoff peilen, um zu sehen, ob wir ein Leck hatten. Keine Veränderung, das war schon mal gut. Waren Ruder und Propeller frei? Mit einem Handlot ließ ich die Wassertiefe rund um das Schiff messen. Ergebnis: Die "Kobe Express" lag mit dem vorderen Viertel der Backbordseite auf einer Sandbank.

Ich unternahm erneut einen vorsichtigen Versuch, aus eigener Kraft loszukommen, doch das große Schiff rührte sich keinen Meter. Das nächste Hochwasser war erst für die Morgenstunden angekündigt. Wir mussten warten.

Ein Boot der Küstenwache traf ein. Ich stellte mich auf fluchende Hilfssheriffs ein, doch zu meiner Überraschung kamen zwei freundliche junge Damen auf die Brücke. Nachdem ich ihnen versicherte, dass kein Öl austrat, halfen sie mir, diverse Fragebögen auszufüllen, und nahmen meine Aussage zu Protokoll. Auf einen Test auf Alkohol oder Drogen verzichteten sie ebenso wie auf die Befragung weiterer Crewmitglieder. Bevor sie sich verabschiedeten, händigten sie mir ein Schreiben des Hafenkapitäns aus: Bis die Ursache des Maschinenausfalls geklärt war und das Schiff von der Klassifikationsgesellschaft besichtigt wurde, durften wir New York nicht verlassen.

Nicht mal Beulen, nur Kratzer

Um kurz nach vier kam Bewegung ins Schiff. Es drehte langsam über die Steuerbordseite ins Fahrwasser, etwa eine halbe Stunde später entschied ich, dass es Zeit für einen neuen Befreiungsversuch war. "Langsame Fahrt zurück!" Und tatsächlich: Die "Kobe Express" schob sich frei. Um 5.30 Uhr erreichten wir die Gravesend-Reede und gingen vor Anker. Ich wollte mich ein wenig hinlegen, bevor ein Besichtiger des Germanischen Lloyds an Bord kam, den die Agentur noch in der Nacht bestellt hatte. Der Leitende Ingenieur kam auf die Brücke. "Ursache des Ausfalls war ein Wassernest im Tagestank", sagte er.

Einige Stunden später bestätigte der Sachverständige diese Einschätzung und auch, dass die Maschine wieder voll einsatzbereit war. Auf der Brücke herrschte dennoch Nervosität, denn Taucher waren im Wasser, um den Rumpf zu untersuchen. Hatte das Schiff Schäden davongetragen, gab es etwa Risse?

Ich war nervös, als die Männer auf die Brücke kamen. Mit guten Nachrichten: Sie hatten nicht mal Beulen festgestellt, sondern nur ein paar Kratzer entdeckt. Das Schiff war ohne Einschränkungen seetüchtig. Ich ließ mir meine Erleichterung nicht anmerken und begann mit der Schreibarbeit, denn nun galt es, Stapel von Formularen auszufüllen.

Noch einmal kamen Beamte der Küstenwache an Bord, ließen sich zeigen, dass die Maschine einwandfrei lief und sammelten die Papiere ein. Besichtiger, Taucher und Beamte verließen das Schiff. Keine anderthalb Stunden später lag per Fax die Freigabe des Hafenkapitäns vor. Wir lichteten die Anker und setzten Kurs auf Halifax, Nova Scotia.

Ich war noch nie so froh, New York zu verlassen.

Der Text ist ein überarbeiteter und gekürzter Auszug eines Kapitels aus dem neuen Buch "Kapitäne!", erschienen im Ankerherz-Verlag . Darin erzählen 20 Seeleute echte Abenteuer vom Meer.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten